Noch einmal zu Schönbohm:

Ein Toleranz-Edikt anno 1998 würde der Hauptstadt gut stehen

Berliner sind in sich schon ein Multi-Kultur

Die „multikulturelle Gesellschaft“ sei die letzte, gleichwohl hoffnungslose Streitmacht der Linken, nachdem ihr das Proletariat und die Intelligenz abhanden kam, prophezeite der Berliner Innensenator Jörg Schönbohm (CDU) am 22. Juni in dieser Zeitung. Dabei berief er sich zugleich auf das Grundgesetz oder, besser, auf seine Lesart desselben. Beides, die von Senator Schönbohm gewählte Manöverstellung und seine Verfassungsinterpretation verdienen allerdings die Prädikate unredlich und inkompetent.

„Es gibt wohl keinen Begriff, der in den letzten Jahren die Sprachverbieger und Wünschelrutengänger auf der Suche nach der nationalen Identität mehr aufgeregt hat als derjenige der ,multikulturellen Gesellschaft , zu der man auch ,Toleranzgesellschaft oder ,Gleichberechtigungsgesellschaft sagen könne.“ Das Zitat stammt von Heiner Geißler, stellvertretender CDU/CSU-Fraktionsvorsitzender und Mitglied des CDU-Bundesvorstandes. Geißler plädiert in seinem Buch „Das nicht gehaltene Versprechen“ für eine multikulturelle Gesellschaft, was auch bedeute, daß Deutsche mit Menschen anderer Herkunft zusammenleben, ohne sie assimilieren, also eindeutschen zu wollen. Der Wind bläst dem Berliner Innensenator also keinesfalls nur von Links ins Gesicht. Der Streit geht quer durch die Gesellschaft, auch durch die CDU.

Gleichwohl war zu erwarten, daß Schönbohm vom rechten Rand seiner Partei Schützenhilfe erhält. „Wenn Ausländer eine Bereicherung sind, dann können wir seit langem sagen: Wir sind nun reich genug“, assistiert Heinrich Lummer. Integration, so der frühere CDU-Innensenator, setze die Anerkennung einer deutschen „Dominanzkultur“ voraus. Das hatte auch Schönbohm gefordert und in das Grundgesetz eine „deutsche Leitkultur“ implantiert, der sich alle anzunehmen hätten.

Nicht ausländerfeindlich

Das ist eine mit Verlaub sehr freihändige Auslegung der Verfassung, die bereits in Artikel 1 die Würde des Menschen und nicht das Deutschsein unter besonderen Schutz stellt. Auch Meinungs- und Religionsfreiheit beziehen sich keinesfalls nur auf eine Kultur, sondern unterliegen einem universellen Anspruch des Grundgesetzes. Im Kern zielen Schönbohms Thesen wider die multikulturelle Gesellschaft nicht gegen Links, wie er vorgibt, sondern gegen die Ideale von 1789 Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit und damit gegen die Grundwerte republikanischer Demokratie.

Die erneut zugespitzte, vielleicht auch nötige Debatte ist auch deshalb so brisant, weil durch Schönbohm von offizieller (Senats)-Seite gefährliche Maßstäbe eingeführt beziehungsweise wachgerüttelt werden. Etwa durch die Mahnung, daß die Ausländer eine „kritische Größe“ oder Masse zu bilden drohen. Berlin hat einen durchschnittlichen „Ausländer“-Anteil von 13 Prozent. München weist 23 Prozent aus, Stuttgart 24 Prozent, und Frankfurt am Main müßte mit einem „Ausländer“-Anteil von etwa 30 Prozent nach Schönbohm-Maßstäben längst die undeutscheste Großstadt der Bundesrepublik sein. Preisfrage: Warum gelten derartige Ressentiments nicht bei Bayern München, dem VfB Stuttgart oder Hertha BSC? Weil sich die dort bejubelten Ausländer für „Deutsche“ rechnen?

Wie gefährlich das Spiel mit kritischen Größen ist, läßt sich an den täglichen Überfällen neofaschistischer Gruppen ablesen. Sie definieren Schönbohms „kritische Größe“ auf Null und schaffen „national-befreite Zonen“. Übrigens nicht selten mit demselben Hinweis, den auch Innensenator Schönbohm vorgibt, wenn er auf „,soziale und wirtschaftliche Umstände“ verweist und damit suggeriert: Geht es uns Deutschen gut, können wir uns auch Ausländer leisten.

Im 17. Jahrhundert förderte Friedrich Wilhelm, genannt der Große Kurfürst, den Zuzug französischer, holländischer und jüdischer Familien nach Berlin. Sie erhielten steuerliche und rechtliche Privilegien. Nicht Assimilation, sondern Zu-Tun war die Grundidee, was bis heute architektonische, kulturelle, sprachliche Spuren hinterließ. Der Urberliner, auch daran sei erinnert, war Slawe und der heutige Berliner verkörpert durch die Vielfalt seiner Ahnen in sich eine Multi-Kultur. Daß es auch zu Zeiten des Großen Kurfürsten Konflikte zwischen Ur- und Neuberlinern gab, verrät das Toleranz-Edikt von 1664, mit dem er das „gegenseitige Schmähen von der Kanzel“ herab verbot.

Ein Berliner Toleranz-Edikt anno 1998 stünde der Hauptstadt eingangs des 21. Jahrhunderts besser zu Gesicht als der Versuch eines Innensenators, Deutschtümelei hoffähig zu machen. Übrigens würde auch Friedrich Wilhelm heute eher einen Christdemokraten, denn einen Linken abgeben. Auch er bemaß den Wert „ausländischer“ Mitbürger nach ihrer Verwertbarkeit; ganz ähnlich, wie es in Berliner CDU-Papieren heißt: „Diplomaten, Politiker und vor allem Geschäftsleute, Unternehmen und Wissenschaftler aus aller Welt sind bei uns herzlich willkommen“, aber im übrigen könne Berlin nicht das Sozialamt der Welt sein.

Der Welt? Jährlich 0,7 Prozent „Solidarbeitrag“ stellte Helmut Kohl 1993 in Aussicht, um weltweite Sozial- und Entwicklungskonflikte zu mindern, an denen die „westliche Welt“ keineswegs unschuldig ist und von denen die Bundesrepublik in einer globalisierten Welt eher früher als später heimgesucht werden wird. Die Privatvermögen weniger stiegen auf weit über 5 Billionen Mark, während der Steueranteil großer Konzerne in Deutschland gegen Null tendiert. Der Stammtisch nennt die Schuldigen: zu viele und zu kriminelle Ausländer.

Sondern armenfeindlich?

Das vermeintliche Ausländerproblem entpuppt sich ohnehin als deutsche Frage, sobald andere „kritische Größen“ einbezogen werden: Unangepaßte, Alternative, Arbeits- und Obdachlose, Bettler, all jene, die der aufstrebenden Weltmetropole schlecht zu Gesicht stehen und daher an den Stadtrand verbracht werden. Polizeistrategie statt Sozial- und Wirtschaftspolitik, Abschiebung statt Integration, Reinheitsgebot statt Vielfalt. Das unseriöse Ablenkungsmanöver von Schönbohm & Co., wonach Deutschland nicht die Probleme der Welt lösen könne, gerinnt so zum Eingeständnis, daß die herrschende Politik nicht einmal „inländische“ Probleme lösen kann oder will.

„Wir sind nicht ausländerfeindlich“, fabulierte hierzu der Schriftsteller Christoph Hein sarkastisch, aber treffend. Nur die zunehmende Armut kotze uns an, egal in welcher Hautfarbe sie „uns den Krieg erklärt“. Die damit beschriebene soziale Frage braucht nicht assimiliert, also eingedeutscht zu werden. Sie ist mit uns und harrt drängender Lösungen.

Petra Pau ist Landesvorsitzende der Berliner PDS. - Bisher äußerten sich zu Schönbohm Sibylle Tönnies (24. Juni), Andrea Fischer (26. Juni), Gustav Seibt (4. Juli) und Wolfgang Thierse (8. Juli).

Feuilleton der „Berliner Zeitung“
13.07.1998

 

 

13.7.1998
www.petrapau.de

 

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