„Hundert Jahre und Zukunft“

Festrede zum Festakt 100 Jahre „Mildred-Harnack-Oberschule“ in Berlin-Lichtenberg am 28. April 2005

Vor kurzem traf ich eine gute Bekannte aus Lichtenberg. Sie begrüßte mich freudig: „Schön, das Du auch zum Geburtstag der ‚Dicken Berta' kommst!“ Ich verstand Nix. Wer ist Berta, warum ist sie dick und was soll ich bei Ihr? Inzwischen bin ich schlauer und heute hier. Meine Schule, die ehemals 8. Oberschule in der Pfarrstr., später die Mildred-Harnack-Oberschule in der Schulze-Boysen-Str., wird also respektlos, liebevoll „Dicke Berta“ genannt.

Als ich im Jahr 1969 eingeschult wurde, kam ich in ein riesiges, graues, ehrfürchtiges Gebäude. Der Klassenraum meiner 1A, mit Frau Schaller, lag im Erdgeschoß, links, ganz hinten, vor dem Aufenthaltsraum der Horterzieherinnen. Bevor ich dort ankam, hatte ich die ersten Abenteuer schon bestanden. Da die Schul-Klingel punkt 8.00 Uhr zum Lernen rief, schickte mich meine Mutter stets gegen 7.15 Uhr aus der Türrschmidtstr. am Nöldnerplatz los.

Tuchollaplatz mit Konsum, Kaskelstr. mit meinem ersten Schulfreund, Schwarzer Weg und vor allem die Pfarrstr. boten viele Entdeckungen. Hinter der Bahnbrücke lauerten kleine Häuser mit Höfen, Scheunen und Ställen. Und so waren Kätzchen und anderes Getier manchmal viel wichtiger als das Schulziel.

Meine Klasse war übrigens bunt gemischt. Es mangelte nicht an Typen, Strebern und Spinnern. Zugleich hausten die meisten wie ich im Altbau mit Ofenheizung, ohne Bad und mit einer Außentoilette, die von 6 Familien genutzt wurde. Ich bin in der DDR aufgewachsen, meine Schulzeit hatte viel mit den 70er Jahren zu tun.

Und so traf ich auf dem Schulweg sehr bald nicht mehr Kühe und Pferde, sondern Bagger und Bauarbeiter. Das Wohnungsproblem der DDR-Bürger sollte mit einem großen Bauprogramm gelöst werden. So wuchs auch das Neubaugebiet Frankfurter Allee Süd. „Platte“, hieß es erst später. Unsere Klassen wurden größer. Die Schule platzte aus allen Nähten. Es gab sogar Schichtunterricht. Und noch etwas änderte sich. Plötzlich sprach die Mehrzahl meiner Mitschülerinnen und Mitschüler ausländisch - sächsisch.

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Schule war zu meiner Zeit immer mehr als Unterricht. Es gab Freizeit-Angebote, es gab die Pionierorganisation. Da war immer auch Politik im Bunde, Ideologie, Bekenntnisse, aber auch viel Spaß und Spiel. Die Älteren werden sich erinnern: Wir hatten 10 Gebote, denen wir folgen sollten. Sie fielen mir wieder ein als ich neulich bei Gottschalks großem Bibeltest war. Und ich erinnere mich an Lehrerinnen und Lehrer, die sich um uns mühten: Christa Sallmann zum Beispiel. Sie versuchte mir unentwegt Turnen am Stufenbarren und Klettern an Stangen beizubringen. Viel Erfolg hatte sie nicht. Auf meinem Abschluss-Zeugnis stand bei Sport eine mäßige 3. Zugleich wurde ich Berliner Schüler-Meisterin im Tennis. Aber Christa Sallmann nahm mir im Turn-Unterricht die Angst vor Böcken und anderen Hindernissen.

Ich denke an Frau Fox und Frau Hackbarth, meine Klassenleiterinnen in der Mittel- und Oberstufe, und an Hannelore, unsere Pionierleiterin. Sie alle haben mich geprägt und sicher Mitschuld an meinem späteren Berufswunsch. Unvergessen Herr Witzel: Er kam damals als frischer Absolvent, er unterrichtete Physik und er weckte damals bei uns Mädchen ungeahntes Interesse an diesem Jungens-Fach, auch bei mir.

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Eine Geschichte für sich war die Namensgebung der Schule. Thälmann-Schulen gab es überall, auch Geschwister-Scholl-Schulen, aber Mildred Harnack? Wir sollten forschen und wir entdeckten: Es gab nicht nur deutschen, nicht nur sowjetischen und nicht nur kommunistischen Widerstand gegen die Nazis. Mildred Harnack war US-Bürgerin. Mit dieser Entdeckung und mit diesem Namen fühlten wir uns durchaus als etwas Besonderes. Mancher politischer und historischer Widerspruch, der damit zusammenhing, löste sich erst viel später auf, jedenfalls für mich. Umso interessierter erfuhr ich, dass es auch nach 1990 etliche Kontroversen zur Namenspatronin, zu Mildred Harnack, gab, nun allerdings mit anderen Vorzeichen.

Ich habe gelernt: Man soll kein antifaschistisches Engagement gering schätzen. Es gab ohnehin zuwenig. Und wenn ich zwei aktuelle Zahlen einfügen darf: Im aktuellen Bundesschnitt werden stündlich eine rechtsextreme Straftat und täglich 2 ˝ Gewalttaten registriert. Die Zahlen stapeln tief und wer zählt die Opfer?

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Natürlich sind Rückblicke, sind Erinnerungen immer sehr persönlich, häufig auch verklärt. Aber manches holt uns auch wieder ein, im neuen Gewand. Ich hatte parallel zu meiner Schulzeit Religions-Unterricht. Gott sei Dank. Das half mir übrigens auch später, bei meinem Studium zur Lehrerin für Kunsterziehung- und Kunstgeschichte. Ohne Religionskunde hätte ich da oft so unwissend aus der Wäsche geguckt, wie viele meiner Kommilitonen.

Ich bin kein Kind der Kirche geworden, ich hatte eine schöne Jugendweihe. Aber ich habe zugleich Dinge erfahren, die es im Staatsbürgerkunde-Unterricht nicht gab. Das hilft mir noch heute, wenn es um unterschiedliche Sichten, Erfahrungen, Kulturen geht. Die DDR-Schule war zu eng. Gerade deshalb kann ich dem aktuellen und zum Teil verbissenen Berliner Streit wenig abgewinnen. Wir leben in einer spannenden, multikulturellen Stadt. Ein Unterrichtsfach, das Einblicke in die verschiedenen Religionen und Kulturen gibt, kann doch nur helfen. Es geht um Bildung und nicht um Kirchen-Kampf.

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Wenn das Ossi sich ärgert oder freut - die anwesenden Wessis kennen das sicher - dann heißt es häufig: „Es war nicht alles schlecht“. Ich sage: Stimmt! Und damit meine ich auch meine Schul-Zeit. Damals war es üblich, dass wir zehn Jahre lang gemeinsam lernten. Später hat Finnland die Idee übernommen und heute reisen deutsche Politiker im PISA-Schock zu Hauff dorthin, um zu lernen, wie es besser gehen könnte.

So ist Geschichte. Sie verrennt sich, sie nimmt Umwege, sie läuft Irrwege. Für diesen Satz hätte ich im Fach Deutsch vielleicht eine „1“ bekommen, zumindest für den Ausdruck. Vielleicht wäre es aber auch ein Tadel geworden. Denn damals gab es offiziell kein Verlaufen, kein Vertun, wie es neudeutsch heißt. Dabei weiß ein deutscher Klassiker: „Irren ist menschlich!“ Und ein großer Linker hat sogar gemahnt: „An allem ist zu zweifeln!“ Das wurde zu meiner Schulzeit nur bedingt gelehrt. Inzwischen sind wir klüger, manchmal, zuweilen.

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Als ich vor über 30 Jahren mit meiner Schultüte und meinem Ranzen hier her kam, da war ich natürlich stolz und voller Erwartungen. Nur meine kleine Schwester quängelte. Sie wollte unbedingt auch eine Schultüte haben. Sie ließ nicht locker und sie krakeelte so lange, bis meine Eltern nachgaben. Zwischen dieser Einschulung und meiner aktuellen Arbeit im Bundestag liegen hunderte Geschichten, gute und schlechte. Mit einer schließe ich. 1990 - während der so genannten Wende - wurde ich gefragt: „Petra, machst du mit, wir suchen junge Leute für die Bezirksverordneten-Versammlung.“

Ich habe überlegt und Ja gesagt. Aus einem simplen Grund: Ich wollte mich nicht verwalten lassen, ich wollte mitgestalten. Ich wollte es wenigstens versuchen. Meine Kinder- und Lehrzeit hier, an der Mildred-Harnack-Schule, hat mir bei diesem Entschluss gewiss geholfen. Sie hat mich nicht vor Fehlern gefeit, nicht vor Irrtümern, nicht vor Dummheiten. Aber ich habe hier zwei Dinge gelernt: Mische dich ein und sei solidarisch. Mir fällt nichts Besseres ein, was ich über eine Schule sagen könnte. Und mir fällt nichts Besseres ein, was ich Schülerinnen und Schülern, Lehrerinnen und Lehrern, heute empfehlen kann. Deshalb sage ich gern: Danke.
 

 

 

28.4.2005
www.petra-pau.de

 

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