20 Jahre Berlin-Hellersdorf

Festakt 20 Jahre Hellersdorf
Ansprache von Petra Pau, Berlin 01. 06. 2006

1. 

Wenn ich es recht bedenke: Mein erster Aufschrei auf Erden galt diesem Bezirk. Das war im Kreißsaal. Den Bezirk Hellersdorf gab es damals noch nicht. Kaulsdorf und sein bekanntes Krankenhaus gehörten noch zu Lichtenberg. Inzwischen wurde Hellersdorf im Verbund mit Marzahn eine vielfältige Großstadt in der deutschen Hauptstadt, Berlin.

2. 

Meine zweite und dann anhaltende Begegnung mit Hellersdorf hatte ich 1989. Ich bekam eine Neubauwohnung. Sie war trocken und warm und das war wichtig für meine Gesundheit. Aber ich zog auch mit Wehmut aus Prenzlauer Berg fort. Zumal: „Einkaufen in Hellersdorf“ hieß damals in meinem Wohngebiet noch: Behelfsverkauf in einer Turnhalle.

3. 

Im selben Jahr war ich übrigens in Ungarn. Viele DDR-Bürger waren dort. Etliche nutzten Ungarn als neues Transitland gen West. Ich wollte mich erholen, ich war in Budapest und am Balaton. Es war ein heißer Sommer. Wir mussten das Wasser im Plattensee weit draußen suchen. Aber es war auch ein politisch bewegter Sommer und ein heißer Herbst.

4. 

Von da an raste die Zeit. Wenn heute lapidar von „Wende“ gesprochen wird, dann vermag dies kaum zu beschreiben, wie damals die Post abging. Auch in Hellersdorf. Ich hatte seinerzeit meine eigene Arbeitsstelle abgewickelt, die Pionier-Organisation. Und in der Freizeit bauten wir hinter unserem Wohnblock einen Spielplatz für die vielen Kinder.

5. 

Plötzlich klingelte es an meiner Wohnungstür. Davor stand ein junger Mann. „Uwe Klett“, stellte er sich vor. Dann saß er auf meiner Couch. Ich hätte doch etwas mit Bildung zu tun, sagte er, und so eine brauche die PDS in Hellersdorf. Demnächst seien Wahlen zur BVV und wenn ich jetzt „Ja“ sage, dann könnten wir gleich in den Wahlkampf einsteigen.

6. 

Ich dachte nach und sagte Ja. So wurde ich Bezirksverordnete. Das war der Beginn meiner parlamentarischen Laufbahn. Die erste Herausforderung im Bunde mit SPD- und CDU-Verordneten hieß übrigens: Welche politischen Straßennamen aus DDR-Zeiten schaffen wir ab und welche stehen auch dem größeren Deutschland gut zu Gesicht.

7. 

Inzwischen haben wir andere Probleme, auch in Hellersdorf. Wobei ich mich freue, dass in Hellersdorf das Thema Straßennamen nicht völlig vom Tisch ist. Wir haben vor Jahresfrist dem Architekten Heinz Graffunder einen Park gewidmet. Und wir haben vor Wochen einen Platz nach dem Wissenschaftler Victor Klemperer benannt. Auch das ist gut.

8. 

Und ich bin froh, dass der Berliner Senat Anfang der 90er Jahre so klug war, die so genannte Platte nicht als sozialistische Altlast abzuschreiben und platt zu machen. Ich wohne immer noch sanierte Platte, 2 ½ Zimmer, 5. Stock. Auch, wenn manchmal gestreut wird, ich hätte längst eine Villa im Grunewald. Nein, Hellersdorf ist mein Hellersdorf, meine Heimat.

9. 

Damit sind es aber auch die Probleme in Hellersdorf, die es vor 20 Jahren so nicht gab und die mich umtreiben. Wir haben im Bezirk das engagierte Projekt „Arche“ und nicht nur das ist inzwischen für viele Arme überlebenswichtig, zunehmend für sozial benachteiligte Kinder. Diese gesellschaftlichen Schatten dürfen wir zum Jubiläum nicht ausblenden.

10. 

Ein paar Etagen unter mir lebt eine Frau. Sie ist arbeitslos und krank, obwohl im besten Alter. Zu weilen hilft sie mir, meine Balkon-Pflanzen zu gießen, wenn ich auswärts bin. Und zu weilen helfe ich ihr, wenn sie der Lebensmut verlässt. Wir brauchen uns und wir mögen uns. Oder wie mein Wahlkampfmotto hieß: „Einer trage des anderen Last.“

11. 

Ich erzähle die Geschichte auch aus einem aktuellen Anlass. Die Frau, von der ich spreche, soll sich eine neue Wohnung suchen. Ihre Miete liegt wenige Euro über dem, was ihr durch die Bundespolitik als Arbeitslose zugestanden wird. Sie gilt als Schmarotzer. Ich werde im Fall der Fälle ihren Balkon mieten, damit sie Mensch und dort wohnen bleiben kann.

12. 

Mit meinem ersten Schrei begann ich. Mit einem Beispiel schließe ich. Vorige Woche war ich zweimal bei „Babel e.V.“. Einmal nach dem Nazi-Anschlag gegen das multikulturelle Projekt. Das zweite Mal, als die Babel-Leute mit einem bunten Trommel-Fest sagten: Wir lassen uns nicht einschüchtern, wir machen weiter. Das ist das Hellersdorf, das ich mag.
 

 

 

1.6.2006
www.petra-pau.de

 

Seitenanfang

 

 

Lesbares

 

Startseite