Berlin, den 27. Dezember 2006
Lieber Erwin Geschonneck,
ich freue mich, dass die Akademie der Künste zu Deinem 100. Geburtstag
eingeladen hat. Noch mehr freue ich mich, dass dies nicht posthum
geschieht, sondern mit Dir. Dieser, Dein, 27. Dezember 2006 stand seit
Jahresanfang als Fix-Termin in meinem Kalender. Ich wollte heute
unbedingt dabei sein.
Nun denkst Du natürlich in anderen Zeitsprüngen als ich. Als ich geboren
wurde, kamen gerade zwei Filme mit Dir in die Kinos: Karbid und
Sauerampfer" und "Nackt unter Wölfen. Ich habe beide mehrfach gesehen.
Sie waren beide wichtig, für Generationen von DDR-Bürgern, auch für mich.
Ich könnte die Reihe der Filme jetzt durchgehen und zu etlichen etwas
sagen. Das will ich aber nicht. Ich rufe lediglich noch Matulla und
Busch auf, 1995 uraufgeführt. Das Drehbuch war Nach-Wende aktualisiert
worden und Du hast für mich im Film denselben hintersinnigen Schalk
verkörpert, wie so oft vorher.
Unsere erste persönliche Begegnung hatten wir 1990. Damals hatte die PDS
im Wahlkampf ein Zirkus-Zelt gemietet und Du hast geredet. So weit ich
mich erinnere, hast Du gemahnt: Kapitalismus ist Kapitalismus und
Klassenkampf ist Klassenkampf. Wir sollten daher nicht um den heißen
Brei herum reden.
Damals warst Du über 80 und nur wenige waren Dir an Lebenserfahrung
voraus. Und zwei Erfahrungen hattest Du ohnehin allen Deinen Kollegen in
der Alt-BRD voraus: Die DDR-Erfahrung und die Erfahrung der Wende-Zeit.
Viele Wessis sind stolz auf ihre Lücke und sie ahnen dabei gar nicht,
was sie verpasst haben.
Heiner Müller wiederum fasste seine Überlegungen in den prägnanten
Nachwende-Satz: Wir stecken jetzt knietief im Kapitalismus! Das war
kein Rück-Lob auf den Real-Sozialismus, sondern eher eine Kritik daran,
dass wir es nicht besser vermocht hatten, trotz aller Mühen, auch Deiner
und Deiner Filme.
Als ich Schindlers Liste sah, war ich beeindruckt. Der Film beschreibt
eine vergessene Geschichte im großen NS-Unrecht. Wie seinerzeit Nackt
unter Wölfen auch. Schindlers Liste wurde zu Recht hoch gelobt.
Nackt unter Wölfen ist mir im bundesdeutschen Programm leider nie mehr
begegnet.
Damit bin ich bei einem roten Faden, der sich durch Deine vielfältigen
Leben zieht: der Antifaschismus. Man kann sich über dieses oder jenes
streiten. Aber Antifaschismus ist ein menschlicher und leider auch hoch
aktueller roter Faden. Ich werde ihn weiter spinnen, lieber Erwin. Das
verspreche ich Dir.
Einer Deiner früheren DEFA-Märchen-Filme war Das kalte Herz. Seit wir
uns kennen, hatte ich immer das Gefühl: Du hast ein warmes. Und wenn ich
mir Dein Leben vorstelle, so war es ein Wechsel-Bad der Gefühle,
zwischen Tod und Leben, zwischen Erniedrigung und Anerkennung. Ich danke
Dir dafür.
Petra Pau
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