Links sein im 21. Jahrhundert

Vortrag von Petra Pau auf einer Veranstaltung der Linksjugend und des Forums Demokratischer Sozialismus
Rostock, 31. Oktober 2018

⇒ [pdf]

0. 

Vorab
 
Als linke Protestantin stimme ich dem katholischen Papst zu.
Franziskus hatte jüngst beklagt:
„Das Wirtschaftssystem sollte im Dienst der Menschen stehen.
Aber wir haben das Geld in den Mittelpunkt gerückt, das Geld als Gott.“

1. 

2 ½ Systeme
 
Vor kurzem hatte ich meinen Halbe-Halbe-Tag. Vorher wusste ich auch nicht, was das sein soll. Aber ein Freund hatte für mich gerechnet. Am 6. September 2017 war ich genauso lange Bürgerin der Bundesrepublik Deutschland, wie ich vordem Bürgerin der DDR war, also Halbe-Halbe.
 
Ich habe inzwischen sogar 2 ½ politische Systeme erlebt:
den real-existierenden Sozialismus der DDR,
den real-existierenden Kapitalismus der BRD,
und dazwischen eine kurze, rasante, bewegende Zeit.
Die einen nennen sie Wende, andere Revolution, wenige Alt-Linke auch Konterrevolution.
 
Diese Erfahrung hat mich fortan sehr geprägt.
 
Es war eine Zeit, in der politische Belange öffentlich ausgehandelt wurden, in der Bewegung in scheinbar unverrückbare Machtverhältnisse kam, in der Journalisten ihre gewonnene Freiheit in den Dienst der Aufklärung stellten, in der die Opposition regierte und die Regierung opponierte, in der die Bürgerschaft sehr engagiert war, in der das Politische Hoch-Zeit feierte. Der „Runde Tisch“ ist dafür synonym.
 
Das alles fand kurioserweise mit der ersten freien, gleichen und geheimen Wahl zu DDR-Zeiten, mit der Volkskammer-Wahl am 18. März 1990, ein abruptes Ende. Der moderne Verfassungsentwurf des Runden Tisches zum Beispiel wurde danach von der Ost-CDU arrogant ignoriert, weil die West-CDU ihn nicht wollte. Bei der SPD war es ebenso.
 
In dem Entwurf standen übrigens höchst aktuelle Passagen.
 
Zum Beispiel in Artikel 8: „Jeder hat das Recht an seinen persönlichen Daten und auf Einsicht in ihn betreffende Akten und Dateien. Ohne freiwillige und ausdrückliche Zustimmung des Berechtigten dürfen persönliche Daten nicht erhoben, gespeichert, verwendet, verarbeitet oder weitergegeben werden.“
 
Oder Artikel 43 „Die Staatsflagge (...) trägt die Farben schwarz-rot-gold. Das Wappen des Staates ist die Darstellung des Mottos „Schwerter zu Pflugscharen".“
 
Datenschutz, Abrüstung, soziale Gerechtigkeit, mehr Demokratie - diese Verfassung war als Mitgift des Runden Tisches der DDR für ein neues Deutschland gedacht. Ein bürgerrechtliches Drängen, das Erinnerung verdient. Bei den üblichen und offiziellen deutschen Rückblicken auf das Ende der DDR wird dies tunlichst ausgeblendet. Warum wohl?

2. 

Das Scheitern der DDR
 
Nach dem Ende der DDR frohlockte der damalige Sozialminister der Bundesrepublik Deutschland, Norbert Blüm (CDU):
„Marx ist tot, Jesus lebt!“
 
Den Zusammenbruch der Sowjetunion kommentierte der USA-Politikwissenschaftler Francis Fukuyama als "Ende der Geschichte".
 
Beiden widerspreche ich vehement: dem ersten aus Überzeugung, dem zweiten aus Hoffnung und beiden als Linke. Aber dazu später.
 
1989/1990 implodierte die Deutsche Demokratische Republik, kurz DDR, mehr noch, das gesamte sozialistische Lager sowjetischer Prägung. Damit endete eine historische Epoche, die mit der Oktober-Revolution 1917 in Russland begann und später bis zu einem Drittel der Erde umspann.
 
Einmal ausgeblendet, wer wie von außen zu diesem Absturz beigetragen hatte - irgendwann öffnen sich auch westliche Geheimarchive - der Sozialismus sowjetischer Prägung scheiterte vor allem an seiner eigenen Unterlegenheit. Jedenfalls verglichen mit den führenden kapitalistischen Ländern.
 
Dabei waren die politischen und wirtschaftlichen Strukturen, die dazu führten, kein Zufall. Theoretisch fußten sie auf Interpretationen von Karl Marx und Wladimir Iljitsch Lenin. Es brach also kein irgendwie schlecht gemachtes Experiment zusammen, sondern ein vermeintlich wissenschaftlich fundiertes System.
 
Ich war Teil dieses Systems und ich dachte lange in seinem Sinne. Dazu gehörte das Engagement für soziale Gerechtigkeit und für Frieden, weltweit. Auch als linke Lehre aus der Barbarei des Faschismus, allemal in Deutschland. Insofern barst 1989/90 auch diese DDR-Hoffnung.
 
Rückblickend sehe ich drei Gründe für das Scheitern des Sozialismus-Modells sowjetischer Prägung.
 
Erstens war es wirtschaftlich nicht in der Lage, mit den führenden kapitalistischen Unternehmen Schritt zu halten, geschweige denn, eine höhere Produktivität zu entwickeln. Das aber wäre nach einer zentralen Prämisse von Karl Marx unabdingbar gewesen.
 
Zweitens wurden verbriefte Bürgerrechte sowie Grundregeln der Demokratie einer vermeintlich besseren Sache wegen zurück- oder ausgesetzt. Das war letztlich ein Rückfall hinter Errungenschaften der Französischen Revolution von 1789.
 
Drittens lief das Konzept der „führenden Rolle einer Partei“ und der „Einheit und Geschlossenheit“ seiner Mitglieder gesellschaftlich auf Überwachung und Maßregelungen hinaus. Dies wiederum blockierte Vielfalt und mithin lebendige Entwicklungen.
 
Das Resultat ist bekannt: Immer weniger Menschen folgten den sozialistischen Verheißungen, immer mehr protestierten dagegen.
War Marx deshalb wirklich tot und das Ende der Geschichte erreicht?

3. 

Generationen-Manifest
 
Kurz vor der Bundestagswahl 2017 wurde ein Mahnruf öffentlich.
Er trägt den Titel „Generationen-Manifest“. Aufgesetzt wurde es von Journalisten und Juristen, von Unternehmern und Wissenschaftlern, von Künstlern und Bürgerrechtlern, u. v. a. m.
 
Die zentrale Botschaft: Lange galt die Annahme, dass es künftigen Generationen besser gehen werde. Nun aber drohen der nächsten Generation Bürden, die sie nicht mehr schultern können, wenn wir nicht jetzt radikal umsteuern. Das ist die Eingangswarnung des Appells.
 
Es folgen zehn Punkte, formal an die künftige Bundesregierung gerichtet, aber real an die Gesellschaft, also an uns alle.
 
Ich greife drei davon in verkürzter Fassung auf.
 
Stichwort Frieden: Wir fordern die Bundesregierung auf, sich für eine endgültige Abschaffung aller Atomwaffen einzusetzen und ein Ende des Exports von Kriegswaffen in Spannungsgebiete zu beschließen.
 
Stichwort Gerechtigkeit: Wir fordern ein gerechtes Steuersystem, mit Vermögens-, Erbschafts- und Finanztransaktionssteuern, sowie eine ernsthafte Diskussion über das bedingungslose Grundeinkommen.
 
Stichwort Digitalisierung: Wir brauchen eine digitale Charta und eine supranationale Institution, die Regeln setzen, für die Nutzung persönlicher Daten und die Strafbewehrung digitaler Verbrechen.
 
Die Kommentare auf dieses Manifest waren durchaus widersprüchlich, manche auch boshaft. Ich habe es als Linke dennoch sofort unterschrieben.
 
Allein gemessen an diesen 10 Punkten, die durch unsere Generation zu lösen sind, war der Bundeswahlkampf 2017 in der Tat alles andere als ambitioniert. Und der Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD zielt meilenweit an den Problemen vorbei.
 
Vor allem aber zeigen die Thesen Zweierlei:
 
•  Sollte es ein Ende der Geschichte geben, dann durch die Unfähigkeit des Kapitalismus, mit Blick auf die Zukunft menschlich zu agieren.
 
•  Und sollte es dennoch Lösungen geben, dann bedarf es dazu auch einer Rückbesinnung auf Karl Marx. Meine ich.

4. 

Grundsätze von Marx
 
Natürlich ist „Links sein im 21. Jahrhundert“ nicht auf Karl Marx reduzierbar. Sein Hauptwerk - „Das Kapital“ - ist derweil 150 Jahre alt.
 
Aber viele Analysen und Grundsätze von Karl Marx aus dem 19. Jahrhundert sind noch immer aktuell und folglich hilfreich.
 
Warum? Ich nenne dazu nur drei Stichpunkte:
 
Erstens: Karl Marx hatte das Kapital nicht - wie allgegenwärtig - als Heilsbringer hofiert, sondern als Herrschaftsverhältnis kritisiert.
 
Zweitens: Davon abgeleitet bleibt für Linke eine gerechtere Umverteilung von Reichtum und Macht eine zentrale politische Frage.
 
Und Drittens: Die Eigentums-Frage ist nicht aus der Welt. „Eigentum verpflichtet“, heißt es zwar im deutschen Grundgesetz - aber folgenlos.
 
Um alle drei Fragen -
•  die Herrschaft des Kapitals,
•  die Umverteilung des Reichtums und
•  die Verpflichtung des Eigentums
machen inzwischen alle im Bundestag vertretenen Parteien einen großen Bogen, ausgenommen DIE LINKE.
 
Dabei ist es egal, wie sozial oder unsozial ein kapitalistisches Land verfasst ist, es geht letztlich immer um die Ausbeutung vieler zugunsten weniger.
 
Und es ist egal, wie demokratisch oder undemokratisch ein kapitalistisches Land verfasst ist, es läuft letztlich immer auf die Dominanz weniger über viele hinaus.
 
Womit ich als Linke nicht sage, dass es mir egal sei, wie sozial und wie demokratisch ein Land, auch mein Land verfasst ist. Im Gegenteil.
Aber letztlich bleibt das Eigentum an Produktionsmitteln entscheidend.
 
Und so bewegt mich auch eine Überlegung von Prof. Wolfgang Fritz Haug. Er gilt international als Karl-Marx-Kenner. Nach dem Zusammenbruch des Sowjet-Sozialismus gab er 1997 in seinem Buch "Politisch richtig oder richtig politisch" zu bedenken
 
(Zitat):
„Links ist alles Handeln, das Welt aus dem Reich des Privateigentums zurückgewinnt, ohne sie dem Reich des Staatsapparats auszuliefern.“
 
Dem Kapital nehmen, ohne es dem Staat zu geben, diesen Gedanken lasse ich erst einmal mit einem Ausrufezeichen stehen.

5. 

Wirtschaft und Gesellschaft
 
Ich hatte eingangs zum gescheiterten Sozialismus-Versuch gesagt:
„Er war wirtschaftlich nicht in der Lage, mit den führenden kapitalistischen Unternehmen Schritt zu halten, geschweige denn, eine höhere Produktivität zu entwickeln.“
 
Und ich hatte hinzugefügt:
„Das aber wäre nach einer zentralen Prämisse von Karl Marx unabdingbar gewesen.“
 
Der hatte in seiner „Kritik der politischen Ökonomie“ gemeint:
 
„Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist ...“
 
Und weiter:
„... neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind.“
(ebenda, MEW 13, S. 9)
 
Einfach übersetzt:
Daran gemessen und rückblickend waren die materiellen Verhältnisse weder 1917, noch 1945, auch nicht 1990 reif für einen Sozialismus, der über den Kapitalismus hinausreicht. Alles andere war Wunschdenken.
 
Doch nun steht die Frage: Hat die kapitalistische Gesellschaft womöglich inzwischen etwas ausgebrütet, was über sie hinausweist?
 
Ernstzunehmende Theorien unterstellen: Es waren immer zwei materielle Innovationen, zwei technologische Revolutionen, die eine neue gesellschaftliche Entwicklung ermöglichten:
 
a) bis dato nicht gekannte Möglichkeiten, Energien zu nutzen.
b) völlig neue, weiterreichende Formen der Kommunikation.
 
Ohne die Erfindung der Dampfmaschine (später der Petrol- und Elektro-Energie) und ohne die Telegrafie (später Telefon, Radio und Fernsehen), wäre die Entwicklung zum Kapitalismus nicht möglich gewesen.
 
Nehmen wir einmal an, diese These stimmt, dann drängt sich doch eine spannende Frage auf:
 
Könnte es sein, dass die Solaroption und das Internet miteinander eine solche gesellschaftliche Sprengkraft entfalten, wie seinerzeit die Dampfenergie und die Telegrafie? Zumindest als Chance!
 
Und, dass beiden ein Potenzial innewohnt, das über den Kapitalismus hinausweist und neue gesellschaftliche Chancen eröffnen könnte?
Natürlich nicht automatisch. Das bedarf politischer Kämpfe.
 
Namhafte Wissenschaftler stützen diese Annahme.
 
Zu ihnen gehört aus meiner Sicht der US-amerikanische Gesellschaftstheoretiker Jeremy Rifkin.
 
Er spricht von einer neuen industriellen Revolution, weg von profit-orientierten Monopolen, hin zu gemeinwohl-orientierten Unternehmen.
 
Herman Scheer (SPD) ging noch weiter. Der weltweit anerkannte Solar-Experte († 2010) sah in den neuen revolutionären Technologien sogar Grundlagen für einen demokratischen Sozialismus.
 
Ich empfehle die diversen Bücher beider.
 
Und nun noch mal unterstellt, sie hätten Recht. Dann hätte das natürlich grundlegende Konsequenzen für Linke im 21. Jahrhundert.
 
Denn das würde bedeuten:
 
Erstens reicht soziales Engagement, gestützt auf die klassische Umverteilung von Reichtum nicht aus, es greift zu kurz.
 
Zweitens braucht sie neue, zeitgemäße Solar- und Netzkompetenzen - aus sozialen, ökologischen und demokratischen Gründen.
 
Daher ist meine zentrale These:
Rote müssen im 21. Jahrhundert zugleich Grüne und Piraten sein.
 
Nur so kann aus dem nötigen Kontra zum Bestehenden ein werbendes Pro für Neues werden - bündnis- und mehrheitsfähig.
 
Übrigens:
Wenn ich bis hierhin über "Links sein im 21. Jahrhundert" sprach, dann immer über vielfältige Akteure und Bewegungen, die sich vernetzen und bestärken. Dass ich bei alledem auch Ansprüche an die Partei DIE LINKE mitdenke, sollte gleichwohl nicht verwundern.
 
Natürlich ergibt sich noch keine neue Gesellschaft, nur weil man die revolutionären Potenziale einer Solarwende und der Digitalisierung zusammendenkt. Was gleichwohl allein schon Zündstoff birgt.
 
Ich deute das am Beispiel Energiewende nur kurz an.
Hierzulande scheint es parteiübergreifend Konsens zu sein:
a) das unbeherrschbare Atomzeitalter muss beendet werden;
b) für fossile Energieträger gilt nur noch eine Restlaufzeit,
c) in absehbarer Zeit brauchen wir 100% Solarenergie.
 
Gleichwohl gibt es dazu zwei widerstreitende Strategien:
 
Die eine: Das Gros der Alternativenergie wird aus Offshore-Windparks in der Nordsee oder aus Riesen-Solar-Feldern in Nord-Afrika geliefert.
Die andere: Die Solar-Energie speist sich vor allem aus dezentralen Anlagen, also vor Ort - Sonne, Wind, Wasser, Biomasse usw.
 
Die erste Strategie mit Riesen-Windparks auf See, mit Riesen-Solar-Flächen in der Wüste und mit Riesen-Energie-Trassen übers Land, würde die Monopolmacht der großen Konzerne neu begründen, also mehr Profit und weniger Demokratie.
 
Die zweite Strategie entspräche der Idee von Prof. Wolfgang F. Haug: „Welt aus dem Reich des Privateigentums zurückgewinnen, ohne sie dem Reich des Staatsapparates auszuliefern.“
 
Das war auch Hermann Scheers Ansatz. Die Solarwende wird zur Eigentumswende, zugunsten von Kommunen oder Genossenschaften.
Die Konsumenten würden so zu Produzenten und umgekehrt.
ergo weniger Profit, mehr Demokratie!
 
Und das betrifft nicht nur die Energie. In China wurde jüngst ein Mehretagenhaus per 3-D-Drucker produziert. Der 3-D-Druck wiederum ermöglicht dezentrale Produktionsweisen, wovon auch immer.
 
Rifkin spricht von „Prosumenten“ in Gemeinschaften, von Konsumenten, die zugleich Produzenten sind und umgekehrt.
 
Wobei in der Energiefrage die EU und Regierungen bislang eher die Profit-Option fördern, die Linke hingegen die Demokratie-Option.

6. 

Konturen einer vierten Revolution
 
Zwei neue Schlüsseltechnologien ermöglichen im 21. Jahrhundert vielleicht neue Produktions- und Lebensweisen.
 
Wobei „Solar“ nicht nur für Energie im engeren Sinne steht, sondern überhaupt für erneuerbare Roh- und Betriebsstoffe, für Nachhaltigkeit.
 
Und „Internet“ meint natürlich auch mehr als eine globale Kommunikation in Echtzeit via E-Mail oder SMS.
 
Längst macht ein neues Kürzel Furore: „Produktion 4.0“.
Vom „Internet der Dinge“ ist die Rede, vom Energie-Netz, vom Kommunikations-Netz, vom Infrastruktur-Netz, mit weit- und tief-greifenden gesellschaftlichen Folgen.
 
Eine will ich hier nur andeuten: Wenn Werkzeuge mit Werkstücken kommunizieren, die Maschine mit ihren Produkten, werden immer weniger Menschen dafür gebraucht.
 
Selbst gut ausgebildeten Fachleuten droht ein Abstieg ins Prekariat, ungesichert und massenhaft. Das ist eine soziale Gefahr.
Man kann sie wegreden, aber man sollte es nicht.
 
Die soziale Chance dieser Entwicklung wiederum hatte bereits Karl Marx als „Sprung der Menschheit aus dem Reiche der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit“ beschrieben. (F. Engels Anti-Dühring, MEW 20, 264.)
 
Jüngst las ich einen Vergleich, den ich spannend fand. Zu Zeiten der Sklaverei lebte das besitzende Bürgertum komfortabel davon, dass die Sklaven für sie arbeiteten mussten. Das war schlimm.
 
Aber wäre es nicht gut, wenn nun digitale Automaten die neuen Sklaven wären, die weltweit allen Bürgerinnen und Bürgern Lasten abnehmen und Freiheiten ermöglichen? Noch eine Frage, die ich einfach stehen lasse.
 
Womit allerdings auch die Debatte über ein „bedingungsloses Grundeinkommen“ neue Nahrung erhalten dürfte. Ich befürworte das.
 
Denn von einem „bedingungslosen Grundeinkommen“ erwarte ich vor allem Zweierlei: weniger Zwänge, mehr Freiheit.
 
Ergo: Eine Linke im 21. Jahrhundert muss die Chancen ergreifen, darf nicht nur die Gefahren geißeln. Sonst verpasst sie den Zug der Zeit.
 
Sie darf aber auch Gefahren, die der Digitalisierung innewohnen, nicht blauäugig übersehen.
 
Wenn von Silicon Valley die Rede ist, dann von den größten Konzernen, wie apple, google. Facebook und andere.
 
Ihr Börsenwert übersteigt inzwischen alles bislang Bekannte.
Sie sind keine Heilsbringer, auch wenn sie so daher kommen.
 
Es sind nahezu weltumspannende und zunehmend weltbeherrschende kapitale Monopole. Ihr Primärgeschäft sind Daten, allemal persönliche.
 
Sie saugen sie an, vergleichen, verknüpfen und bewerten sie.
Sie machen Menschen durchschaubar und manipulierbar.
Kurzum: Sie agieren letztlich demokratie-feindlich.
 
1983 fällte das Bundesverfassungsgericht ein legendäres Urteil.
Man findet es unter dem Stichwort „Volkszählungsurteil“.
Mit ihm wurde der Datenschutz zu einem Grundrecht erhoben.
 
Ohne den Schutz persönlicher Daten gibt es keine Selbstbestimmung und ohne selbst bestimmte Bürgerinnen und Bürger kann es keine Demokratie geben, so sinngemäß die Kurzfassung.
Seither wurde dieses Urteil mehrfach erhärtet und auch durch die Europäische Union bekräftigt.
 
Und nun das: Fünf milliardenschwere Digital-Monopole leben davon, das Recht auf Datenschutz zu brechen.
Sie untergraben Persönlichkeitsrechte und die Demokratie.
Und sie können das nahezu unbehelligt tun.
Ganz im Gegenteil: Wir alle helfen ihnen dabei emsig, indem wir Google nutzen, twittern oder bei facebook unterwegs sind.
Ich tue es auch.
 
Über dies alles gibt es so gut wie keine gesellschaftliche Debatte.
Auch die Politik pennt den rasanten Entwicklungen hinterher.
 
Das fanden auch die Autorinnen und Autoren eines Diskussionsangebotes vom Herbst 2016. Es trägt des Titel: „Charta der digitalen Grundrechte der Europäischen Union“. Zu ihnen gehören, um nur drei zu nennen: Yvonne Hofstetter (IT-Unternehmerin und Autorin), Sascha Lobo (Digital-Kenner) und Juli Zeh (Schriftstellerin).
 
Es würde zu weit führen, wenn ich aus der Charta jetzt zitieren würde.
Sie folgt der Frage, wie Bürger- und Menschenrechte, wie Freiheit und Demokratie auch in Zeiten fortschreitender Digitalisierung rechtlich und politisch gesichert werden könnten.
 
Ich empfehle diese Charta der digitalen Grundrechte sehr.
Und es versteht sich von selbst, dass Linke im 21. Jahrhundert nicht an ihr vorbeikommen. Im Gegenteil: Es drängt.
 
Und gern gebe ich für das weitere Nachdenken eine Preisfrage mit, auf die auch ich bislang keine Antwort habe:
 
Was könnte der Rat von Wolfgang F. Haugh mit Blick auf das Internet und die Digital-Monopole bedeuten:
„Links ist alles Handeln, das Welt aus dem Reich des Privateigentums zurückgewinnt, ohne sie dem Reich des Staatsapparats auszuliefern.“?
 
Und dabei habe ich eine viel weitergehende Frage noch gar nicht aufgeworfen. Was wird eigentlich, wenn künstliche Intelligenz nicht nur punktuell, sondern prinzipiell intelligenter sein wird, als menschliche?
Ich rede von demnächst.
 
Der Deutsche Ethikrat bot dazu im Juni 2018 eine international hochkarätig besetzte Jahrestagung an. Dabei ging es auch um die Frage, welchen Einfluss technologische Entwicklungen auf die Menschenwürde haben (oder haben können). Zum Beispiel
•  durch Eingriffe in das Gehirn,
•  durch Eingriffe in das Genom,
•  durch Eingriffe mit künstlicher Intelligenz.
Hochkarätig besetzt auch, weil zu den internationalen Referenten u. a. Yuval Noah Harari, Hebräische Universität Jerusalem, gehörte.
Ich empfehle sein Buch „Homo Deus“ mit der Frage: Ist die Menschheit bald am Ende - oder braucht es eine neue humane Erzählung?

7. 

Revolution, Reformation, Transformation
 
Nun wird zuweilen unter Linken gestritten, welcher politische Kurs zu einer besseren Gesellschaft überhaupt erfolgsträchtig sein könnte.
 
Die einen halten eine sozialistische Revolution für unumgänglich. Nach ihr würde „die Sonn ohn' Unterlass“ scheinen, glauben sie.
 
Andere bevorzugen den irdischen Weg tiefgreifender, also radikaler Reformen, ohne eingebaute Schönwetter-Garantie.
 
Der Ökonom Prof. Dr. Dieter Klein hält diesen Streit für brotlos. Ich auch. Er plädiert für eine doppelte gesellschaftliche Transformation:
eine Transformation im Kapitalismus und eine zweite darüber hinaus.
 
Wie das gehen könnte, beschreibt er mit „vier U“. Damit meint er:
 
Erstes U: gerechte Umverteilung von Lebenschancen und Macht.
Dass Lebenschancen und Macht ungerecht verteilt sind, ist offenbar.
Zweites U: sozial-ökologischer Umbau von Markt und Wirtschaft;
denn beide sind bislang weder sozial, noch ökologisch ambitioniert.
Drittes U: demokratische Umgestaltung von Wirtschaft und Politik.
Auch hier gilt, mehr Mitbestimmung und Transparenz sind überfällig.
Viertes U: umfassende Friedenspolitik und internationale Solidarität;
Friede gedeiht diesseits der Militär-Logik. Davon sind wir weit entfernt.
 
Alle vier „U“ bedingen einander und gelten Dieter Klein als Gütesiegel für radikale Transformationen im Kapitalismus und darüber hinaus.
 
Wer sich dafür interessiert, dem empfehle ich sein Buch "Das Morgen tanzt im Heute" (Dieter Klein, VSA-Verlag).
 
Und wer sich dadurch informiert, wird schnell merken: Seine Überlegungen haben mit dem gescheiterten Sozialismus sowjetischer Prägung nichts zu tun. Sie sind ein Plädoyer für mehr Demokratie, für verbriefte Bürgerrechte und tatsächliche Freiheit.

8. 

Kein unendliches Wachstum in einer endlichen Welt
 
Als Helmut Schmidt noch Kanzler der Bundesrepublik Deutschland war, da meinte er mal: „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen!“
Ich finde: Linke brauchen Visionen, wir alle brauchen sie, nicht Halluzinationen, sondern Vorstellungen über eine bessere Welt.
 
Und manche Vorhaben drängen zur Eile. Nicht, weil Pessimisten das behaupten, sondern weil die Zeit abläuft. Damit meine ich den sozial-ökologischen Umbau der Wirtschaft und der ganzen Gesellschaft. Ein Jahrhundertwerk, für das bestenfalls noch Jahrzehnte bleiben.
 
Die Klima-Katastrophe ist keine Erfindung von Öko-Spinnern, sie droht wirklich. Und dass uns demnächst Grundlagen unseres Lebens, wie Kohle und Öl, ausgehen, liegt auf der Hand. Auch Land und Wasser lassen sich nicht künstlich ausdehnen. Im Gegenteil: Wir töten Wälder und Leben.
 
Es kann in einer endlichen Welt einfach kein unendliches Wachstum geben, das auf Ausbeutung dieser endlichen Welt basiert.
 
Aber seit zwei Jahrhunderten beruht Entwicklung stets auf zwei Prämissen: ständiges Wachstum und zunehmender Naturverbrauch.
Beide haben sich alsbald erledigt. Sie schaffen heute schon mehr Unheil, als Nutzen. Wir brauchen folglich eine neue Entwicklungs-Logik.
 
Der viel gepriesene Markt, der angeblich alles regelt, folgt der alten Logik. Also sind eine neue Politik gefragt, die Gesellschaft, wir alle.
 
Zu den Schimpfwörtern, die den Untergang des Staatssozialismus nachhaltig diffamieren sollen, gehört „Planwirtschaft“. So, als würde nicht jeder weltumspannende Konzern einem Plan folgen.
 
Umso mehr braucht der sozial-ökologische Umbau einen großen Plan. Und es gibt sie: interessante, respektable und hoffentlich auch praktikable.
 
Deshalb ist immer Skepsis geboten, wenn eine bestimmte Politik als alternativlos gepriesen wird. Das war ein Grundübel des Sozialismus sowjetischer Prägung. Zugleich wurde „alternativlos“ 2010 politisch mahnend in Deutschland zum „Unwort des Jahres“ gewählt.
 
Die Vorstellungen der Fraktion DIE LINKE im Bundestag zu einer denkbaren sozial-ökologischen Wende finden sich übrigens unter dem Stichwort „Plan B“. Er sagt nicht: So ist es. „Plan B“ analysiert, schlägt vor und lädt zur Diskussion ein.
 
Ein linker Plan zur Digitalisierung fehlt noch (oder ich habe ihn bisher übersehen). Dabei wird es höchste Zeit, diese rasante und globale Entwicklung tiefer zu durchdringen - und politisch zu gestalten.
 
Man darf die Zukunft weder allein dem Markt, noch dem „Silicon Valley“ überlassen.

Mein Fazit in sechs knappen Punkten:
 
•  Politisch Links als Alternative und Herausforderung hat sich mit dem Zusammenbruch des Sozialismus sowjetischer Prägung nicht erledigt.
•  Über die Ursachen des Versagens ist zu reden, wieder und wieder, aber nach vorn, um nicht Fehler zu wiederholen oder Chancen zu verpassen.
•  Es gibt technologische Revolutionen. Sie haben das Potential für gesellschaftliche Entwicklungen, über den Kapitalismus hinaus.
•  Automatismen indes hat es nie gegeben. Es bedarf immer politischer Kämpfe, für soziale Gerechtigkeit, Demokratie und Menschenrechte.
•  Keine der wirklich großen Herausforderungen, wie Solarrevolution oder Digitalisierung, ist national zu meistern, sondern nur international, global.
•  Schließlich: Ob Jesus lebt? Ich wünsche es vielen. Ob Marx' Ideen bestehen? Davon bin ich überzeugt, nicht als Dogmen, sondern als Denksport.
 
 

 

 

31.10.2018
Impressum
Datenschutzerklärung

 

Seitenanfang

 

DIE LINKE.: Reden & Erklärungen

 

Lesbares

 

Startseite