Mehr Fragen als Antworten

Beobachtungen zum Protestantismus

Petra Pau

Gastbeitrag in „evangelische aspekte“, Heft 2/2007

„Warum ausgerechnet ich?“ Das war mein erster Gedanke, nachdem ich gefragt wurde, ob ich diesen Beitrag schreiben wolle. „Warum gerade ich“ ist allerdings eine Antwort, die ich sonst kaum gelten lasse. Ich hatte mich also verfangen. Und so kam ich ins grübeln: Ja, was nehme ich vom deutschen Protestantismus wahr? Was erwarte ich von ihm? Und immer wieder fragte ich mich: Was sollte Protestantinnen und Protestanten an meiner Antwort wirklich interessieren?

Ich bin eine bekennende Linke, aber keine eingetragene Christin. Im ZDF-Deutschland habe ich profunde Bibel-Kenntnisse nachgewiesen. Aber was hat das mit dem wahren Leben zu tun? Bestenfalls so viel: Die DDR wird gern als gottlos verkauft, nicht grundlos, aber so absolut, ja absolutistisch, dass es mich an mittelalterliche Hexen-Verbrennungen erinnert. Oder an Ablass-Handel: Wer seiner Herkunft inklusive Schuld abschwört wird geduldet bis auf Widerruf.

Das tue ich nicht. Meine alte Heimat ist gescheitert, zu Recht. Das hat aus mir eine überzeugte Demokratin gemacht. Aber ich bin Sozialistin geblieben, vielleicht auch erst richtig geworden. Meine neue Heimat BRD, allemal die scheindominante und zugleich schwindsüchtige Politik, bestätigt mich darin täglich neu. Der reale Sozialismus ist gescheitert, der reale Kapitalismus ist übrig geblieben. Und er wird übermütig. Es gibt mehr Fragen als Antworten.

Ich habe mich schon mal - einmal - öffentlich zu meinem Verhältnis zu Gott geäußert. Das war in einem Interview-Band „7 Fragen an das Leben“ von Dirk von Nayhauß. Damit will ich es vorläufig auch belassen. Ob Gott und ob ich glaube, das ist meins, ich lege da kein Bekenntnis ab und ich verlange es von niemand. Schon gar nicht in der Politik. Zumal: Würde nicht Lessings Ring-Parabel einen Gottesbezug in der EU-Verfassung geradezu ausschließen?

Und doch bewegte mich das Thema. Spätestens, ich erinnerte mich wieder, da ich ja selbst schon kirchliche Botschaften brauchte und sie ebenso gebraucht habe: als Hoffnung im Leben und als Zeichen in der Politik. Es war an einem Internationalen Frauentag, also an einem 8. März. Ich stand auf dem Berliner Alex und verteilte Postkarten. Schnell bildete sich eine Traube, wir kamen ins Gespräch. Die einen feixten, die anderen fragten und alle nickten.

Auf meiner Postkarte ist ein Paar zu sehen. Er, groß und stark, mit einem Six-Pack Bier in der Hand. Sie, klein und schmächtig, schleppt eine ganze Kiste Pils. Unter dem Bild steht: „Einer trage des anderen Last!“ Ein Bibel-Wort. Und der Titel eines DDR-Films, der in Ost und West preisgekrönt wurde. Es ging in ihm um Werte, wie Solidarität und Gerechtigkeit, in schwierigen politischen Zeiten und unter hoffnungsarmen persönlichen Bedingungen. Tuberkulose grassierte.

Ich habe das Motto weiter genutzt, als Angebot und als Provokation. Als Provokation gegenüber jenen, die Gott im Namen führen, ihn per Verfassung adeln wollen und zugleich Solidarität, Gerechtigkeit und Frieden klein reden. Auch bei Thomas Gottschalks großem Bibel-Quiz - 2004 - hatte ich gestichelt. Damals gab es landauf, landab Montags-Proteste gegen „Hartz IV“. Ich sagte in die Kamera: „Würde Jesus noch leben, er würde an der Spitze demonstrieren.“

Zugleich ist meine Postkarte ein Angebot, eine Einladung miteinander zu reden. Beamtinnen und Beamte der Polizei hatten mich zu einem Seminar eingeladen. Ich sollte zu ihnen und mit ihnen sprechen. Wir verstanden uns gut. Aber als ich ihnen zum Schluss meine Postkarte gab, da ging die Hölle los. Die Debatte kam zur Sache. Denn die Beamtinnen knöpften sich nun ihre Beamten vor. Urplötzlich waren wir inmitten der Männer-Welt. Die Frauen begehrten auf.

War das Alltag? Nein, es war ein Seminar. 1998 diskutierte ich in etlichen Kirchen-Gemeinden. Es waren politische Debatten rund um das gemeinsame „Sozialwort der Kirchen“. Es opponierte gegen die herrschenden Verhältnisse, es stellte die aktuelle Politik in Frage. „Erbarmen drängt auf Gerechtigkeit“, war ein Stichwort. „Nicht nur Armut, auch Reichtum muss ein Thema der politischen Debatte sein“, hieß ein anderes. Das finde ich immer noch.

Das „Sozialwort“ ist von der großen Bühne verschwunden. Böse Zungen meinen, es wurde aus der Debatte genommen, noch ehe es wirklich ausstrahlen konnte. Ich bedauere das. Denn die damals von den Kirchen beklagte Kluft zwischen Arm und Reich wird immer größer. Und die von der Politik feilgebotenen „alternativlosen Alternativen“, wie stereotyp behauptet wird, sind häufig pure Brandbeschleuniger. Demokratieverdruss greift um sich.

An den jüngsten Wahlen in Sachsen-Anhalt beteiligte sich gerade mal ein Drittel der Bevölkerung. Zwei Drittel winkte gelangweilt ab. Kein Vergleich mit der demokratischen Aufbruchstimmung zur „Runde-Tisch-Zeit“ am Ende der DDR. Längst überwiegt Resignation. Ein Experte gegen Rechtsextremismus sprach in einer aktuellen Debatte von einer offiziell praktizierten „Entwürdigung“. Würdelos. Ein Schlüsselwort, über das ich gern weiter diskutieren würde.

Demokratieverdruss ist übrigens kein Schnupfen, der nach sieben Tagen weicht. Demokratieverdruss wirkt, um im Bilde zu bleiben, eher wie Aids. Er schwächt das gesellschaftliche Immunsystem. Das wiederum ist ein Einfallstor für rechtsextremistische Kameraden mit ihren rassistischen Parolen. Sie sind längst wieder eine Gefahr für Leib und Leben. Dagegen hilft kein Aufstand der Anständigen mehr, wie 2000, dem alsbald die Zuständigen abhanden kommen.

Kirchen-Asyl ist dagegen ein mutiges Zeichen menschlicher Zivilcourage. Und natürlich kenne ich viele Projekte, in denen große Nächstenliebe jenen hilft, die ums einfache Leben ringen. Aber was hilft die wärmste Armenküche gegen eine Gesellschaft und eine Politik, die ihr immer mehr Bedürftige zutreibt? Obendrein ist Krieg. Immer öfter. Immer normaler. Die Bergpredigt wird kaum noch erhört. Und die große Friedensbewegung fastet resigniert.

Ich bin keine Kassandra und wie gesagt: Ich habe selber mehr Fragen als Antworten. Und warum sollten Menschen, die mehr Fragen haben, nicht auch in der Kirche nach Antworten suchen? Umgekehrt muss sich „die Kirche“ fragen, ob sie moderne Antworten gibt, allemal gegen den so genannten Mainstream? Ich habe in der DDR erlebt, wie Meinung gepresst wird. Und ich kenne inzwischen etliche Mechanismen, wie das in der BRD, viel subtiler, passiert.

Mein Fraktionsvorsitzender Gregor Gysi (DIE LINKE im Bundestag) hält die Religion und damit die Kirche(n) inzwischen für die einzig verbliebenen Bindeglieder, um die Gesellschaft auf menschlichen Kurs zu halten. Er hat sich in Interviews ähnlich geäußert. Diese Meinung teile ich ausdrücklich nicht. Denn selbst wenn ich glauben sollte, glaube ich nicht, dass letztlich der Glaube und die jeweilige Kirche eine gute Menschheit macht. Dazu bedarf es mehr.

Das mag mich von vielen Leserinnen und Lesern dieses Beitrages unterscheiden. Ich finde das auch spannend. Aber ich erinnere mich noch gut: Unmittelbar nach dem Zusammenbruch des osteuropäischen „Sozialismus“ frohlockte der damalige Sozialminister, Norbert Blüm (CDU): „Marx ist tot, Jesus lebt!“ Ich werde ihn bei der erstbesten Gelegenheit fragen, ob er das noch immer so absolut meint. Oder Heiner Geißler, aber der hat sich ja bereits anders geäußert.

Meine Beobachtung, und danach wurde ich ja gefragt, ist kritischer. Der Protestantismus entwickelte sich als Aufruhr gegen einen Absolutismus, erst religiös, dann politisch. Aktuell heißt der wirkliche Papst „Kapital“. Sein Ablasshandel bestimmt die Börse. Sein Götze ist der Dax. Und seine Prediger widerstreiten Gottes Wort, wonach man nicht den Menschen und dem Mammon zugleich dienen könne. Sie tun dies eifernd und durchaus erfolgreich.

Schon im ARD-ZDF-Morgenmagazin geht es los. Ist der Dax gefallen, dann heißt es: „Wir müssen Massen entlassen“. Ist er gestiegen, wird gewürdigt: „Wir haben erfolgreich entlassen!“ Massen, Menschen, Leben - entlassen! Derart Morgengebet findet seine Vollendung im wöchentlichen Abendgebet bei „Christiansen“, der öffentlich-rechtlichen Volkshochschule fürs Neoliberale. Ich mag Jesus wirklich gerne leben lassen, aber auch Karl Marx ist mitnichten tot.

Ich bin ein „Ost-Produkt“. Ich wurde schon in viele Schachteln gesteckt und eigenartig etikettiert. Geschenkt: Ich bin Petra Pau. Aber auch ich habe meine Erfahrungen, die mit der so genannten Wende zusammen hängen, also mit 1989/1990. Inzwischen weiß ich: Das sind Ein-Drittel-Erlebnisse. Denn das Gros des neuen Deutschland, die Bundesrepublik (alt), kennt sie bestenfalls aus dem Fernsehen. Das war so gewollt. Das ist ein Manko. Ich bedaure das sehr.

Viele „Wessis“, die inzwischen glauben, der „Osten“ sei lediglich ein gefräßig Klotz an ihrem Bein, haben so verdrängt, dass es schon damals zwei Millionen Arbeitslose und eine Staatsverschuldung von über einer Billionen D-Mark gab. Hausgemacht. Ich werfe es ihnen nicht vor. Die Vereinigung wurde ihnen so serviert, dass sie sich als kostenpflichtige Verlierer fühlen mussten. Im Gegenzug wurde der "Osten" völlig entwertet. Das war der Preis. Zu hoch!

Er ist deswegen zu hoch, weil der 40-jährigen territorialen und staatlichen Trennung nun eine innerliche folgte. Nicht immer, aber immer öfter. Ein Riss geht durchs Land und er hat zuweilen groteske Züge. Wussten Sie, dass ein zerfetztes Soldatenbein-Ost noch immer schlechter versichert wird, als ein zerschossenes Soldatenbein-West? Ich schreibe nicht nur über verpasste Chancen. Ich rede über fehlende Perspektiven. Sie sind gravierender.

Hinzu kommt eine neue Entwicklung. Der gesellschaftliche Zusammenhalt schwindet. Das hat strukturelle Ursachen. Dass die Reichen immer reicher und die Armen immer zahlreicher werden, ist bekannt. Zwischen beiden lag von jeher eine breite Mittelschicht. Sie verband die armen und reichen Gruppen miteinander, ob ihr das bewusst war oder nicht. Inzwischen bröckelt diese Mittlerschicht, wenige gelangen nach oben, viele fallen nach unten.

Etliche Politiker versuchen diesem Phänomen mit einem neuen Patriotismus zu begegnen. Und einem neuen Wir-Gefühl, das schnell in nationalistische Muster umschlagen kann. Großorganisationen, wie die Kirche, können besseren Halt bieten, auch Zusammenhalt. Aber gegen eine strukturelle Auflösung der Gesellschaft in widerstreitende Pole wird dies nicht reichen. Die soziale Frage stellt sich Anfang des 21. Jahrhunderts erneut und auf neue Weise.

Sicher gewähnte Errungenschaften, wie Wasser und Energie, werden zur Überlebensfrage. Das Klima rebelliert. Egoismen greifen um sich. Kultur und Kreativität werden entwertet. Gesundheit wird privatisiert und Leben patentiert. Bei alledem kann die Kirche Augen öffnen, Gefühle wecken, Engagement fördern, Stopps setzen und Wege weisen. Ich empfand das immer als ihre Stärke und Chance, als linke Politikerin, die sicher weiter grübeln wird, versprochen.
 

Aus: evangelische aspekte, Heft 2/2007
 

 

 

29.5.2007
www.petra-pau.de

 

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