Ich werde eine Geschichte erzählen. Sie hat auch etwas mit diesem Haus zu tun, das an die Befreiung Berlins vom Faschismus erinnert. Beteiligt waren übrigens nicht nur die Rote Armee, sondern auch Soldaten der polnischen Armee. An sie wird im Friedrichshain erinnert.
Nachdem die Sowjetarmee hier Berlin erreicht hatte, dauerte der Kampf bis zur bedingungslosen Kapitulation des Hitler-Regimes noch fast drei Wochen. Nahezu um jedes Haus, um jede Straße wurde erbittert gekämpft. Noch einmal kamen Hunderttausende Menschen ums Leben.
Als Symbol des Sieges galt die Eroberung des Reichstages. Sie alle kennen das Foto, auf dem Rotarmisten dort ihre Sowjet-Fahne hissten. Es war ein falsches Symbol, denn der Reichstag war bereits 1933 von den Nazis entmachtet worden. Aber das erwähne ich nur am Rande.
Als das Gebäude in den 1990er Jahre für den Einzug des Bundestages hergerichtet wurde, kamen auch kyrillische Inschriften wieder zum Vorschein. Heute würde man sagen Grafitti. Schriftzüge sowjetischer Soldaten, die ihren Weg durch den Krieg beschreiben oder einfach ein Lebenszeichen hinterließen.
Es gab damals einen heftigen Streit, ob sie erhalten werden sollten oder nicht. Insbesondere die CDU/CSU war dagegen. Die Vernunft setzte sich durch.
Vordem wollte die CDU noch einen Kompromiss. Wenn schon die Russen, dann müssten dort auch die Amerikaner, Endländer und Franzosen erscheinen.
Das war natürlich höchst a-historisch. Denn es war nun mal die Rote Armee, die Berlin unter großen Opfern befreit hatte, und nicht alle Alliierten. Aber es hatte ja auch bis 1985 gedauert, bis mit Richard von Weizsäcker erstmals ein namhafter CDU-Politiker offiziell von Befreiung sprach.
Als Feier- oder Gedenktag in der Bundesrepublik Deutschland gilt der 8. Mai trotzdem noch immer nicht. Ich bedauere das.
Anfang Mai 2010 war Stefan Doernberg gestorben. Einige von Ihnen werden ihn sicher noch kennen. 1945 gehörte er als deutscher Mitkämpfer der Roten Armee zu den Befreiern Europas von Faschismus und Krieg.
Der Historiker Stefan Doernberg war Mitglied im Rat der Alten der Partei DIE LINKE. In seinem wahrscheinlich letzten Interview sagte er:
Ich habe Verständnis, wenn heute manche vielleicht irgendeinen Tag im Jahr 1989 als den wichtigsten Tag ansehen oder andere denken, dass dies der 7. November 1917 mit der Oktoberrevolution war. Trotzdem neige ich, wenn man sich alles überlegt, aus einem Grund dazu zu sagen, der 8. Mai 1945 ist die wichtigste Zäsur des 20. Jahrhunderts, vielleicht nicht nur des 20. Jahrhunderts.
Mit diesem Tag wurde die Frage entschieden: Gibt es weiter eine menschliche Zivilisation auf der Erde, oder gibt es sie nicht. Hätte der deutsche Faschismus in diesem Krieg gesiegt - die Möglichkeit darf man nicht völlig ausschließen -, würde es heute keine Zivilisation mehr geben.
Ich meine nicht allein, dass zu den 55 Millionen Toten des Zweiten Weltkrieges wahrscheinlich weitere Hunderte Millionen dazugekommen wären - es gab ja Planungen, dass zumindest die Hälfte der Bevölkerung der Sowjetunion ausgelöscht werden sollte, und den Franzosen wäre es vielleicht nicht viel besser ergangen.
Was danach hätte geschehen können, wäre nicht einmal mit einem Rückfall in eine Barbarei vergleichbar gewesen, es hätte mit der Zivilisation nichts mehr zu tun.
Darum sage ich - so Stefan Doernberg: Der 8. Mai ist der wichtigste Tag.
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