Die rechte Gefahr ist viel größer

Rede von Petra Pau auf der Hauptversammlung der LINKEN Marzahn-Hellersdorf am 3. November 2019

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Am 9. Oktober hat ein Rechtsextremist in Halle/Sa. versucht, Jüdinnen und Juden in einer Synagoge in die Luft zu sprengen.
Hernach waren alle Sender auf Sendung, wie immer, wenn dergleichen geschieht, und rechtsextreme Attentate gibt es immer häufiger.
Doch, es gab einen Unterschied. Bundesinnenminister Seehofer räumte erstmals ein, dass es hierzulande eine gefährliche rechtsextreme Entwicklung gibt.

Aber ansonsten wiederholten sich die bekannten Muster. Kaum geschehen wird
erstens beschworen, das war ein Einzeltäter,
zweitens wurde mehr Sicherheitspersonal und
drittens wurden mehr Befugnisse für den Verfassungsschutz gefordert,
so auch diesmal.

Die Position der Fraktion DIE LINKE zu alledem ist klar.
Grundsätzlich sind wir nicht gegen mehr Personal, z. B. in den Kriminalämtern. Man muss nur wissen, dass schon mehrfach mehr BKA-Stellen bewilligt wurden. Es gibt nur keine ausgebildeten Bewerber. Wir streiten also über Leerstellen.
Grundsätzlich sind wir gegen weitere Eingriffe in verbriefte Bürgerrechte, etwa durch anlasslose Überwachung oder Eingriffe in die Datenhoheit.
Und grundsätzlich sind wir gegen einen Ausbau und eine weitere Hochrüstung der Ämter für Verfassungsschutz. Sie sind Geheimdienste, ihrem Wesen nach unkontrollierbar und mithin Fremdkörper jedweder Demokratie.

Apropos:
Im Zusammenhang mit der NSU-Nazi-Mordserie spielte ein Andreas Temme eine Rolle. Er war Mitarbeiter des Verfassungsschutzes und zur Tatzeit am Tatort, als das Nazi-Trio in Kassel 2006 einen Mann erschoss.
Warum und wieso?
Nun wurde publik, dass derselbe Temme dienstlich auch mit Stefan Ernst zu tun hatte. Das ist der Rechtsextreme, der jüngst den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke erschossen haben soll.
Immer wieder führen Spuren von den Ämtern für Verfassungsschutz ins rechtsextreme Milieu und anders herum.
Deshalb wiederhole ich für DIE LINKE:
Ein Untersuchungsausschuss, der sich mit Verbindungen der Ämter für Verfassungsschutz und rechtem Terror befasst, ist überfällig.

Immerhin hat die große Koalition, haben also CDU/CSU und SPD ihr Vorhaben revidiert, staatliche Förderungen für gesellschaftliche Initiativen gegen Rechtsextremismus und Rassismus, für Demokratie und Bürgerrechte zu kürzen.
Ich sage: Wer überhaupt auf solche Kürzungsideen kommt, teure Genossinnen und Genossen von der SPD, hat die Zeichen der Zeit nicht verstanden.
Deutschland tendiert politisch gefährlich nach rechts.
Und da müssen alle Alarmglocken läuten - historisch und aktuell.

Ihr wisst: Regelmäßig befrage ich die Bundesregierung, wie viele rechtsextreme und antisemitische Straf- und Gewalttaten sie registriert hat. Vorweg: Die offiziellen Zahlen stapeln tief. Aber auch diese sind schon schlimm genug.
Von Januar bis August 2019 wurden demnach 12.500 rechtsextreme Straftaten registriert. Das sind statistisch 52 pro Tag, also mehr als zwei je Stunde.
In denselben acht Monaten 2019 gab es offiziell über 500 rechtsextreme Gewalttaten mit 250 Verletzten, also pro Tag mindestens eine oder einer.
Deshalb frage ich: Wann wacht diese Bundesregierung endlich auf?
Wenn Banken wanken, dann jagt ein Krisengipfel den anderen.
Wenn die Demokratie radikal angegriffen wird, herrscht Sendepause.
Das ist unverantwortlich.

Auch das sei gesagt:
Im Bundestag und in zahlreichen Landtagen ist seit einigen Jahren eine Partei präsent, deren Repräsentanten die Nazizeit als Vogelschiss bezeichnen und Stolz auf die deutsche Wehrmacht in zwei Weltkriegen einklagen - die AfD.
Das vordem scheinbar Unsagbare ist sagbar geworden. Höcke && Co. verharmlosen und verherrlichen den Faschismus und kein vermeintlich „besorgter Bürger“ kann sagen, er hätte es nicht gewusst.
Ja, die AfD wird demokratisch gewählt, aber das macht sie nicht zu Demokraten.
Auch Hitler wurde demokratisch gewählt. Und AfD-Höcke hat sich im Beisein von AfD-Gauland auf NSDAP-Goebbels berufen. Man wolle in die Parlamente, um mit deren Mitteln die Demokratie vernichten, wie Wölfe die Schafsherde.
Nun höre ich gelegentlich, das seien ja nur 25 Prozent der Wähler, 75 Prozent wählten demokratische Parteien. Nein, diese Beruhigungspille schlucke ich nicht.

Schließlich will ich euch, will ich uns eine Denkaufgabe mitgeben, die ich gestern auch auf der Konferenz der Berliner LINKEN gegen Rechtsextremismus geäußert habe. Dazu eine Episode aus meinem Hefter „Gottlose Type - ungedruckt“, mit dem ich auch auf Lesungen unterwegs bin.

Sie heißt „linke Preisfrage“:

Stimmungen inmitten der Gesellschaft kippen nach rechts. „Ausländer raus“ geistert durch viele Köpfe. Antisemitismus ist wieder hoffähig. Gewalt gegen Andersdenkende, Anderslebende und Andersliebende gehört zum Alltag. Das alles komme nicht überraschend. Das alles war voraussehbar, meinte Prof. Wilhelm Heitmeyer 2017 in einem Interview. Ich war dabei, als er und sein Wissenschaftsteam am 11. 11. 2011 in Berlin die Ergebnisse ihrer Langzeitstudie über „Deutsche Zustände“ vorstellten. Also lange bevor zahlreiche Flüchtlinge und Asylbewerber zu uns kamen. Die Heitmeyer-Forschungen liefen über zehn Jahre. Das Fazit in aller Kürze: Die Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit nimmt zu. Ebenso die Akzeptanz von Gewalt als Politikersatz.
Als Ursachen für diese fatale Entwicklungen nannte sie: Das Soziale wird ökonomisiert, die Demokratie wird entleert. Auf Politikdeutsch nennt man das „neoliberal“. Dem Markt wird freier Lauf gelassen, den Banken und Monopolen wird gegeben, der Gesellschaft und dem Einzelnen wird genommen. Das ist seit über 25 Jahren die dominierende Politik, die sich dadurch obendrein selbst entmündigt.
Wenn Heitmeyer & Team Recht haben, und ich finde Ja, dann ist die neoliberale Politik das tiefer liegende Übel. Ergo müssen Linke gegen alle agieren, die neoliberal unterwegs. Parteipolitisch hieße das:
Wir gegen CDU, CSU, SPD, FDP, Bündnis 90/Die Grünen und gegen die AfD, also wir gegen alle.
So weit, so scheinbar klar. Aber da gibt es auch eine historische Lehre aus der Zeit des Faschismus. Sie besagt: Die Nazis kamen nicht an die Macht, weil die NSDAP so stark war, sondern weil die Demokraten zu zerstritten waren. Das wiederum würde bedeuten, breiteste Bündnisse anzustreben:
Linke mit SPD, Bündnisgrünen, CDU, FDP, selbst CSU, also - ausgenommen die AfD - wir mit allen. Beide Strategien passen irgendwie nicht zusammen!
Oder doch? Und wenn doch, dann wie?
Ich gebe es uns als Preisfrage mit.
 
 

 

 

3.11.2019
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