Lieber Harry Walther,
ich teile ihre Beobachtung: gemessen an der Tiefe der Veränderungen zu Lasten des Sozialem, der Bürgerrechte und des Friedens ist der Protest dagegen schwach entwickelt. Es gibt Ausnahmen. Ich erinnere an die Demonstrationen von Millionen in Berlin und weltweit gegen den drohenden Irak-Krieg. Es gab auch zwei große Demonstrationen gegen Sozialabbau und Hartz IV. Aber sie gingen vorüber und die Politik zog weiter.
Über die subjektiven Gründe für den mangelnden Widerstand könnt eich nur spekulieren. Das will ich nicht. Aber es gibt auch objektive. Einer liegt in der wirtschaftlichen und damit in der gesellschaftlichen Entwicklung. Das Industriezeitalter ist vorbei und damit auch die gemeinsamen Prägungen von großen Menschengruppen in großen Unternehmen.
Wer arbeitslos wird, lebt vereinzelt. Aber auch in der Arbeitswelt nehmen die Kleingruppen und der Wechsel zu. Das erschwert die Organisation und das spüren auch die Organisationen, nicht zuletzt die Gewerkschaften.
Hinzu kommt ein zweiter Fakt. Wir leben in einer Medien-Gesellschaft und der Meinungseinfluss der Medien ist größer denn je. Aber er ist nicht unbedingt vielfältiger und kontroverser. Sie dir die namhaften Talkshows an. Fast überall dieselben Leute, meist Männer. Fast überall dieselben Themen. Fast überall dieselben Botschaften. Widerspruch ist selten, bestenfalls in politischen Magazinen. Das schafft den so genannt mainstream.
Die generelle Subbotschaft heißt fast überall: Zu den so genannten Reformen gibt es keine Alternativen. Das wirkt. Es wird zwar nicht unbedingt geglaubt, denn das Gefühl vieler sagt, ja, es fordert etwas anderes. Aber politische Alternativen bekommen kaum gute Sendezeiten und -plätze. Sie finden in der großen Medien-Welt nicht statt und was da nicht stattfindet, das gibt es de facto nicht. Du ahnst, ich weiß worüber ich schreibe.
Nun wäre ich halbherzig und unehrlich, wenn ich mit dieser Einschätzung enden würde. Denn es gibt auch andere Entwicklungen, gegenläufige. Eine ist das Internet. Attac wäre als weltweite Bewegung ohne das weltweite Gewebe nicht denkbar. Das Internet z. B. bietet eine völlig neue Qualität der Kommunikation. Es gibt keine Zentrale, die vorgibt, was gesendet wird. Es gibt überhaupt keinen zentralen Sender. Es ist ein Netzwerk und dieses Kommunikations-Prinzip spiegelt sich auch im politischen Raum. Nicht Großorganisationen, sondern Netzwerke sind möglicherweise eine adäquate Antwort auf die objektiv neuen gesellschaftlichen Bedingungen.
Wohl bemerkt: Eine Antwort und sie ist natürlich nicht da. Sie muss gesucht und gegeben werden. Aber grundsätzlich wage ich die These: Das Industriezeitalter brachte organisierte Menschen mit sich. Das Informationszeitalter birgt selbstbewusste und besser informierte Menschen in sich. Es gibt also auch Chancen. Wir müssen sie politisch ausloten und nutzen.
Mit solidarischen Grüßen
Petra Pau,
Berlin,
6. August 2005
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