Zur Krise der politischen Repräsentation - mehr Demokratie wagen!

Beitrag von Petra Pau auf den 10. Hannah-Ahrendt-Tagen
Hannover, 13. Oktober 2007

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0. 

Gestatten Sie mir eine Vorbemerkung. Ich habe 2 ½ politische Systeme kennen gelernt. Das politische System in der DDR. Hannah Arendt hat es vehement und zu Recht abgelehnt. Das politische System in der BRD. Hannah Arendt würde es zunehmend kritisieren. Und das politische Intermezzo zwischen der DDR und der BRD, die so genannte Wende-Zeit. Sie hätte das Forscherherz von Hannah Arendt wohl frohlocken lassen.
 
Es war eine Zeit, in der öffentliche Belange öffentlich ausgehandelt wurden, in der Bewegung in scheinbar unverrückbare Machtverhältnisse kam, in der Journalisten ihre gewonnen Freiheit in den Dienst der Aufklärung stellten, in der die Opposition regierte und die Regierung opponierte, in der die Bürgerschaft hoch interessiert war, in der das Politische, um mit Hannah Arendt zu sprechen, ungeahnte Urständ feierte.
 
Eine ähnliche Episode beschrieb Stefan Heym übrigens in seinem Buch „Schwarzenberg“. Der gleichnamige Landkreis im Erzgebirge war nach dem 2. Weltkrieg übersehen worden. Weder die Rote Armee, noch die USA drückten den Bürgerinnen und Bürgern dort ihre Stempel auf. So nahmen diese ihre Geschicke selbst in die Hände, nach eigenen, demokratischen Regeln. Wie gesagt: Ein Roman, eine kurze Episode.
 
So kurz, wie die Zeit der Wende auch. Genau betrachtet, umfasste die Epoche der Runden Tische bestenfalls drei Monate, von Dezember 1989 bis Februar 1990. Dann hatte das politische System der BRD-alt das politische System der DDR-neu bereits fest im Griff. Ein Beleg dafür war, dass der Verfassungsentwurf des zentralen Runden Tisches in der damals neu gewählten Volkskammer nicht einmal mehr behandelt wurde. Leider, denn sie war moderner als das Grundgesetz der Bundesrepublik.

Selbst der Bundestag spielt Vabanque

1. 

Nun direkt zum Thema dieser Tagung, zur "Krise der politischen Repräsentation". Der Oberbürgermeister von Hannover, Herr Stephan Weil, hatte mich bereits vor Monaten gebeten, meine Sicht dazu darzulegen. Dafür danke ich doppelt. Erstens für die Einladung und zweitens, weil sie mich zwang, meine Erfahrungen mit der politischen Repräsentation in der Bundesrepublik zu überdenken und zu ordnen.
 
Nun unterstellt das Thema der Hannah-Arendt-Tage, dass es eine „Krise der politischen Repräsentation“ gibt. Ich werde dem nicht widersprechen. Ich versuche stattdessen ein paar Ursachen dafür zu beleuchten. Die einen liegen bei den Repräsentanten selbst. Andere entspringen strukturellen Veränderungen oder ungelösten Defiziten oder einer sich selbst entmündigenden Politik. Wie auch immer: Die Krise findet Nahrung.
 
Und die Bürgerinnen und Bürger spüren das. Kein Berufsstand ist so schlecht angesehen, wie der des Politikers. Der Vertrauensschwund ist rasant. Und meine Vorbemerkung kann vielleicht erhellen, warum er in den neuen Bundesländern noch größer ist, als in den alten. Es ist oft pure Enttäuschung, übrigens ohne Ausweg. Zu DDR-Zeiten gab es für viele noch einen ideellen Fluchtweg, den Westen. Heute gibt es keinen mehr.

2. 

DDR-Bürgerrechtler sind ja zuweilen hoch im Kurs, zumindest wenn es dafür einen trächtigen Anlass gibt. Der 13. August bietet ihn, der 3. Oktober und zuweilen auch der 9. November. Dann werden auserwählte Bürgerrechtler durch die Medien hofiert. Aber mitnichten alle und schon gar nicht jene, die zu DDR-Zeiten Bürgerrechtler waren und es als BRD-Bürger noch immer sind. Diese werden medial ausgeblendet.
 
Im Dezember 2001 veröffentlichten Bürgerrechtler, die wesentlich zum Sturz der SED-Herrschaft beigetragen hatten, einen Aufruf. Sie opponierten damit gegen die Sicherheits-Pakete des damaligen Innenministers Otto Schily, aber nicht nur. Das eigentlich Gravierende ist ihre generelle Einschätzung, nämlich ein Vergleich zwischen der DDR und der BRD. Er fällt aus Sicht dieser Bürgerrechtler vernichtend aus.
  Der Aufruf enthält die Eingangsbeschreibung (Zitat): „Die Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft ist offensichtlich gestört. Das war 1989 so. Und das gilt heute wieder. Wir fühlen uns in wachsendem Maße ohnmächtig gegenüber wirtschaftlichen, militärischen und politischen Strukturen, die für Machtgewinn und Profit unsere Interessen in lebenswichtigen Fragen einfach ignorieren.“
 
„Wir fühlen uns in wachsendem Maße ohnmächtig...“
Dieses Gefühl haben offenbar immer mehr Bürgerinnen und Bürger, in Ost und West. Wir registrieren tendenziell eine sinkende Wahlbeteiligung. Was ja letztlich heißt: Die politischen Repräsentanten werden durch die eigentlichen Souveräne, die Bürgerinnen und Bürger, immer weniger legitimiert. Das halte ich demokratie-theoretisch für ein Problem.

Dein Wort sei Ja-Ja oder Nein-Nein

3. 

„Selbst Schuld“, könnte man sagen, und das durchaus begründet. Auch der Bundestag ist nicht das, wofür er sich hält und was er eigentlich sein sollte: Die höchste legitimierte Repräsentanz der Bürgerinnen und Bürger. Stattdessen lässt er mit sich spielen. Bundeskanzler Schröder hatte so ein Trauerspiel zweimal exemplarisch aufgeführt - mit Erfolg für sich und, wie ich finde: mit Verlust für die Demokratie.
 
2001 hatte er die Zustimmung zu einem umstrittenen Kriegseinsatz der Bundeswehr mit einem Vertrauensvotum in eigener Sache verknotet. Das Ergebnis war schizophren. Wer den Bundeswehreinsatz wollte, zum Beispiel die Union, aber aus Parteiräson gegen den SPD-Kanzler war, musste mit Nein stimmen. Wer gegen den Einsatz der Bundeswehr war, aber aus Parteiräson für den SPD-Kanzler sein musste, stimmte mit Ja.
 
„Dein Wort sei Ja-Ja oder Nein-Nein“, heißt es in der Bibel. Im beschriebenen Fall lagen die Voten mit allen Geboten über Kreuz. Die Bürgerinnen und Bürger verstanden und nehmen Übel. Dasselbe trifft übrigens auf die erzwungene Neuwahl des Bundestages 2005 zu. Gewiss: DIE LINKE hat davon profitiert. Aber der Vorgang an sich hatte schon absolutistische Züge. Und so wurde er mehrheitlich auch wahrgenommen.

4. 

Ich könnte die Liste der repräsentativen Fehlleistungen noch verlängern und mit eigenen Erlebnissen illustrieren. Sie irren übrigens, wenn Sie glauben, drei Jahre als Einzel-Abgeordnete im Bundestag - ich habe sie gemeinsam mit Gesine Lötzsch erlebt - würden frustrieren. Nein, sie haben erhellt. Ich konnte erfahren, wie sehr sich die Parlaments-Praxis zuweilen mit den demokratischen Ansprüchen im Grundgesetz beißt.
 
Wir zwei hatten ein Exklusiv-Recht: Wir durften zu allen Themen reden, und das in aller Regel drei Minuten lang. Das schult ungemein: Drei Minuten Konzentration, kein Geschwafel, kein Pöbeln, keine Fraktions-Order. Nebenbei hatten wir beide mit jeweils weit über 150 Reden sogar einen Bundestags-Rekord aufgestellt. Ich finde: Wenigstens im Protokoll der Hannah-Ahrendt-Tage sollte das einmal erwähnt werden.
 
Aber praktisch hatten wir so gut wie keine parlamentarischen Rechte. Und das, obwohl jede von uns mehr Direkt-Stimmen auf sich vereint hatten, als Angela Merkel oder Guido Westerwelle. Wir waren rechtlich kalt gestellt. Denn die parlamentarischen Regeln orientieren sich nicht an selbstbewussten Abgeordneten und an ihrem Gewissen, sondern letztlich immer an formatierten Fraktionen. Das ist Usus und genau so fragwürdig.

Demokratie-Verdruss ist kein Schnupfen

5. 

Nun wird seit Jahren geforscht und kontrovers debattiert, ob sich so etwas wie Politik-Verdrossenheit breit macht. Die Befunde schwanken, die Interpretationen der Befunde noch mehr. Doch meine Sorge ist größer. Sie heißt „Demokratie-Verdrossenheit“. Wenn immer mehr Bürgerinnen und Bürger die parlamentarische Demokratie für schwach, für wenig hilfreich oder gar für falsch halten, dann ist das ein schweres Indiz für eine Krise.
 
Demokratieverdruss wiederum ist kein Schnupfen, der nach einer Woche wieder verschwindet. Demokratie-Verdruss wirkt - um im Bild zu bleiben - eher wie AIDS. Er schwächt das gesellschaftliche Immunsystem. Und das wiederum ist ein Einfallstor für rechtsextremistische Kameraden mit ihren nationalistischen und demokratiefeindlichen Parolen. Wir erleben es aktuell in einigen ostdeutschen Regionen, aber nicht nur da.
 
Auf die zunehmende Wahlabstinenz hatte ich schon verwiesen. Praktisch hat keine Partei, die an Wahlabenden für sich stolz eine Mehrheit reklamiert, wirklich eine. Parteien repräsentieren bestenfalls noch Minderheiten. Wenn dem aber so ist, dann etabliert sich ein Systemfehler: Minderheiten bestimmen über Mehrheiten. Und Mehrheiten fühlen sich zunehmend ungehört. Ich finde: Das kann nicht ewig gut gehen.

6. 

Viele Bürgerinnen und Bürger nehmen das praktisch auch so wahr.
Drei aktuelle Beispiele: Zwei Drittel der Bevölkerung haben laut Umfragen die so genannte Gesundheits-Reform abgelehnt. Mehr als zwei Drittel im Bundestag haben sie befürwortet. Zwei Drittel der Bevölkerung lehnen Militäreinsätze, wie in Afghanistan, ab. Mehr als zwei Drittel im Bundestag befürworten ihn. Ähnlich ist es bei der Steuerpolitik.
 
Kurzum: Die politische Repräsentation und die repräsentative Politik fiebern in der Tat. Wir tendieren in eine Legitimations-Krise. Das Wort von der „Schönwetter-Demokratie“ macht die Runde. Meine 1. These dagegen lautet daher: Gegen Demokratie-Verdruss hilft nur mehr Demokratie, mehr direkte Demokratie. Bei direkter Demokratie aber ist die Bundesrepublik Deutschland noch immer ein EU-Entwicklungsland.

7. 

Ich habe bis hierhin ein paar Geschichten erzählt. Zu allen könnte man sagen: Das ließe sich auch anders machen. Durch eine bessere Geschäftsordnung im Bundestag oder durch einen klügeren Umgang untereinander oder durch mehr Transparenz oder durch weniger Ignoranz oder durch mehr Bürgernähe oder durch mehr Ehrlichkeit und durch weniger Selbstherrlichkeit. Ja, das ließe sich wirklich alles besser machen.

Die „Glück-auf-Klasse“ schwindet

 

Aber das eigentliche Problem, warum die politische Repräsentation kriselt, ist größer und es sitzt tiefer. Sie ist auf nationale Parteien fokussiert. Die wiederum setzen auf Groß-Milieus. Genau diese aber schwinden. Als Oskar Lafontaine erstmals auf einem PDS-Parteitag sprach, da beendete er seine Rede - wie aus SPD-Zeiten gewohnt - mit „Glück auf!“. Die „Glück-auf-Klasse“ gibt es aber nicht mehr. Die Basis der Parteien bröselt.
 
Das ist kein Exklusiv-Problem einer Partei, das betrifft alle. Wenn aber Parteien immer weniger als politische Adressaten gelten, wer dann? Und was dann? Meine Überlegungen führen wieder zu demselben Schluss: Der Souverän, die Bürgerinnen und Bürger, müssen selbst mehr Rechte wahrnehmen können, als ihnen derzeit zugebilligt werden. Sie sollten nicht nur wählen dürfen. Sie müssen auch selbst entscheiden können.

8. 

Die Bundespolitik hat in jüngster Zeit zwei große Chancen verpasst, die Hürden für mehr direkte Demokratie zu beseitigen. Die erste Chance hing unmittelbar mit der Konstituierung des neuen Deutschlands zusammen. Das alte Grundgesetz sah eine Verfassung vor, die im Zuge der Vereinigung durch Volksabstimmung in Kraft treten sollte. Dieser Weg wurde damals ausgeschlagen. Ich bedaure das.
 
Die zweite Chance bot sich rund um die geplante EU-Verfassung. Das gesellschaftliche Klima war günstig und in mehreren Ländern rundherum gab es Volksabstimmungen, nur in Deutschland nicht. Pikant war: Ausgerechnet Rot-Grün und in Persona Gerhard Schröder und Joseph Fischer verwahrten sich damals dagegen. Kanzler Schröder verstieg sich sogar zu der Äußerung, das Grundgesetz verbiete Volksabstimmungen.
 
Das war natürlich eine kühne Auslegung von Artikel 20 Grundgesetz. Dort steht nachlesbar: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen (...) ausgeübt.“ Es war zudem eine kurzsichtige Auslegung des Grundgesetzes. Denn mehr Demokratie gefährdet die repräsentative Politik nicht, wie die Unions-Parteien meinen. Sie kann sie vielmehr neu legitimieren. Und genau das ist strukturell nötig.

9. 

In Teil I meiner Gedanken habe ich über die kleinen Defekte der politischen Repräsentation gesprochen, die vielfach subjektiv verstärkt werden. Im Teil II habe ich strukturelle Defizite angeführt, die gesellschaftlichen Änderungen entspringen. In beiden Fällen komme ich zu dem Schluss: Mehr Demokratie wagen und das hieß jedes Mal: mehr direkte Demokratie, also Volksabstimmungen auch hierzulande.

Pingpong über EU-Bande

 

Aber es gibt ein weiteres Struktur-Defizit. Ich will es im Teil III kurz beschreiben. Bis zu 80 Prozent aller politischen Entscheidungen werden inzwischen durch Gremien der Europäischen Union vorgegeben. Die EU aber ist ein Gebilde, das für die Bürgerinnen und Bürger so nebulös ist, wie Russland seinerzeit groß und der Zar fern war. So gilt die EU vielen immer weniger als Chance und stattdessen immer häufiger als Gefahr.
 
Das hängt auch mit ihrer Konstruktion zusammen. Man kann zwar ein EU-Parlament wählen. Dem fehlen allerdings die wichtigsten Rechte eines herkömmlichen Parlamentes. Die EU-Kommission wiederum ist ein Buch mit sieben Siegeln. Undurchsichtig und überirdisch, so werden beide wahrgenommen und folglich rechts oder links liegen gelassen. Und zugleich wird diese fehlende Transparenz massiv politisch missbraucht.

10. 

Ich bin Innenpolitikerin und ich habe es erlebt. Begehrlichkeiten, die im Bundestag keine Mehrheits-Chance hatten, wurden durch die jeweiligen Bundes-Innenminister in die EU-Kommission eingespeist und dort beschlossen. Das EU-Parlament opponierte zwar hie und da, aber ohne spürbare Kompetenz und Relevanz. Danach kam das national gescheiterte Begehr als nunmehr verbindliches EU-Recht in den Bundestag zurück.
 
Dieses politische Pingpong-Spiel über EU-Bande entwertet den Bundestag zusätzlich und es trägt dadurch zur Krise der repräsentativen Politik bei. Der Ausweg besteht allerdings nicht darin, wie manche meinen, dass die politischen Entscheidungen wieder grundsätzlich re-nationalisiert werden müssten. Meine Alternative heißt, dass die über-nationalen Entscheidungen grundsätzlich demokratisiert werden sollten.
 
Dasselbe Problem finden wir auf der Weltbühne wieder. Ich bin keine Außen-Politikerin und keine Völkerrechtlerin. Aber auch die UNO ist nicht auf der Höhe der Zeit. Übrigens: Ob Deutschland einen Sitz im UN-Sicherheitsrat bekommt, ist aus meiner Sicht bestenfalls drittrangig. Viel wichtiger ist, dass die selbsternannten Welt-Schiedsrichter auch die Welt-Spielregeln einhalten. Ich meine z. B. die USA und das Völkerrecht.

Gott ist keine demokratische Instanz

11. 

Im Teil IV meiner Gedanken werde ich wieder ganz irdisch und heimisch. Es gibt eine bestimmte Richtung der Politik, die sich selbst kastriert. Zu weilen wird sie als "neoliberal" bezeichnet. Sie reklamiert Sachzwänge, der sie sich unterordnen müsse. Sie stellt sich als alternativlos dar, wie Gott gegeben. Und sie tritt Kompetenzen an private und unkontrollierbare Instanzen ab. Wie auch immer: Die Politik entmündigt sich selbst.
 
Wenn aber alles als alternativlos erscheint, welchen Sinn hat dann noch eine politische Repräsentation? Was bleibt vom Politischen à la Hannah Arendt? Was bleibt von der Demokratie der Aufklärung und der Mitbestimmung? Wenn letztlich die Weltbank und die Börse Schicksal und Henker zugleich spielen können, dann wird eine Menschheits-Idee verraten und verkauft. Das halte ich für die größte Gefahr.
 
Das Sprichwort „Geld regiert die Welt“ war nie so gültig, wie heute. Der Dramatiker Heiner Müller hatte nach der Wende gesagt: „Nun stecken wir bis zum Hals im Kapitalismus.“ Er hatte den real-existierenden Sozialismus als Brecht-Schüler stets kritisiert und attackiert. Er hatte stets einen analytischen Blick dafür, was das offiziell Politische vom Souverän unterscheidet und was sie letztlich trennt. Und er hatte wohl jeweils Recht.

12. 

Abschließend noch ein Gedanke - und das ist mein Teil V. Er mag auf den ersten Blick abwegig erscheinen. Aber er trifft ins Mark der Demokratie. In den 1980er Jahren wollte die Bundesregierung ihr Volk zählen lassen. Das begehrte auf und bekam vor dem Verfassungsgericht Recht. Das so genannte Volkszählungs-Urteil wurde legendär und inzwischen mehrfach bekräftigt. Scheinbar geht es „nur“ um Datenschutz.

Das Grundgesetz wird ramponiert

 

Im Kern besagte der Richter-Spruch aber viel mehr: Bürgerinnen und Bürger, die nicht mehr wissen oder nicht mehr wissen können, wer was über sie weiß, sind nicht mehr souverän. Wer nicht mehr souverän ist, kann auch kein Souverän sein. Eine Demokratie ohne Souveräne aber ist undenkbar. Wägen sie bitte selber, wie weit sich der technische und der politische Alltag inzwischen vom souveränen Bürger entfernt haben.
 
Der reale oder vermeintliche Anti-Terror-Kampf hat viele Facetten. Ich bleibe bei meiner Einschätzung: Bei fast alledem, was Otto Schily durchgesetzt hat und was Wolfgang Schäuble will, wird das Grundgesetz nicht verteidigt, sondern ramponiert. Es droht ein System-Wechsel: weg vom demokratischen Rechts-Staat, hin zum präventiven Sicherheits-Staat.
Dagegen haben jüngst 18.000 Menschen in Berlin demonstriert.

13. 

Mein Fazit: Wir haben es in der Tat mit einer Krise der Demokratie zu tun. Sie wird genährt, so bald sich die politische Repräsentanz von den Bürgerinnen und Bürgern entfernt, räumlich und inhaltlich. Sie wird genährt, wenn sich die Politik selbst kastriert. Und sie wird genährt, wenn der Souverän entmündigt wird. Das alles passiert. Dagegen helfen keine Sonntags-Reden. Dagegen hilft nur ein Programm für mehr Demokratie.
 
Und genau das gibt es nicht. Zwar wurde die Föderalismus-Reform I als Programm für mehr Demokratie verkauft. Sie ist aber das Gegenteil. Sie bewirkt: Wer ohnehin arm dran ist, wird arm bleiben. Das Solidar-Prinzip wird zunehmend dem freien Wettbewerb und einem Recht des Stärkeren geopfert. Ich halte die Föderalismus-Reform I daher sogar für einen Verfassungs-Rückschritt, der als Fortschritt verkauft wird.
 
Ein Programm für mehr Demokratie müsste umfassender sein. Natürlich: mehr direkte Demokratie, wozu auch solche Modelle gehören, wie der „Bürgerhaushalt“. Aber zugleich muss mehr Demokratie auch ein Sozial-Programm sein. Mit einer Steuer- und Finanz-Politik, die Bürger, Länder und Kommunen nicht verarmt. Das Grundgesetz beantwortet übrigens beide Fragen positiv: Die soziale Frage und die Demokratie.
 
Meine Erfahrung aus 2 ½ politischen Systemen besagt: „Gleichheit ohne individuelle Freiheit endet in Entmündigung und Fremdbestimmung. Aber: Freiheit ohne Gleichheit ist nur die Freiheit für die Reichen.“ Nun habe ich Ihnen noch einen programmatischen Satz der neuen Linkspartei untergeschoben. Ich verteidige ihn. Aber fühlen Sie sich bitte völlig unbedrängt. Selbst in der neuen LINKEN ist er praktisch noch umstritten.
 

 

 

13.10.2007
www.petra-pau.de

 

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