Aktuelle Notiz: LINKE nach Göttingen
von Petra Pau
Berlin, 5. Juni 2012
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Der Parteitag in Göttingen hat den Zustand der LINKEN offenbart. Am klarsten fielen kulturelle und Demokratie-Defizite auf. Zwei Lager, nicht zu verwechseln mit Strömungen, standen sich gegenüber: Das eine mit ausgestreckter Hand, das zweite mit Händen zur Faust geballt.
So etwas muss abschrecken, allemal Sympathisantinnen und Sympathisanten, potentielle Wählerinnen und Wähler. Manche Kommentatoren, der LINKEN kaum zugewandt, attestieren schon Mitleid. Das ist die Höchststrafe für eine Partei, die die Welt verändern will.
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2. |
Und doch gab es Bewegung im Stillstand.
Erstens: Eine Lebenslüge wurde enttarnt. Nämlich, dass in der Partei DIE LINKE zusammen wachse, was zusammen gehöre. Zu sagen, was ist, gilt noch immer als Tugend. Gregor Gysi sprach endlich wieder mal Klartext. Er fand dafür Zuspruch und Widerworte.
Zweitens: Schon im Vorfeld des Parteitages hatten sich viele Mitglieder von gewissen Kreisen emanzipiert. Der Aufruf Wir sind DIE LINKE war eine klare Absage an einen elitären Führungsstil und eine deutliche Forderung nach mehr innerparteilicher Demokratie.
Drittens: Es wurde ein neuer Vorstand gewählt. Er spiegelt noch immer den widersprechenden Status quo der Partei. Aber er hat das personelle Potential, einen Ausbruch aus der selbst gemachten Querele zu wagen. Ob er das will und kann, wird sich alsbald entscheiden.
Viertens: Ein Gros der Delegierten hat die Zeile Es rettet uns kein höheres Wesen! neu verinnerlicht. Sie wollen die Geschicke und die Zukunft der Partei DIE LINKE selbst bestimmen. Deutlich mit Lafontaine, Gysi & Co., aber nicht länger unter ihrem Diktat.
Fünftens: Manche, insbesondere selbst ernannte linke LINKE, hatten offenbar eine finale innerparteiliche Entscheidung erhofft. Sie scheiterten damit an der Mehrheits-Vernunft des Parteitages. Und an Delegierten, die kommunal- und realpolitisch engagiert sind.
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3. |
Der Göttinger Parteitag hat die Selbstzerstörung der LINKEN aufgehalten. Aber er hat kein innerparteiliches Problem gelöst. Konnte er auch nicht. Er hinterließ ein besorgtes Fünkchen Hoffnung, jedenfalls bei mir. Ich beneide den neuen Vorstand ob seiner Bürde nicht.
Meine Vorstands-Erwartungen hatte ich vordem erklärt: Er muss eine linke Ökumene ermöglichen. Er muss das zu enge Gewerkschafts-Korsett sprengen. Er muss die Herausforderungen und Möglichkeiten des 21. Jahrhunderts endlich annehmen - inhaltlich, strategisch, praktisch.
Dazu hatte ich auch Stefan Heym zitiert. Zur politischen Kultur sagte der demokratische Sozialist 1994 als Alterspräsident des Bundestags: Toleranz und Achtung gegenüber jedem Einzelnen sowie Widerspruch und Vielfalt der Meinungen sind vonnöten.
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4. |
Ich habe in den letzten Jahren zu oft anderes registriert. Widerspruch und Vielfalt galten als wider DIE LINKE. Einheit, Reinheit und Geschlossenheit seien das Gebot der Stunde. Übersetzt für Wessis: Das waren Gebote der gescheiterten SED. Ich habe ihnen abgeschworen.
Und ich wundere mich. Eine historisch gescheiterte Nicht-Kultur wird in der LINKEN vor allem von ehemaligen Sozialdemokraten und Gewerkschaftern zur Tugend erklärt. Hinter dem vermeintlichen Ost-West-Konflikt der LINKEN offenbart sich so ein historischer.
Lothar Bisky warnte vor zwei Jahren, er wolle in der neuen LINKEN keinen Stalinismus durch die Hintertür. Und ein durchaus wohl wollender Stern-Kolumnist attestierte der LINKEN zudem mangelnde Solidarität, nicht bedingungslose, sondern gelebte.
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5. |
Was bleibt, sind etliche ungeklärte Fragen. Die Strategie der Partei für die kommenden Jahre ist weiterhin strittig. Die Profilierung der Gesamtpartei bei Zukunftsthemen, etwa der digitalen und der solaren Revolution, steht aus. Ein zündendes und gewinnendes Wahlkampfthema fehlt.
Das alles darf nicht beim Vorstand abgeladen werden. Aber der Vorstand muss Klärungen ermöglichen und forcieren. Nur so werden sich verunsicherte Mitglieder wieder motivieren und neue Mitstreiterinnen und Mitstreiter gewinnen lassen. Kurzum: Appelle allein reichen nicht.
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PS:
Die SPD-Führung reagierte auf den Göttinger Parteitag erneut mit der Einladung an LINKE, die Partei zu wechseln. Natürlich ist das ein vergiftetes Angebot. Ich kenne auch niemanden, der darauf hereinfiele oder selbiges vorhätte. Aber ich erlebe LINKE, die andere LINKE am liebsten in die SPD schuppsen würden ...
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