Alljährlich wird das Unwort des Jahres gekürt. Das finde ich gut, auch
wenn ich die Auswahl nicht immer beklatsche. Aber das ist
nebensächlich. Allein, dass über verschleiernden Sprachmist diskutiert
wird, ist gut. Zu viele Begriffe vernebeln das Wesentliche.
Zum Beispiel die Riester-Rente. Als Wort wurde sie nicht
preisgekrönt, aber auf Regierungs-Seiten wird sie als solidarisches
Meisterwerk gepriesen. Ich bevorzuge ein anderes Bild: Stellen Sie
sich vor, ein Gauner raubt Ihnen die Tasche und bietet Ihnen hernach
eine Diebstahl-Versicherung an, staatlich gefördert. Das ist das
Prinzip Riester-Rente.
Zwischen den Jahren, wie es westdeutsch heißt, also zwischen
Weihnachten und Neujahr, brachte die Süddeutsche Zeitung ein Interview
mit dem Kanzler. Er habe nicht den Ehrgeiz, ein zweiter Bismarck zu
werden, ließ sich Gerhard Schröder zitieren. Das glaube ich gern. Denn
mit Bismarck wurden Solidarsysteme eingeführt. Rot-Grün schafft sie
ab.
Das neue Zauberwort heißt Rürup-Kommission. Auch sie soll sich der
sozialen Frage widmen, heißt es, und zukunftsträchtige Reformen
vorschlagen. Für wahr ein ernstes, ein überfälliges Problem. Denn wir
leben nicht mehr zu Bismarcks Zeiten. Die Arbeitswelt hat sich in den
über hundert Jahren seither grundlegend geändert, und nicht nur sie.
Besonders forsch und fix sind derzeit die Grünen. Gern bezeichnen sie
sich selbst als Reform-Motor der Bundesregierung. Was zuweilen Blüten
treibt. Die Empfehlungen der Kommission sind eins-zu-eins
umzusetzen, riefen ihre Sprecher in die Mikrofone. Da waren die
Rürups noch nicht mal berufen.
Gleichwohl: Es knirscht im Gebälk, auch im Gesundheitssystem. Ärzte,
Kassen, Krankenhäuser, Apotheken, Pharma-Konzerne, Politiker/innen,
sie alle schieben sich den schwarzen Peter zu und hinterlassen
besorgte Fragen, vor allem bei den eigentlich Betroffenen. Das Thema
ist also gesetzt, stärker denn je.
Und es wird die politischen Auseinandersetzungen der kommenden Monate
prägen. Deshalb war auch die November-Idee des neuen PDS-Vorstandes
gold-richtig: Wir bilden mit anerkannten Experten eine alternative
Rürup-Kommission. Eine, die das Solidarprinzip hoch hält, aus dieser
Sicht moderne Konzepte entwickelt und so die öffentliche Debatte
belebt.
In der Dezembersitzung wurde das Vorstandsprojekt erneut aufgerufen
und vertagt. Wiedervorlage wahrscheinlich im Januar oder später.
Derweil hat das Bundeskanzleramt medial-beachtete Thesen vorgelegt.
Auch die Grünen provozieren mit eigenen Vorschlägen, die Verbände, die
Stände, alle machen von sich reden.
Auch Mitglieder der Rürup-Kommission lancierten erste Vorschläge.
Etwa eine jährliche Selbstbeteiligung an den Arzt-Kosten. Oder, dass
die Kassen künftig nicht mehr für Zahnersatzleistungen aufkommen
könnten. Zudem will Gesundheitsministerin Schmidt - laut SPD-internem
Zeitplan - ihre so genannte Reform bereits bis Ende Mai diesen Jahres
im Bundestag vollbracht haben.
Einhundert Tage sollte ein neuer Vorstand Zeit haben, las ich in
einem PDS-Interview. Ja, das ist Usus. Wir beide im Bundestag hatten
sie nicht. Gut Ding will Weile haben, meint der Volksmund. Sind wir
bis Jahresende nicht im politischen Geschäft, dann sind wir raus. So
soll Hans Modrow in Vorstandskreisen gemahnt haben. Das war im
November, nach Gera.
2004 finden die nächsten für die PDS relevanten Landtagswahlen statt.
Auch das EU-Parlament wird neu gekürt. Möglicherweise sogar einige
Monate früher, als bislang angenommen wurde. Das ist planbar und wurde
im Vorstand auch in eine entsprechende Zeitleiste gegossen. Die
innerparteiliche Logik stimmt. Bis Herbst 2003 soll die
PDS-Programmdebatte zu einem guten Ende geführt werden. Dann folgt der
Europa-Wahlkampf.
Bis dahin aber haben andere Parteien die EU-Themen besetzt, oder sie
interessieren ohnehin niemanden. Lauscht man ins Land, dann haben
EU-Themen nicht gerade Konjunktur. Aber es bewegt sich was, in
Westeuropa. Stichworte sind die Osterweiterung, der Konvent oder die
zunehmende Militarisierung der Außen- und Sicherheitspolitik. Ohnehin
werden schon heute rund 80 Prozent aller politischen Entscheidungen,
die sich auch hierzulande auswirken, auf EU-Ebene gefällt.
Anfang Januar befasste sich die Bundesarbeitsgemeinschaft der PDS
Bürgerrechte und Demokratie mit dem EU-Konvent, also der künftigen
Verfassung der europäischen Gemeinschaft. Die PDS-Position ist klar,
das wussten wir vordem: Wir fordern seit längerem eine Volksabstimmung
über das Konventergebnis, EU-weit. So weit, so demokratisch. Doch was
empfehlen wir inhaltlich?
Was weiß die Öffentlichkeit überhaupt vom Verhältnis PDS und EU? Und
was weiß die PDS davon? So ward eine Idee geboren: Warum nicht im Juni
einen Parteitag durchführen, der entsprechende Leitlinien diskutiert
und beschließt. Wir hielten dies allemal für spannender und
politischer als Wachbuch-Kontroversen und ähnliches Ungemach, das
derzeit PDS-Schlagzeilen setzt. Daraus wurde ein Vorschlag an den
Parteivorstand.
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