Sehr geehrte Éva Fahidi,
ich freue mich sehr, dass ich Sie als Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages in meiner Heimatstadt begrüßen darf. Sie werden über ihre Erinnerungen an das Vernichtungslager Auschwitz reden und über ihr Buch Die Seele der Dinge. Viele Holocaustüberlebende können das inzwischen nicht mehr. Es ist der Lauf der Natur, dass Zeitzeugen rar werden. Umso herzlicher danke ich Ihnen.
Sehr geehrte Damen und Herren,
bedanken möchte ich mich auch bei den Veranstaltern, dem Internationalen Ausschwitzkomitee und der Gedenkstätte Deutscher Widerstand. Sie baten mich um ein eröffnendes Grußwort. Ich komme dieser Bitte gerne nach und habe dennoch lange überlegt, was ich sagen könnte. Als ich geboren wurde, waren die Nacht des Faschismus längst Geschichte, Deutschland und Europa befreit.
Es sind drei Geschichten, die ich ihnen erzählen möchte. Sie sind jüngeren Datums und sie haben etwas Verbindendes. Seit Jahren wird hier in Berlin, im Grunewald, an den Holocaust erinnert. Jeweils am 9. November gedenken Schülerinnen und Schüler sowie angehende Polizistinnen und Polizisten am Gleis 17. Dort wurden Zigtausend Jüdinnen und Juden in Waggons verfrachtet, in KZs verbannt und umgebracht.
Schon mehrfach war ich dabei, wenn am Gleis 17 an das schlimmste Verbrechen der Menschheitsgeschichte erinnert wird. An das Vorhaben, mit deutscher Gründlichkeit, mit deutscher Technik und mit deutscher Logistik alles Jüdische auszurotten: Kultur, Religion, Menschen. Ein für alle mal zu vernichten, weil sie jüdisch sind. Kein Jugendlicher heute kann sich das vorstellen, geschweige den Holocaust ermessen.
Im vorigen November bat man mich, dort zu sprechen, zu den Schülerinnen und Schülern und zu den künftigen Polizistinnen und Polizisten Berlins. Auch davor habe ich lange überlegt: Was kann ich ihnen sagen? Was könnte ihre Seelen bewegen und ihren Verstand anregen, über das nötige, aber pure Erinnern hinaus? Als Nachgeborene zu Nachgeborenen. Ich erzählte unter anderem, was ich wenige Monate zuvor in Ungarn erlebt habe.
Dort war ich in einem kleinen Dorf, eine Auto-Stunde von Budapest entfernt. Wie anders wo auch, waren im Ort Neofaschisten aufmarschiert. Das Haus einer Roma-Familie wurde in Brand gesteckt. Und als der Vater mit seinem Sohn versuchte, dem Inferno zu entkommen, wurden beide erschossen. Aus einem einzigen Grund: Weil sie Roma waren. Der Fall - dieser Fall - machte international Schlagzeilen.
Am Abend meines Besuches fand im Budapester Nep-Stadion ein Fußball-Länderspiel statt: Ungarn gegen Deutschland. Romani Rose, der Vorsitzende des Zentralrates der Sinti und Roma in Deutschland, saß demonstrativ auf der Tribüne. Theo Zwanziger, der Chef des deutschen Fußballverbandes, ebenso. Vor dem Anstoß warb eine antirassistische Initiative für Respekt und Toleranz. Im Stadion waren rund 7.000 Zuschauer.
Parallel dazu wurde die neue ungarische Regierung öffentlich vereidigt. 70.000 Bürgerinnen und Bürger jubelten ihr zu. Es ist eine Koalition aus einer rechtskonservativen und nach meinem Verständnis einer neofaschistischen Partei. Sie wird von uniformierten Schläger-Trupps flankiert. Der Mord an dem Roma-Vater und seinem Sohn gehört ins selbe Bild. Bis heute wurde er übrigens juristisch nicht gesühnt.
Ich konnte dort regelrecht fühlen, was Imré Kertesz, Auschwitz-Überlebender und Literatur-Nobell-Preisträger am 27. Januar 2008 im Deutschen Bundestag wiederholt hatte: Das vordem Unvorstellbare, der Holocaust, ist geschehen. Und was einmal geschehen ist, kann wieder geschehen. Auch gegen den Juden Imré Kertesz gibt es in Ungarn inzwischen wieder Mord-Drohungen. Auch das habe ich am Gleis 17 erzählt.
Natürlich nicht, um von der deutschen Hauptverantwortung für den Holocaust und den 2. Weltkrieg abzulenken. Im Gegenteil. Ich erzählte, wie alles scheinbar ganz klein begann und gerade deshalb so gefährlich. Man kann das in nahezu allen Ländern beobachten. Deshalb noch ein Erlebnis aus meinem Ungarn-Besuch. Ich war im Jüdischen Viertel und im Holocaust-Museum in Budapest und in einem Jugendclub.
Das Motto des Clubs heißt Kultur statt Hass. Ich fragte die jungen Leute, wie sie sich den Rechtsruck erklären. Sie sagten mir: Es gibt immer mehr Armut und immer weniger Hoffnung. Also wird nach Schuldigen gesucht. Und die Medien helfen gern mit absurden Klischees nach: Schuld an der empfundenen Misere sind die Reichen da oben, also die Juden, und die Faulen da unten, also die Roma. So schürt man Hass.
Wir brauchen nicht nach Ungarn zu schauen. Fast überall werden soziale Konflikte ethnisiert. Dass die Reichen immer reicher und die Armen immer zahlreicher werden, und zwar weltweit, ist aber kein ethnisches Problem. Aktuell erleben wir eine ähnliche Ablenkungs-Kampagne mit der Behauptung, faule Griechen würden sich ein sonniges Leben auf Kosten fleißiger Deutscher ergaunern. Sie ist verlogen, aber sie verfängt.
Immer wieder werden Feindbilder geschaffen, um von tatsächlichen Miseren abzulenken. Und immer wieder werden solche Feindbilder auch angenommen, weil sie so einfach klingen. Das ist seit urbiblischen Zeiten so. Aber das war noch nie gut. Und täusche sich bitte niemand über die deutschen Zustände. 25 bis 40 Prozent der Bevölkerung, so belegt eine Langzeit-Studie der Uni Bielefeld, hegen und pflegen antisemitische Vorurteile.
Wenn das stimmt - viel spricht dafür - dann verbietet sich aus meiner Sicht alles medien- und politische Theater um die Frage: Welche Partei hat die meisten Antisemiten in ihren Reihen? Wer aus der deutschen Geschichte nur irgendwas gelernt hat, sollte wissen: Hitler kam nicht an die Macht, weil die NSDAP so stark war, sondern weil die Demokratinnen und Demokraten zu schwach waren. Millionen Jüdinnen und Juden wurden auch deshalb ermordet.
Die jungen Leute im Budapester Club bringen junge Leute zueinander, Juden, Christen, Moslems, Roma, Atheisten, Sozialisten, Idealisten. Sie pflegen Kultur statt Hass, Miteinander statt Gegeneinander, bewusst und engagiert. Sie wollen neuen Anfängen wehren, damit sich das seit dem Holocaust nicht mehr Unmögliche, wie Imre Kertesz mahnte, nicht wiederhole. Und sie wissen sehr wohl: Ungarn hatte einen eigenen Anteil am Holocaust.
Zurück nach Deutschland: In der Gedenkstätte an das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück, im Norden Brandenburgs, traf ich auf andere Jugendliche. Sie kommen aus so genannten Helfenden Verbänden: dem Roten Kreuz, dem Technischen Hilfswerk, der Feuerwehr, der Malteserjugend. Sie machen dort, wie es neudeutsch heißt, einen Workshop. Sie verbringen dort gemeinsam eine Woche ihrer Freizeit, sie konfrontieren sich mit der Geschichte.
Und sie helfen mit ihren jeweiligen Fähigkeiten und Fertigkeiten, die Gedenkstätte zu erhalten und zu erweitern. Sie sind alle im Alter zwischen 14 und 17 Jahren. Einer war schon das zweite Mal dort. Ich fragte ihn, warum? Er antwortete: Ich will nicht, dass Gras über die Geschichte wächst. Und er meinte es genau so doppelsinnig. Er will nicht, dass die NS-Diktatur vergessen wird. Und er will nicht, dass die Gedenkstätte verarmt-vergrünt.
Damit kein falsches, idyllisches Bild entsteht: Im statistischen Schnitt werden in der Bundesrepublik Deutsachland Stunde für Stunde 2 ½ rechtsextremistische Straftaten und Tag für Tag 2 ½ rechtsextremistische Gewalttaten registriert. Jüdische Einrichtungen, Kindergärten und Synagogen, müssen noch immer besonders geschützt werden. Und Woche für Woche wird landauf, landab mindestens ein Jüdischer Friedhof geschändet.
Gerade deshalb haben alle drei Geschichten etwas Gemeinsames, der Club in Budapest, das Gedenken am Gleis 17, der Workshop in Ravensbrück. Es sind Jugendliche, die sich sagen: Nie wieder! Ich habe sie ermutigt: Ihr habt keine Schuld an der Vergangenheit und lasst euch auch keine Schuld einreden. Aber wir alle sind verantwortlich für das was ist und für das was wird. Nicht irgendjemand, sondern du und ich.
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