Sinti & Roma werden doppelt diskriminiert

„Rastplatz“ Marzahn, Gedenkveranstaltung auf dem Otto-Rosenberg-Platz am 12. 06. 2016
Rede von Petra Pau

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Wir erinnern heute wieder an das Schicksal Tausender Roma, die in der Nazi-Zeit hier auf dem „Zigeuner-Rastplatz“, wie es hieß, von Berlin nach Marzahn ausgelagert wurden. Die meisten wurden hernach in KZ deportiert und ermordet.

Massenhaft geschah dies ab 1936, weil Berlin als Olympia-Stadt Zigeuner-frei sein sollte. Aber das Lager hier lässt sich weder auf 1936, noch auf Olympia beschränken. Es ging um enthemmte Diskriminierung, um tödlichen Rassismus.

Die Wenigen, die dem staatlich verfügten Tod entkamen, schwiegen darüber noch Jahrzehnte später. Manche hatten im Nachkriegs-Deutschland einen großen Namen. Dass sie Roma waren, behielten sie lieber für sich.

Den Jüngeren unter uns empfehle ich dazu das Buch „Das Brennglas“ von Otto Rosenberg. Es bedurfte meines Wissens viel Fürsprache, z. B. von Walter Momper, ehe er diesen Teil seines Lebens publik machte.

Auch deshalb gedenken wir heute nicht des Erinnerns wegen. Ja, die faschistischen Verbrechen dürfen nicht vergessen werden. Aber vor allem gilt es neuen Anfängen zu wehren und Wiederholungen zu verhindern - gemeinsam.

Und da ich ungern plakativ oder abstrakt rede, lese ich nun eine Geschichte aus meinem Buch „Gottlose Type“. Es ist eine aktuelle und mahnende Episode.
Sie heißt: „Fußball für Roma“.

„Fußball für Roma“

Die Meldung ging international durch die Medien: Nazis haben in einem ungarischen Dorf das Haus einer Roma-Familie angezündet. Als der Vater mit seinem dreijährigen Sohn dem Inferno entkommen wollte, wurden beide erschossen. Ich wollte schon länger nach Ungarn reisen, zumal damals gerade eine neue linke Bürgerrechtspartei gegründet wurde. Aber nun fuhren wir gemeinsam in das Dorf, um uns mit den Hinterbliebenen, ja, überhaupt mit Sinti und Roma zu solidarisieren: Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrates der Sinti und Roma in Deutschland, Theo Zwanziger, damals Chef des Deutschen Fußballbundes, und ich.
Abends waren wir im Nep-Stadion beim Fußball-Länderspiel Ungarn gegen Deutschland. Vor dem Anpfiff warb eine antirassistische Initiative für Demokratie und Toleranz. Deutschland gewann das Match vor 8.000 Zuschauern. Das waren sehr wenige im eigentlich fußballverrückten Budapest.
Nahezu zur selben Zeit wurde die neue Regierung vereidigt, unter freiem Himmel, bejubelt von 80.000 Ungarn. Sie gilt als rechtskonservativ-rechtspopulistisch und wird durch militante neofaschistische Organisationen gestützt. Auf ihr Konto gingen regelrechte Feldzüge gegen Sinti und Roma.
Tags darauf war ich im Jüdischen Viertel, bei der dortigen Gemeinde und im Holocaust-Museum. Der Direktor fürchtete um den Bestand seiner Ausstellung. Dort konnte man nämlich nachvollziehen, wie das 1944 war. Als die Nazis kamen, um Hunderttausende ungarische Juden in deutsche Gaskammer zu schicken, hatten die Horthy-Faschisten diese längst abholbereit in Lager zusammengepfercht. Diese tödliche Kumpanei sollte nun aus dem kollektiven Gedächtnis und ergo auch im Holocaust-Museum getilgt werden.
Unsere Dolmetscherin machte uns zudem auf Autoaufkleber aufmerksam. Wir sahen sie wohl, denn es gab sie massenhaft, wir konnten sie nur nicht deuten. Sie zeigten die Silhouette von Groß-Ungarn vor 1918 und mithin Ansprüche auf Territorien der Slowakei und Rumäniens.
Wenig später stellte diese ungarische Regierung Obdachlose unter Strafe, sobald sie im Stadtbild sichtbar wären. Sie überzog NGO, also Nichtregierungsorganisationen, mit einem Generalverdacht, sofern sie Kontakte ins Ausland pflegen. Sie kappte die Pressefreiheit, zugunsten regierungshöriger Medien. Und, vorläufiger Höhepunkt 2014, sie plant eine Steuer für alle, die im Internet unterwegs sind.
Übrigens: Ungarn ist seit 2004 ehrenwertes Mitglied der Europäischen Union.

Übrigens: Aus meinen Besuchen in Österreich weiß ich: Das Gros der Neumitglieder der Jüdischen Gemeinde in Wien spricht ungarisch.
Sie fühlen sich offensichtlich in Ungarn verfolgt.

Dasselbe trifft auf Sinti und Roma zu. Nur: Da Ungarn Mitglied der EU ist, findet das de jure nicht statt, jedenfalls nicht nach deutschem Asylrecht.
Jedes EU-Land gilt a priori als menschlich okay.

Und Länder, die nicht Mitglied der EU sind, werden politisch einfach schön beschlossen. Man nennt auch sie dann sichere Herkunftsländer. Seit kurzem gilt das auch für Albanien, Montenegro und den Kosovo.

So werden Sinti & Roma aktuell doppelt diskriminiert: verfolgt in ihren Herkunftsländern, verleugnet in ihren Fluchtländern. Auch in Deutschland, wo das Nazi-Regime seinerzeit an Roma einen Völkermord beging.
 

 

 

12.6.2016
www.petra-pau.de

 

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