Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freundinnen und Freunde,
1. Der Hans-und-Lea-Grundig-Preis 2015 hat im weiten Sinne etwas mit Flucht, Exil, Migration und Integration zu tun.
Dieser Rahmen hat einen direkten Bezug zu Lea Grundig.
1939 floh die Jüdin und Künstlerin vor den Nazis in Deutschland.
Sie fand im damaligen Palästina Aufnahme,
erst in einem Lager, später in Haifa und Tel Aviv.
Die Rosa-Luxemburg-Stiftung in Israel hatte vor Jahresfrist mit einer Ausstellung und einem Symposium an sie und diese Zeit erinnert.
Das Buch Lea Grundig mit Beiträgen von Angelika Timm und Gideon Ofrat sowie mit wundersamen Grafiken, Zeichnungen und Radierungen von Lea Grundig aus ihrer Palästina-Ära erinnern daran.
2. Nun sind Flucht, Exil, Migration und Integration keine Geschichten allein aus der Historie, sondern hoch aktuell, mancherorts auch schlimmer: brandaktuell.
Nicht erst, seit es hunderttausende Flüchtlinge auf oft tödlichen Wegen
bis nach Zentral-Europa schaffen, auch nach Deutschland.
Weltweit sind seit Jahren Zig-Millionen auf der Flucht, aktuell ist von 60 Millionen die Rede, das Gros aus dem arabischen Raum oder aus Afrika.
Die meisten fliehen innerhalb ihrer Länder oder in benachbarte. Wer es dennoch lebend über das Mittelmeer schaffte, strandete in Italien oder Griechenland.
3. Für Deutsche war das alles lange weit weg und für die Politik nicht relevant. Zumal nach europäischem Regeln und deutschen Gesetzen ohnehin so gut wie niemand mehr in der Bundesrepublik Deutschland Aufnahme erbitten kann.
Dereinst wurde das Asylrecht für jede und jeden im Grundgesetz verbrieft.
Eben genau wegen der schlimmen Erfahrungen von Lea Grundig und Millionen anderen, die von Nazis gejagt wurden.
Das Asylrecht galt damals als eherne deutsche Lehre aus der mörderischen Zeit des sogenannten Nationalsozialismus. Aber es wurde längst verstümmelt.
3. Doch plötzlich scheren sich Millionen Menschen, die um ihr Leben fliehen und eine Zukunft begehren, nicht mehr um deutsche Abschottungsparagrafen.
Das kam übrigens mitnichten über Nacht. Es gab Vorboten. Zum Beispiel die Flüchtlinge, die 2012 - 2014 in Kreuzberg auf dem Oranienplatz siedelten;
wochenlang auch vor dem Brandenburger Tor, bei Nässe und Kälte.
Schützende Schirme und wärmende Decken waren ihnen dabei von Amtswegen verboten.
Jenny Erpenbeck beschreibt deren Schicksale und mehr in ihrem neuem Roman Gehen, ging, gegangen, erschienen bei KNAUS.
Doch die Politik verharrte weiter in ihrem ach so deutschem Wachturm.
Keinerlei Debatten über Fluchtursachen und eventuell deutsche Mitschuld.
Keinerlei Vorsorge für einen humanen Umgang mit Menschen in größter Not.
4. Erst 2015 kam Bewegung in die Starre, allerdings sehr widersprüchlich.
Die Bundesregierung und die sie tragenden Parteien sind zerstritten.
Wie sehr, das wurde voriges Wochenende aufgeführt. Vor laufenden Kameras kanzelte der Pascha einer bajuwarischen Provinzpartei die Kanzlerin ab.
Angela Merkel will den Flüchtenden mit Herz begegnen, Horst Seehofer will ihnen die Waffen zeigen. Eine Regierungskrise ist nicht ausgeschlossen.
Gleichwohl verschärfen beide das Asylrecht und wenden es gegen Asylsuchende, genauso, wie es anlässlich der Pogrome 1993 geschah.
Was hätte wohl Lea Grundig zu alledem gesagt?
5. Zugleich werden westliche Werte beschworen, die bedroht seien. Andere wollen ihr Abendland verteidigen. Fehlt nur noch: Helm ab zum Gebet.
Muslime, die vor Terroristen fliehen, werden unter einen feindlichen Generalverdacht gestellt und ob ihres Glaubens pauschal verdammt.
Gotthold Ephraim Lessing, ein Sachse der deutschen Aufklärung, Autor von Nathan der Weise und der Ringparabel, dürfte im Grabe kreisen.
6. Über westliche Werte in einem europäischen Abendland werde ich nun eine Geschichte vorlesen. Sie ist aus meinem Buch Gottlose Type.
Es enthält 53 Episoden aus 25 Jahren meiner politischen Arbeit. Viele sind,
wie Titel und Einband ahnen lassen, heiter und überraschend. Aber nicht alle.
Im Buch ist übrigens auch eine Anekdote, die ich im ghetto-fighter-house in Israel erlebt habe, dort, wo Kunstwerke von Lea Grundig ausgestellt sind.
Das Erlebnis, das ich jetzt lese, ist sehr ernst.
Es trägt den Titel Fußball für Roma (Buch, ab Seite 70)
(Fußball für Roma ...)
Aus meinen Besuchen in Österreich weiß ich übrigens:
Seit einigen Jahren wächst die Jüdische Gemeinde Wien rasant.
Das Gros der Neumitglieder spricht ungarisch.
7. Die Flüchtlingskrise erweist sich zunehmend als Krise der Europäischen Union, als politische, als soziale, als demokratische, als menschliche.
Das betrifft uns alle, nicht nur Flüchtende und Asylsuchende.
Auch hierzulande polarisiert sich die Gesellschaft gefährlich.
Ja, es gibt vermeintliche westliche Werte, wie Demokratie, auch Solidarität.
Tausende freiwillige Helferinnen und Helfer leben sie, indem sie bis zur Erschöpfung Flüchtlingen das Notdürftigste zum Leben organisieren.
Die Regierungen im Bund und in den meisten Ländern gehören nicht dazu.
Jene, die - wie PEGIDA - Rassismus predigen und Gewalt schüren, ohnehin nicht.
Und wieder offenbaren sich Konflikte, die schon länger schmoren.
Ihre Ursachen sind hausgemacht und liegen tiefer.
Über das tiefer können wir gerne reden. Es würde nur mein Grußwort sprengen, das heute Preisträgern der Hans-und-Lea-Grundig-Stiftung gilt.
8. Also werde ich meine Gedanken mit zwei Ereignissen vom Wochenende illustrieren. Sie zeigen, wie die Gesellschaft gefährlich auseinanderdriftet.
Das eine wurde vom Fußball aus Sachsen gemeldet.
Vor dem 3.-Liga-Spiel Dresden gegen Aue verharrten die Mannschaften in einer Schweigeminute und gedachten so der vielen Terroropfer von Paris.
Dagegen skandierten beider Fan-Blocks: Merkel muss weg! Merkel muss weg! In ihrem verbohrten Hass gegen Flüchtlinge merkten sie nicht einmal, dass sie sich mit Mördern gemein machen. Und wenn doch, umso schlimmer.
Die zweite Episode:
In Berlin fand ein Landesparteitag der Linken statt.
&Flüchtlinge willkommen - rassistische Hetze und Neofaschismus bekämpfen - Solidarität organisieren hieß ein Debattenpunkt. Auch ich sprach dazu.
Später betraten fünf Flüchtlinge die Bühne: eine Roma-Familie, Vater, Mutter und zwei Kinder aus dem Balkan sowie ein junger Mann aus Kamerun.
Der sagte: Als ich flüchtete, war ich 23 Jahre alt. Nun bin ich hier und 28.
Er fügte hinzu, er wolle eine gerechte Welt und sei deshalb Sozialist.
Und wieder wörtlich: Ich bin nach Deutschland gekommen, weil man hier Sozialist sein kann, ohne dafür gleich ins Gefängnis gesteckt zu werden.
Im Saal war es ergriffen still.
Alle Delegierten erhoben sich und klatschen Beifall: Willkommen!
Danke!
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