Mehr Respekt und Empathie gegenüber den Angehörigen

Buch-Präsentation mit Barbara John u. a.: „Unsere Wunden kann die Zeit nicht heilen“
Rede von Petra Pau, Berlin, 4. November 2014

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1. 

Bevor der Bundestag Anfang 2012 seine eigentlichen Untersuchungen zum NSU-Desaster und zum Staatsversagen aufnahm, gab es im Ausschuss zwei Anhörungen.
 
In der ersten ging es um die Entwicklung der rechtsextremen und der militanten Nazi-Szenen von den 1970er Jahren bis heute, und zwar im Osten und im Westen Deutschlands.
 
Das war für uns alle wichtig, insbesondere jedoch für jene Ausschussmitglieder, die bis dato weniger mit den Themen Rechtsextremismus und Rassismus befasst waren.
 
Wir haben daher den NSU-Komplex nie isoliert betrachtet. Und so, wie sich der NSU nicht auf ein Trio reduziert, lässt sich die militante Nazi-Szene, auch nicht auf den NSU reduzieren. Die Gefahr bleibt.
 
Clemens Binninger (CDU) bedankte sich damals insbesondere bei der Journalistin Andrea Röpke. So einen fundierten Beitrag hätte er gern einmal von den Sicherheitsbehörden gehört, sagte er. Wir ahnten damals noch nicht, wie nah er mit dieser Kritik bei der bitteren Wahrheit war.
 
In einer zweiten Anhörung schilderte damals Barbara John an ausgewählten Beispielen, wie mit den Angehörigen der NSU-Opfer umgegangen wird.
 
Von Staats wegen, denn der Amtsschimmel wurde unbeirrt weiter geritten, so als wäre nichts geschehen, so als hätte es die grauenvollen NSU-Verbrechen nicht gegeben.
 
Ihre Beispiele hatten uns alle tief bewegt. Unser Untersuchungsauftrag galt vor allem dem Staatsversagen bei der Ermittlung der Mord- und Anschlagsserie. Aber wir hatten seither immer auch das Schicksal der Hinterbliebenen im Blick. Wir fühlten uns ihnen schuldig.

2. 

Die meisten Mitglieder des Untersuchungsausschusses waren vor Ort, also an den Tatorten der NSU-Bande. Wir wollten uns ein Bild machen, ein Gefühl bekommen und nicht nur Akten lesen und Zeugen hören.
 
So war ich auch in Köln in der Keupstraße. Mein Begleiter, Herr Özdemir, ist Sprecher der Anwohner dort. Er öffnete mir etliche Türen und verhalf mir so zu einigen Gesprächen.
 
So auch mit dem Friseur, vor dessen Salon die verheerende Nagelbombe gezündet wurde. Das war 2004.
 
Noch im Herbst 2011, also sieben Jahre danach, wurde er wieder und wieder vorgeladen und von der Polizei bedrängt. Er solle endlich sagen, was er mit alledem zu tun habe.
 
Zum Abschluss des Gespräches sagte er mir: „Ich weiß, Frau Pau, auch die Polizei kann irren. Aber sie vergaß, dass wir Menschen sind, und das kann ich nicht verwinden.“
 
Mein Begleiter lud mich danach noch zu einem Glas Tee ein. Schließlich brach es auch aus ihm heraus. „Ich lebe jetzt 50 Jahre hier“, sagte er. „Ich bin Deutscher, meine Kinder sind Deutsche, meine Enkel ebenso. Wo sollen wir denn hin?“ Ich konnte ihm nur die Hand drücken.
 
Vor zwei Wochen trafen wir uns im Bundestag auf einer Fachtagung zum Thema „NSU-Komplex - Bilanz und Ausblick“ wieder. Dort wiederholte er: „Bis zum NSU-Anschlag in der Keupstraße hatten wir alle Vertrauen in den deutschen Rechtsstaat, seither nicht mehr.“

3. 

Heute geht es um das Buch „Unsere Wunden kann die Zeit nicht heilen“. Ich habe das Manuskript vorab gelesen. Seither geht mir das Wort „Opfer-Perspektive“ nur noch schwer über die Lippen. Es ist mir zu distanziert, zu kalt, zu Deutsch. Ich habe nur noch kein besseres gefunden.
 
Seine Empfindungen muss sich ohnehin jede und jeder selbst erlesen. Bei mir waren bei fast jeder Geschichte auch Wut und Verzweiflung über die fehlende Empathie deutscher Behörden dabei. Die Opfer und Hinterbliebenen mussten sie jahrelang erleiden.
 
Politisch bestätigten fast alle, was Herr Özdemir sagte: Sie haben kein Vertrauen in den Rechtsstaat mehr, und wenn doch noch ein Fünkchen, so hängt der an einem seidenen Faden. Der wiederum weist auf den laufenden NSU-Prozess in München und seinen Ausgang.
 
Ich merke als Innenpolitikerin an: Wir haben nur einen Rechtsstaat, nicht drei: einen für Urdeutsche, einen für Migranten und einen für Asylsuchende.
Es gibt zwar für alle drei Gruppen unterschiedliche Rechte, was schon bedenklich ist. Aber spätestens bei Leib und Leben gilt der Rechtsstaat für alle oder keinen. Und deshalb betreffen die Schilderungen des Versagens in diesem Buch auch uns alle.
 
Umso mehr bringt es mich in Rage, wenn Behörden, wenn Regierungen immer noch versuchen, Untersuchungen zum NSU-Komplex zu behindern oder gar zu verhindern.
 
Beispiele dieser Art gibt es viele, zu viele. Das vorerst jüngste stammt aus dem Land Brandenburg, wo der Verfassungsschutz sich weigerte, einen V-Mann mit NSU-Bezug vor dem Münchener Gericht befragen zu lassen.
 
Wer so agiert, hat keinerlei Respekt gegenüber den NSU-Opfern und ihren Angehörigen. Außerdem treiben die Hintertreiber Bundeskanzlerin Angela Merkel zum Meineid. Sie hatte im Februar 2012 bedingungslose Aufklärung versprochen. Davon kann bislang keine Rede sein.

4. 

Als Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages danke ich allen, die an dem Buch "Unsere Wunden kann die Zeit nicht heilen" beteiligt waren.
 
Zuerst jenen, die als Betroffene Einblicke in ihre wunden Seelen erlauben. Jenen, die nach vielen Gesprächen halfen, diese Erlebnisse aufzuschreiben. Und natürlich Ihnen, Frau Barbara John, für ihr wunderbares Engagement, ohne das es auch dieses wichtige Buch nicht gäbe.
 
Danke!
 

 

 

4.11.2014
www.petra-pau.de

 

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