Die Mitte der Gesellschaft

„Rechter Rand - Rechtsextremismus nach der Wahl“
Workshop der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin, 26. 11. 2005
Impulsbeitrag von Petra Pau (MdB, stellv. Vorsitzende der Linksfraktion)

1. 

Wahlen und Rechtsextreme
 
Ich beginne mit einem Blick zurück: 2004 hatten wir Landtagswahlen. Dabei feierten rechte und rechtsextreme Parteien in Sachsen und in Brandenburg Wahlerfolge. Im Sächsischen Landtag wurde die NPD - fast 2-stellig - auf „Augenhöhe“ mit der SPD gewählt.
Diesem parlamentarischen Höhenflug der NPD 2004 folgte zu den Bundestagswahlen 2005 die Bruchlandung. Das haben wir natürlich begrüßt. Doch Vorsicht: Das gilt nämlich nur im großen Draufblick. Sobald man sich bestimmte ländliche Regionen oder auch Kieze in Berlin genauer anguckt, wird deutlich: Die NPD hat ihre Position ausgebaut. Ihre Strategie trägt braune Früchte. Es gibt keinen Grund zur Entwarnung.
 
Ob das Wahl-Bündnis zwischen NPD und DVU hält und ob die außerparlamentarischen Cliquen der NPD mit neofaschistischen Kameradschaften von Bestand sind, das weiß ich natürlich nicht. Aber, so meine These: Das ist auch nicht von Belang, jedenfalls nicht vorrangig. Die entscheidende Frage ist, wie viel Zuspruch sie aus der Mitte der Gesellschaft erhalten. Denn dort lauert die eigentliche Gefahr. Die Wahlergebnisse sind dafür nur ein Indiz, aber kein unwichtiges. Denn es signalisiert, wie viele Bürgerinnen und Bürger sich bewusst für rechtsextremistische Ansätze entscheiden und das richtig finden.

2. 

Statistische Zusammenhänge
 
Ich bleibe beim Beispiel Berlin und bei den NPD-Ergebnissen zur Bundestagswahl. Stadtweit erzielte sie 1,6 Prozent aller Zweitstimmen. Das könnte man unter „normal“ abbuchen und vernachlässigen.
Aber schaut man auf ausgewählte Kieze, dann wird es ernst. So erzielte die NPD im Wahlbezirk 405 in Oberschöneweide 11,4 Prozent und im Wahlbezirk 119 in Marzahn Nord 10,1 Prozent der Zweitstimmen. In beiden Wohngebieten sind die rechten Kameraden auch im Alltag präsent.
Und sie verfügen über eine Infrastruktur, die sie ausbauen. Dazu gehören Läden und Kneipen, die sie selbst betreiben, oder Clubs, die sie dominieren. Die Wahlergebnisse sind also kein virtueller Zufall.
 
Berlins Innensenator, Erhard Körting (SPD), schätzt ein: „Überall dort, wo Rechte im täglichen Leben auftauchen, gelingt es ihnen auch, Bürger zu bewegen, rechtsradikal zu wählen.“ (Morgenpost, 23. 09. 2005)
Und Körtings Leute (LfVS) machen eine weitere Rechnung auf. Demnach gibt es einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen den Wohn- bzw. Aufenthaltsorten rechter Kameraden, dem Wahlergebnis für die NPD und der Zahl rechtsextremistisch motivierter Straftaten.

3. 

Keine Einzeltäter
 
Das wiederum deutet auf eine neue Qualität hin: de facto, aber auch in der politischen Einschätzung. Vielleicht erinnern sie sich noch an den „Fall Diesner“. Der Berliner Neonazi machte 1997 Schlagzeilen.
„Aus Hass gegen die PDS“, wie er sagte, schoss er in der Marzahner Geschäftsstelle blindwütig auf Klaus Baltruschat. Tage später erschoss Diesner auf der Flucht durch Schleswig-Holstein einen Polizisten.
Er wurde in Lübeck zu lebenslanger Haft verurteilt, als Einzeltäter. Auch der damalige Berliner Innensenator, Schönbohm (CDU), wollte weder Strukturen, noch Zusammenhänge sehen.
Insofern bin ich froh, dass der aktuelle Berliner Innensenator eine andere, eine komplexere Sicht hat. Eine Zeitung nannte Körting (SPD) mal den „Schily der Hauptstadt“. Gründlicher daneben geht es kaum.

4. 

Sozialer Zündstoff
 
Im Sozialstruktur-Atlas Berlins wird Marzahn-Nord als Gebiet mit überproportional vielen sozialen Problemen ausgewiesen (viele Sozialhilfeempfänger, hohe Arbeitslosigkeit, mangelnder soziale Bindungen, fehlende Perspektiven).
Ober- Schöneweide rangiert im Sozialatlas ebenfalls auf einem hinteren Platz. Auch dort trifft die Übereinstimmung zwischen sozialen Schieflagen, Nazi-Präsenz, rechtsextremen Straftaten und Wahlerfolgen der NPD zu. Ähnliches gilt für weitere Berliner Kieze.
Das deutet auf Zusammenhänge hin und das könnten Ansatzpunkte für die Politik bieten. Mit Politik meine ich ausdrücklich einen Dreiklang von Bundes-, Landes- und Kommunalpolitik einerseits und zugleich das politische Engagement der Zivilgesellschaft.

5. 

Gegen Kurzschlüsse
 
Aber ich warne zugleich vor einfachen Schlüssen nach dem Muster: Je ärmer und dümmer, desto rechter. Das ist falsch. Ich kenne auch keine ernsthafte Analyse, die so etwas belegt. Nahe liegend ist allerdings: fehlende soziale Bindungen sind Einfallstore für Nazi-Cliquen.
Und soziale Bindungen schwinden überall. Es gibt Untersuchungen die besagen: Je größer die allgemeine Verunsicherung und die empfundene Perspektivlosigkeit ist, umso größer wird der Nährboden für simple Parolen und damit auch für rechtsextreme Lösungen.
Die allgemeine Verunsicherung und schwindende Perspektiven sind aber kein Privileg von Randgruppen. Sie haben längst die Mitte der Gesellschaft ergriffen, selbst qualifizierte Experten in modernen Branchen.
 
Das wiederum führt zu einer weiteren Überlegung. Diese allgemeine Verunsicherung und die fehlenden Perspektiven verschwinden nicht, indem man rechtsextreme Parteien verbietet. Verbote gehen nicht an die Wurzel, wie gern behauptet wird, sie sind auch nicht radikal. Die Wurzeln für rechtsextreme Auf- und Auswüchse sind vielfältiger. Anders gesagt: So lange der Rechtsextremismus vor- und überwiegend als Problem klassischer Innenpolitik verhandelt wird, so lange führen wir lediglich Ersatz- und Schein-Debatten.

6. 

Rechtsextremer Alltag
 
Nun zum Bundestag: Ich habe in den letzten drei Jahren keine einzige ernsthafte Debatte über den Rechtsextremismus erlebt und wie ihm zu wehren sei, jedenfalls nicht im Plenum. Dabei gäbe es Gründe genug. Aber wir zwei PDS-Frauen hatten kein Recht, sie zu fordern.
Gleichwohl habe ich eine Standardfrage der PDS fortgeführt. Ich wollte Monat für Monat wissen, wie viele rechtsextremistische Straf- und Gewalttaten das Innenministerium registriert hat. Über den tatsächlichen Wert der Antworten können wir uns gern noch unterhalten.
Aber allein die offiziell zugegebenen Zahlen besagen: Stündlich gibt es bundesweit mindestens eine rechtsextreme Straftat und täglich gibt es zwei bis drei registrierte Gewalttaten. Und natürlich mindestens ebenso viele Opfer. Das ist bundesdeutscher Alltag, in Ost und West.
 
Umso unverständlicher ist die Ruhe im Bundestag. Sie wird bestenfalls unterbrochen, wenn spektakuläre Ereignisse das deutsche Ansehen im Ausland gefährden. Wie 1999, als in Düsseldorf ein Attentat auf jüdische Aussiedler publik wurde. Danach gab es einen groß inszenierten „Aufstand der Anständigen“. Er war wichtig, aber er ist längst verebbt. Und er erschöpfte sich ohnehin im Symbolischen und im Moralischen. Mögliche Wurzeln oder Quellen für rechtsextremistische Anfälligkeiten wurden auch damals nicht aufgedeckt.

7. 

Maßstäbe gegen Rechts
 
Rot-Grün hat inzwischen ausgedient. Seit Dienstag regiert eine große Koalition der Unions-Parteien mit der SPD. Das finden wir natürlich nicht gut. Aber das ist nicht entscheidend. Mein Prüffeld ist der Koalitions-Vertrag. Und meine Thesen im Kampf gegen Rechtsextremismus sind:
Wir brauchen mehr soziale Sicherheit, Gerechtigkeit und Solidarität.
Wir brauchen mehr Demokratie, Mitbestimmung, Zivilgesellschaft.
Wir brauchen mehr Politik, in Deutschland, in Europa und weltweit.
Daran gemessen verheißt der Koalitionsvertrag nichts Gutes.
 
Nun können Sie, nun könnt Ihr sagen: Das wissen wir doch. Der Normal-Bürger kommentiert anders. Er fragt schlicht: Was ist euer Angebot. Er will überzeugende Alternativen. Eine linke Partei, eine linke Fraktion als Protest-Lautsprecher ist ihm auf Dauer zu wenig.
Die Protest-Kopie findet er nämlich ebenso am rechten Rand. Das haben die letzten Wahlkämpfe gezeigt, bis hin zu Slogans wie „Hartz IV - weg damit!“ Die wirklichen und entscheidenden Unterschiede liegen in den Antworten auf die gesellschaftlichen Herausforderungen und Konflikte.

8. 

Politik stärken
 
Und deshalb will ich gerne in der Wunde bohren. Die Linkspartei.PDS hat nach wie vor ein ungeklärtes Verhältnis zu internationalen politischen Institutionen. Das betrifft die EU ebenso, wie die UNO. Wir wissen gut, was wir an ihnen zu Recht kritisieren und wir tun dies gern. Aber wir vermögen bislang nicht, verständliche Alternativen zu vermitteln.
Damit bieten wir aber den Rechtsextremen einen Freiraum, den sie mit nationalistischen Parolen füllen. Dass es die viel bemühte Globalisierung des Kapitals geben wird, das wissen wir spätestens seit Karl Marx. Dass der real-existierende Sozialismus darauf keine adäquate Antwort war, das wissen wir spätestens seit 1989/90.
 
Ich habe die große Lösung nicht parat. Aber ich wiederhole: Anti allein reicht nicht aus. Auch Anti-Faschismus braucht ein Pro, ein Für - nicht nur als stramme Losung, sondern als humanistische und zugleich ergreifende soziale Idee, als Erlösung gegen den braunen Geist.

9. 

Gefährliche Leitkultur
 
Gestern wollte ich zur evangelischen Akademie in Loccum. Das Thema hieß: „Wie viel Pluralität ist möglich und wie viel Homogenität ist nötig?“ Wir wollten über Migration und Integration, über Leitkultur und Multikulti diskutieren. Aber der der Wintereinbruch und das Verkehrschaos ließen mich nicht nach Niedersachsen kommen. Aber das Thema hat etwas mit dem zu tun, das wir hier bearbeiten.
 
In Berlin leben Menschen aus 158 Nationen. Sie sind Berlinerinnen und Berliner. Berlin ist multikulturell, im Alltag und nicht nur beim Karneval der Kulturen. Das ist so, und das ist gut so, aber das ist nie problemlos.
Der Berliner Senat hat ein Integrations-Konzept vorgelegt, das nun im Parlament beraten wird. Es unterscheidet sich gründlich vom Ausgrenzungs-Votum der großen, christlichen Bundes-Koalition. Meine zugespitzte These ist: Sobald sich der erste Minister im Bundestag mit der Gottes-Formel vereidigen lässt - „so wahr mir Allah hilft“ - sind wir weiter. Was nichts daran ändert: Ich finde jeden Gottes-Eid falsch, überflüssig, unpolitisch.
 
Aber es gibt inzwischen den zweiten Aufguss der Debatte über eine vermeintlich deutsche Leitkultur. Was das ist, hat noch niemand schlüssig erklärt. Zumeist münden die Erklärungen bei Gott und bei preußischen Pflichttugenden. Das ist zu wenig und obendrein demokratie-gefährdend.
Ich will hier nur andeuten: Die so genannte Leitkultur bietet - gewollt oder ungewollt - ein Einstiegstor in den völkischen Nationalismus, der wiederum ein Fixpunkt rechtsextremer Ideologie ist. Politisch tritt der völkische Nationalismus als Rassismus, Antisemitismus und in ähnlichen Formen auf. Er richtet sich gegen die Universalität der Menschenrechte und widerspricht auch Artikel 1 Grundgesetz.
 
Zitat: „Völker sind die Träger der Kulturen, Völker unterscheiden sich durch Sprache, Herkunft, geschichtliche Erfahrung, Religion, Wertvorstellungen und ihr Bewusstsein... Die Erhaltung der Völker dient der Erhaltung der Kultur. Bloße Gesellschaften entwickeln keine Kultur.“
Das Zitat stammt aus dem NPD-Programm von 1966. Wir finden ähnliche Diskurse aber auch bei Verfechtern der Leitkultur, vornehmlich bei der CDU/CSU. Der Rechtsextremismus findet seine Stichworte in der Mitte der Gesellschaft. Er greift sie auf, er radikalisiert sie, exerziert sie. Deshalb bleibe ich bei meiner alten These: Wer den rechten Rand bekämpfen will, muss um die Mitte der Gesellschaft kämpfen.

10. 

Roland Bach
 
Zum Schluss noch ein paar Gedanken, die mir nicht minder am Herzen liegen. Übrigens ein eigenartiges Bild, wie mir beim Schreiben auffiel. Denn Gedanken funken in aller Regel durchs Hirn. Aber ich bleibe auch mit dem Herzen dabei. Es geht um Roland Bach.
Ich kenne ihn seit Jahren und ich habe ihn als sachlichen und zugleich engagierten Ratgeber schätzen gelernt. Am 10. Juni diesen Jahres feierte er seinen 75. Geburtstag. Der Vorsitzende der Linkspartei.PDS, Lothar Bisky, und viele Mitstreiterinnen und Mitstreiter haben ihm gratuliert. Ich will Dir, lieber Roland, heute danken.
 
Du gehörst zu denen, die das antifaschistische Profil der PDS von Anfang an geschärft haben, die mit wissenschaftlicher Gründlichkeit analysiert haben, die sich politisch engagiert haben. Damit hast Du vielen - auch mir - sehr geholfen. Und weil das so nach Rückblick klingt füge ich schnell an: Ich setzte natürlich weiterhin auf Dich und auf Deine Erfahrungen.
Du warst immer dabei und vornweg, wenn es gegen Faschismus, Rassismus und Antisemitismus ging. Antifaschismus ist für Dich ein Grundwert, aus bestem Wissen und Gewissen. Du bist ein agiler Widerspruch gegen das abfällige Geschwätz vom verordneten Antifaschismus. Und Du bist zugleich ein kritischer Mahner, wenn all zu einfache Antworten die Runde machen.
 
Seit Anfang der 90er Jahre arbeitet Roland Bach in der Bundes- AG Rechtsextremismus / Antifaschismus der PDS bzw. Linkspartei.PDS mit, langjährig als Mitglied des Sprecherrates der Arbeitsgemeinschaft. Er war zugleich ihr Repräsentant im Parteirat - ein Ehrenamt, das nicht immer vergnügungsteuerpflichtig ist.
Und auch das muss erwähnt und gewürdigt werden: Du hast stets Kontakt zu linken Jugendorganisationen gesucht und gefunden. Das war wichtig und das bleibt es auch. Du wirst gleich selbst in unsere Debatte eingreifen, sie beleben und bereichern. So kennen wir dich und darauf freue ich mich.
 

 

 

26.11.2005
www.petra-pau.de

 

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