Berlin: Eine Haupt-Stadt sucht sich

Der Neuanfang braucht Courage und Weitsicht
von Petra Pau
Aritkel für Mitgliederzeitschrift „Disput“:

Berlin, Nikolai-Kirche, Januar 1991: Das vor Monatsfrist gewählte Gesamt-Berliner Abgeordnetenhaus konstituiert sich, mit Pathos und erhöhtem Polizeischutz. Vor dem Portal wurde protestiert - „Kein Krieg am Golf!“ - die PDS war dabei. Auf die Bildung des sechsten neuen Bundeslandes fiel also kein guter Stern, außenpolitisch nicht, aber auch drinnen mangelte es an Weitsicht.

Die Nikolai-Viertel gilt als Wiege Berlins. Nun sollte hier der ost-west-vereinigte Stadtstaat besiegelt werden und so geschah es auch. An einer scheinbar nebensächlichen Frage wurde geklärt, wer das Sagen hat und wo es lang gehen soll. CDU und FDP wollten die nunmehr 12. Legislatur-Periode des Abgeordnetenhauses eröffnen. PDS und Bündnis 90 / Die Grünen plädierten für einen gemeinsamen Neuanfang. Die Zählung sollte daher mit Numero eins beginnen. Die SPD votierten mit der CDU. Ein Kardinal-Fehler nahm seinen Lauf, ein ruinöser.

Der so beiläufig abgestimmte machtvolle Glaube, die Einheit der Stadt ließe sich mit dem ‚alten’ West-Berliner Personal und mit den ‚alten’ West-Berliner Methoden meistern, war verhängnisvoll. Dieses „System West-Berlin“, ein schon zu Literatur (1) geronnener Mix von Größenwahn und Weiterso, von Korruption und Filz, überschattete selbst das, was in Berlin derweil wirklich geleistet wurde. Vor allem: Es hinterließ anno 2001 eine hilfesuchende Metropole mit einem Schuldenberg von 70, wahrscheinlich sogar 100 Milliarden Mark. Heute haben wir eine Hauptstadt, in der Glas-Paläste reichtun und Schul-Häuser verfallen, in der Love-Paraden tollen und Armen-Küchen brodeln, vor allem aber eine Haupt-Stadt, von der niemand recht sagen kann, wozu und für wen sie gut ist.

Wahn-Träume ins Desaster

Seit 1990 mühen sich Wissenschaftler, Journalisten und Politiker, auf Konferenzen und im Feuilleton, diese überaus wichtige Frage zu beantworten. Wodurch könnte Berlin Perspektiven gewinnen? Weder der Ost- noch der Westteil der Stadt waren zukunftsfähig. Beide hatten ihre politische Stellung aus der Teilung bezogen, die nun zu überwinden war. Beide hingen am finanziellen Tropf, von dem sie alsbald abgeschnitten wurden. Und beide fußten auf dünnen Wirtschaftssäulen, die im Osten ersatzlos zusammenbrachen und im Westen von ihren fernen Gönnern enterbt wurden. Was also sollte nun aus dem neuen Groß-Berlin mit seinen Millionen Einwohnerrinnen und Einwohnern werden?

Die Landesregierung entschied sich für ein Konzept und nannte es „Unternehmen Berlin“. Umschreiben lässt es sich mit „nachholender und beschleunigter Entwicklung zu einer kapitalistischen Spitzen-Metropole“. Den Wettbewerb mit Paris, London, Amsterdam und Frankfurt am Main vor Augen, sollte Berlin nach vorn katapultiert werden. Die nötige Schwungkraft erhoffte man sich von außen. Was Vertrauen ins Eigene kleinschrieb, aber alles förderte, was Geld und Eliten in die Stadt locken könnte oder aber die Welt auf diese Stadt schauen ließe. Drei Beispiele nur mögen die Illusion illustrieren.

Seit 1990 wird am „Luftdrehkreuz Berlin“ gebastelt. Erste Wunschrechnungen gingen von 70 Millionen Fluggästen aus, jährlich. Das Passagieraufkommen aller drei Berliner Flughäfen liegt derzeit bei knapp 13 Millionen, also kein Fünftel der Überpläne. Noch laufen die Genehmigungs- und Gerichtsverfahren für oder gegen das - auch ökologisch betrachtet - Wahnsinns-Projekt. Der Widerstand in der betroffenen Bevölkerung ist verständlich groß. Zumal derweil im märkischen Flugsand Hunderte Millionen Steuermark verschwanden, die den Ländern Berlin und Brandenburg, auch dem Bund, fehlen, für Besseres.

Der zweite Großflop war die Olympia-2000-Bewerbung. Die Spiele sollten Berlin einen viel beachteten Image- und Prestigegewinn bringen, koste es, was es wolle. Sie gingen an Sydney. Dabei hatte ‚Berlin’ getan, was es halt vermochte. Vor der Entscheidung wurden geheime Dossiers über IOC-Mitglieder angelegt, um sie cleverer bestechen zu können. Nach der Pleite wurden über Nacht Akten und andere Beweismittel vernichtet. Der vermeintlich Hauptschuldige des Debakels wurde mit einem hochdotierten Führungsposten bei der S-Bahn versorgt - typisch „System Westberlin“.

Das dritte Standbein, auf dem die Metropolen-Träume des Senats fußten, war der Parlaments- und Regierungsumzug vom Rhein an die Spree. Ihm zu Liebe wurden sogar Berliner Stadtrechte an den Bund abgetreten. Der entsprechende „Hauptstadt-Vertrag“ wurde seinerzeit in der Sommerpause und am Abgeordnetenhaus vorbei geschlossen. Bundestag und große Teile der Bundesregierung kamen derweil nach Berlin, wenn auch viel zu spät und unnötig aufwendig. Seither hat „Berlin“ auch Nachrichtenwert. Aber nicht als Land, sondern als Synonym für Bundespolitik. Was aber ist mit der Frage: Womit kann Berlin Sinn und wodurch Zukunft gewinnen?

Die zweite Chance nach St. Nikolai

Nun ist Wahlkampf-Zeit, vorgezogene. Berlin politisiert sich. Am Beginn stand eine publik gewordene CDU-Spenden-Affäre. Deren Spuren führten zu Partei-Buch-Geschäften der Landesbank. Die wiederum steckt darob in einer derben Verlust-Krise und schlafft den ohnehin gebeutelten Landeshaushalt noch mehr.

Wahlen in der Hauptstadt sind ein besonderes Politikum. Allemal, seit sich die Berliner SPD aus der Umklammerung der CDU gelöst und mit Hilfe der PDS die große Koalition aufgelöst hat. Was als Tabu-Bruch gilt und auch einer war. Zu Lasten der CDU, die damit ihre Regierungs-Garantie verlor. Entsprechend tönt sie. Man werde „die Stadt nicht den Kommunisten vor die Füße werfen“. Die CSU rekrutiert bajuwarische Freischärler, die an der „Schlacht um Berlin“ teilhaben wollen. Und so wird mehr mit Vergangenem gedroht, als mit Zukunft geworben. Gewönne diese Stimmungsmache Oberhand, verlöre Berlin seine zweite Chance auf einen Neuanfang.

Die „zweite Chance“ stammt übrigens aus einer jüngst veröffentlichten Berlin-Studie - „Strategien für die Stadt“ (2). Ex-Bürgermeister Diepgen (CDU) hat sich darin mit einem Vorwort verewigt. Mehr Interesse des damals Regierenden an den dargelegten Zukunfts-Optionen habe er nicht bemerkt. Das meinte Prof. Dr. Klaus Brake, einer der maßgebenden Autoren der Studie, in einem Interview. Die Berliner PDS begrüßte den Wissenschaftler jüngst als Klausur-Referenten und kritischen ‚Ratgeber“ für das eigene Wahlprogramm. Wir wollten Wissen, allemal Gewissheiten, mitnichten aus dem eigenen Spektrum reproduzieren. Linke Sichten müssen sich mit anderen Kompetenzen reiben und bestehen.

Es gab ein hohes, übereinstimmendes Maß, im Grundsatz, was Kontras im Detail überhaupt nicht ausschließt. Aber allein die Projektion, wonach „Berlin Ost und West zugleich“ ist und gerade deshalb eine gestaltbare Rolle für die europäische Integration haben könnte und suchen müsste, ist ein dickes Ausrufezeichen wert. Eben weil damit nicht versucht wird, den Osten zu verwesten. Nicht Einheit, nicht Anpassung, gar Unterwerfung, sondern ein vielfältiges Miteinander - das empfiehlt die Studie als besondere Pforte. Und mithin eine Weltoffenheit, die Einwanderung nicht als Last, sondern als Bereicherung begreift.

Geradezu prägend ist die Mahnung, neue Prioritäten zu setzen und diese auch gegen Widerstände durchzuhalten. Zu fördern ist, was künftig wirklich wesentlich wird und was Berlin auszeichnen könnte: Eine Stadt des Wissens, mit anziehender Hoch- und provokanter Subkultur. Was leicht daher gesagt ist, aber de facto heißt: Trend wenden, neue Prioritäten setzen, einen anderen Politikstil prägen. Die Studie beschreibt eine „Leitidee“ für ein „zivilgesellschaftlich geprägtes Gemeinwesen“. Im PDS-Wahlprogramm (3) heißt es: „Dafür bedarf es einer neuen politischen Kultur des Miteinander, des Zuhören-Könnens, der Fähigkeit zum vorurteilsfreien und fairen Diskurs. Politik für die ganze Stadt ist mehr als Parteipolitik.“ Wohl wahr, der nötige Neuanfang ist ein gesellschaftliches Ereignis, fern purer Staats-Gläubigkeit.

Für gewöhnlich heißt es im Wahlkampf: Schauen Sie, welchen Murks die Konkurrenz bietet, staunen Sie, was wir haben, und wählen Sie - uns! Für die zweite und auf lange Zeit letzte Chance Berlins, reicht das nicht. Weshalb das PDS-Wahlprogramm auch bewusst als Einladung zum Gespräch gehalten ist. Auch darüber, wie der hochverschuldete Landeshaushalt - miteinander - konsolidiert werden könnte.

Als „Partei der sozialen Gerechtigkeit“ einen verluderten Haushalt solide ‚sparen’ und das auch noch als linke Alternative verkaufen? Ich kenne diese zweifelnden, bohrenden Fragen. Zuweilen schallt es „Verrat“, die sozialistische Idee werde verhökert, weil die „Fleischtöpfe der Macht“ locken. Ich höre das und doch: Wo ist die bessere Antwort für einen „Neuanfang in und für Berlin“? Der Kampf um soziale Gerechtigkeit geht verloren, wenn er sich allein auf bessere Zeiten kapriziert und bis dato die eigene, oppositionelle Unbeflecktheit streichelt. Auf Berliner Verhältnisse übersetzt - seit Jahren ist Allgemeingut: Ohne oder gegen die PDS wird es keinen Politikwechsel geben. Da ist nicht nur Adam Ries vor. Ohne SPD allerdings auch nicht. Das ist die Herausforderung.

Komfortabel ist das wahrlich nicht, bestenfalls eine Ironie der Geschichte. Wenn „die Säcke leer sind“, meint Gregor Gysi doppelsinnig, dann schlage „die Stunde der Linken“. TV-Star Harald Schmidt karikierte das drastischer: „Früher kamen erst die Kommunisten und dann die Pleite. In Berlin ist es andersrum.“ Ich meine: Die Lage ist wirklich und bitter Ernst. Auch deshalb: Spaß soll, Courage und Weitsicht müssen sein!

 


(1)

z.B.: Mathew D. Rose, „Berlin - Hauptstadt von Filz und Korruption“, Droemer / Knaur, 1997

(2)

Die Berlin-Studie: „Strategien für die Stadt“, REGIOVERLAG Berlin, 2000

(3)

s. www.pds-berlin.de, „Miteinander für Berlin“, Wahlprogramm der PDS-Berlin, 2001


 
 

 

September 2001
www.petrapau.de

 

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