Haben wir 1928 oder schon später

Rede von Petra Pau Gedenkstunde auf dem „Friedhof der Märzgefallenen“
Berlin, 9. November 2019

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1. Wir erinnern hier an die Revolutionen von 1848 sowie 1918/19.
Wir ehren die Gefallenen. Landauf, landab wird dieser Tage an eine andere Geschichte erinnert: an den Fall der Berliner Mauer vor 30 Jahren, am 9. 11. 1989. Das war in der Tat weltweit von Bedeutung. Aber die Öffnung der Grenze selbst war keine besondere Leistung. Das Mitglied des Politbüros der SED, Schabowski, hatte auf einer Pressekonferenz schlicht mal für Minuten den Überblick verloren, als er meinte, die Grenze sei auf, ja jetzt, unverzüglich.

2. Nun hatte sich die DDR gern auf die Revolutionen von 1948 und 1918 berufen. Gleichwohl ging sie, ging der Sozialismus sowjetischer Prägung überhaupt unter. Bei allem kalten Krieg sehe ich Rückblick dafür drei eigene Gründe:
Erstens war er wirtschaftlich nicht in der Lage, mit den führenden kapitalistischen Unternehmen Schritt zu halten, geschweige denn, eine höhere Produktivität zu entwickeln. Das aber wäre nach einer zentralen Prämisse von Karl Marx unabdingbar gewesen.
Zweitens wurden verbriefte Bürgerrechte sowie Grundregeln der Demokratie einer vermeintlich besseren Sache wegen zurück- oder ausgesetzt. Das war letztlich ein Rückfall hinter Forderungen der Französischen Revolution von 1789.
Drittens lief das Konzept der „führenden Rolle einer Partei“ und der „Einheit und Geschlossenheit“ seiner Mitglieder gesellschaftlich auf Überwachung und Maßregelungen hinaus. Dies wiederum blockierte Vielfalt und mithin lebendige Entwicklungen.

3. Mich hat die Wende in der DDR sehr geprägt, begonnen mit der Demonstration Hunderttausender am 4. November 1989 auf dem Alex.
Sie hat mich tief nachdenken lassen. Wobei die Zeit der Wende kürzer war, als es manchmal scheint. Sie fand mit der freien Wahl zur Volkskammer am 18. März 1990 sein Ende. Dieses Datum war übrigens durchaus mit Blick auf die Geschichte gewählt.

Der viel zitierte Runde Tisch hatte vordem einen Verfassungsentwurf vorgelegt.
Er war als Mitgift für einen neues, vereintes Deutschland gedacht. Die frisch gewählte Volkskammer ignorierte ihn mit Mehrheit. Die Ost-CDU wollte ihn nicht behandeln, weil die West-CDU ihn nicht wollte, bei der SPD war es ebenso.
So wurde aus dem Aufbruch ein Abbruch. Die historische Chance auf ein wieder vereinigtes Deutschland, das sozialer, demokratischer und friedfertiger als die Bundesrepublik-alt ist, wurde verpasst.

Ich will das exemplarisch an Artikel 43 des Verfassungsentwurfe zeigen.
Dort heißt es: „Die Staatsflagge (...) trägt die Farben schwarz-rot-gold. Das Wappen des Staates ist die Darstellung des Mottos 'Schwerter zu Pflugscharen'.“ Und selbstverständlich sah der Verfassungsentwurf des Runden Tisches direkte Demokratie, also Volksabstimmungen auch auf Bundesebene vor. Auch darum kämpfen wir hierzulande noch immer.

4. Womit ich wieder bei den Revolutionen 1848 und 1918 wäre.
Wir ehren die Gefallenen am besten, indem wir uns weiterhin für soziale Gerechtigkeit, Bürgerrechte und Demokratie sowie Frieden und Abrüstung engagieren. Das entspräche auch einem würdigen Gedenken an die Bürgerrechtsbewegungen 1989/90 zum Ende der DDR.

5. Und nun komme ich zu Punkt 5 meiner Botschaft.
Wir haben es hierzulande, in Europa und vielfach weltweit mit einem nationalistischen, rassistischen, ja faschistischem Rechtstrend zu tun.
Der Schriftsteller Erich Kästner hatte 1956 im Rückblick gemahnt:
„Die Ereignisse von 1933 bis 1945 hätten spätestens 1928 bekämpft werden müssen. Später war es zu spät. Man darf nicht warten, bis der Freiheitskampf Landesverrat genannt wird. Man darf nicht warten, bis aus dem Schneeball eine Lawine geworden ist. Man muss den rollenden Schneeball zertreten. Die Lawine hält keiner mehr auf ...“
Und so frage ich mich und Sie: Haben wir es aktuell noch mit einem rollenden Schneeball zu tun oder schon mit einer Lawine?
 
 

 

 

9.11.2019
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