Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer

Kundgebung, „Zug der Erinnerung“, Berlin, 12. April 2008
Rede von Petra Pau

Vor 63 Jahren wurde Europa vom Faschismus befreit. Das NS-Regime hatte den II. Weltkrieg eröffnet. Er kostete 60 Millionen Menschen das Leben. Das NS-Regime hatte den Holocaust geplant und damit begonnen, alle Jüdinnen und Juden systematisch auszurotten. Das NS-Regime hatte versucht, alles und alle zu unterjochen, die seinem Rassen- und Herrschaftswahn entgegenstanden.

Das alles ist Geschichte. Nun aber stehen wir vor der Frage, wie wir diese unfassbare Geschichte in lebendiger Erinnerung halten, so dass sie sich nie mehr wiederholen kann. Und das in einer Zeit, in der es immer weniger Zeitzeugen gibt. Der „Zug der Erinnerung“ ist dafür ein Beispiel. Jede Stadt sollte ihn daher willkommen heißen. Berlin tut es. Wir tun es und viele andere auch.

Was aber waren die Schlagzeilen der letzten Wochen? „Unter Dampf aufs Abstellgleis“ titelte die Frankfurter Rundschau. „Die Bahn macht sich lächerlich“, schrieb die taz. Und die Stuttgarter Nachrichten kritisierten: „Die Bahn kassiert auch für das Gedenken an NS-Opfer“. Ich könnte die Aufzählungen der Peinlichkeiten fortführen. Ich lasse es aber.

Zumal: Ich kenne viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bahn, denen die Blockade-Haltung ihrer Chef-Etage genauso peinlich ist, wie uns. Aber zur Erinnerung: Noch ist die Bahn im Bundesbesitz und der Bahn-Chef ein Bundesbediensteter. Er ist offenbar überfordert und überbezahlt. Auch deshalb habe ich ein klares und überfälliges Wort der Bundesregierung gefordert.

All jene, die sich seit Jahrzehnten für die Erinnerung einsetzen, waren stets in der Minderheit. Und sie hatten immer Widerstände zu überwinden - lange als Netzbeschmutzer und noch heute kriminalisiert. Aber man kann die Greuel des NS-Regimes nicht wegschweigen. Man darf es auch nicht. Nicht moralisch, nicht politisch. Es wäre ein Verrat an den Opfern und ein Verrat an der Zukunft.

Das Auswärtige Amt hat begonnen, sich seiner Vorgeschichte zu stellen, ebenso das Bundes-Kriminalamt. Auch Sport-Clubs oder Kultur-Größen, wie Hertha BSC oder die Berliner Symphoniker, versuchen mit ihrer Rolle in der NS-Zeit ehrlicher umzugehen. Nur die Bahn AG hat „technische“ Probleme mit der Wahrheit. Dabei waren die NS-Verbrechen ohne Reichsbahn undenkbar.

Genau das ist die tiefere Botschaft, die der „Zug der Erinnerung“ erfahrbar machen kann. Es war nicht Hitler und eine Clique enger Gefolgsleute. Eine Mehrheit der Deutschen hat damals weggesehen, geduldet oder mitgemacht, auch bei der Bahn, aber nicht nur da. „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer!“, hat der berühmte Goya einmal gemahnt und gemalt. Er hatte recht.

Im statistischen Schnitt werden derzeit bundesweit Stunde für Stunde 2 ½ Straf- und Tag für Tag 2 ½ Gewalttaten mit rechtsextremistischen Hintergrund registriert. Und im statistischen Schnitt wird bundesweit Woche für Woche ein jüdischer Friedhof geschändet. Das sind die offiziellen Zahlen. Sie stapeln tief. Sie besagen aber auch: Vielfältige Züge der Erinnerung sind wichtiger denn je.
 

 

 

12.6.2008
www.petra-pau.de

 

Seitenanfang

 

 

Lesbares

 

Startseite