Aktuelle Notiz: zum 9. November

von Petra Pau
Berlin, 7. November 2009

1. 

Dieser Tage besuchte mich eine Journalistin. Sie ist Jüdin und war als USA-Bürgerin 1989/90 in der DDR und in der BRD unterwegs. So hatte sie die deutsche Einheit aus ihrer Sicht erlebt und damals beschrieben. Nun fragte sie mich besorgt, ob die ganzen 20-Jahre-Feiern zum „Mauer-Fall“ 1989 das Erinnern an die Reichspogromnacht 1938 - ebenfalls an einem 9. November - verdrängen könne oder gar solle?

2. 

Ich teilte ihre Befürchtungen. Am selben Tag bat mich „Phoenix“, der Nachrichten- und Ereignis-Kanal von ARD und ZDF, zu einer Talk-Runde ins Studio. Ich sollte am 9. November 2009 als Kontrast zu einer Ex-Kollegin von der CDU meine Sicht auf die Ereignisse vor 20 Jahren schildern. Ich habe abgesagt. An diesem Abend werde ich in der Jüdischen Gemeinde Berlin der Opfer des Holocaust gedenken.

3. 

Vieles, was unter der Überschrift „20 Jahre Mauer-Fall“ daher kommt, ist zudem Geschichtsklitterei. Klassisches Beispiel: Die Konrad-Adenauer-Stiftung huldigte Georg Bush senior, Michail Gorbatschow und Helmut Kohl als Götter der Wende und der Einheit. Die wirklich mutigen Bürgerrechtler zu DDR-Zeiten kamen dabei nicht vor. Sie haben ihre Schuldigkeit getan und sind folglich nicht mehr der Sendung wert.

4. 

DIE LINKE versuchte ihnen dennoch ein öffentliches Podium zu geben. Einige, wie Pfarrer Schorlemmer, kamen auch. Aber die großen Medien winkten entrüstet ab: „Ausgerechnet DIE LINKE!“ Ja, ausgerechnet DIE LINKE! Schon vor zehn Jahren hatte die damalige PDS eine sehr spannende, weil widersprüchliche Veranstaltung zu „10 Jahren Mauer-Fall“ angeboten - bewusst im Berliner „Tränen-Palast“.

5. 

Widersprüchliches ist aber in einer selbstherrlichen Bundesrepublik nicht gefragt. Die Geschichte wird geglättet und gesäubert, nach Gut und Böse, nach Ost und West sortiert, und ebenso serviert. So kann nicht zusammen wachsen, was zusammen gehört. Und so wird Willi Brandt (SPD), dem das Zitat zugeschrieben wird, weiter verfälscht. Denn eigentlich hatte er genau das Gegenteil von dem gesagt, was ihm nachgesagt wird.

6. 

Willi Brandt im Original: „Die wirtschaftliche Aufforstung und die soziale Absicherung liegen nicht außerhalb unseres Leistungsvermögens. Die Überbrückung geistig-kultureller Hemmschwellen und seelischer Barrieren mag schwieriger sein. Aber mit Takt und Respekt vor dem Selbstwertgefühl der bisher von uns getrennten Landsleute wird es möglich sein, dass ohne entstellende Narben zusammen wächst, was zusammengehört.“

7. 

Im Land Brandenburg wurde gerade eine rot-rote Regierung gebildet. SPD und LINKE Hand in Hand? Wieder liefen die Medien Sturm, Ministerpräsident Platzeck (SPD) wagte die Flucht nach vorn. Kurt Schumacher (SPD) habe nach 1945 die Waffen-SS integriert, also müsse 20 Jahre nach dem Mauerfall endlich auch DIE LINKE eine reale Chance erhalten. Die Empörung explodierte. Meine auch. Verhalten.

8. 

Die Waffen-SS war nicht die SS. Aber diese Detail-Klarstellung ist jetzt nicht mein Part. Das deutsche NS-Regime hat Zig-Millionen Tote auf dem Kerb-Holz und einen bislang historisch einmalig „industriellen“ Massenmord an Jüdinnen und Juden. Jeder Vergleich mit der DDR ist daher absurd. Schlimmer noch: Er führt zur Verharmlosung des Faschismus und stärkt nur neue Rechtsextremisten.

9. 

Wenn Matthias Platzeck dennoch meint, seine SPD-Koalition mit der Partei DIE LINKE mit so einem fragwürdigen, zumal schlimm interpretierbaren Vergleich legitimieren zu müssen, dann sagt das unglaublich viel über das vorherrschende Geschichts-BILD in Deutschland aus. Es ist schlecht, simpel und überheblich. Und wehe dem, der Abtrünniges äußert. Der Medien-Pranger lauert allenthalben.

10. 

Dennoch birgt sein Vergleich eine Wahrheit. Nach 1945 musste die BRD die Alt-Nazis irgendwie integrieren. Sie waren da, mittendrin. Man konnte sie nicht einfach rechts liegen lassen. Nach 1990 war dies anders. Man musste politisch anders Denkende nicht mehr auf- und annehmen, schon gar nicht die von da „Drüben“. Und so schlug dem einst hofierten Stefan Heym bereits 1994 eisige Kälte entgegen. Er war links geblieben.
 

 

 

7.11.2009
www.petra-pau.de

 

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