Offene Antwort auf anonymen Brief

Sehr geehrter Berliner,

Sie haben mir geschrieben, dafür danke ich Ihnen, auch für Ihre Kritik. Ich entnehme Ihrem Brief, dass Sie gelernter DDR-Bürger sind, dass Sie noch Arbeit, aber zu schlechten Bedingungen haben. Sie fänden es richtig, wenn „Hartz IV“ verschärft würde, weil es „genügend Schmarotzer und Parasiten in allen Gesellschaftsschichten gibt, die auf Kosten des Gemeinwesens leben“.

Gestern hat die Bundesagentur für Arbeit die Ergebnisse einer Untersuchung veröffentlicht. Sie hat bei ALG-II-Empfängern einen Datenabgleich durchgeführt, um jenen auf die Spur zu kommen, die Hartz-IV-Leistungen missbrauchen. Das Ergebnis: Es sind ca. 60.000 Menschen bundesweit. Das ist viel. Aber gemessen an 7,5 Millionen ALG-II-Empfängern sind es wenig.

Oder anders gesagt: Um 0,8 Prozent aller Hartz-IV-Betroffenen drehen sich derzeit nahezu 100 Prozent aller Hartz-Debatten. Und nicht etwa um die über vier Millionen, die arbeiten wollen, aber keine Stelle erhalten. Ich halte die Missbrauchs-Debatte nicht für überflüssig. Aber die Relationen stimmen nicht. Die herrschende Politik spielt falsch. Die LINKE sollte das nicht mitmachen.

Richtig amoralisch wird es, wenn Langzeitarbeitslosen vom SPD-Vorsitzenden dringend empfohlen wird, sie mögen nicht alles mitnehmen, was ihnen zusteht. Haben Sie schon mal einen Manager gehört oder einen Bundesminister, der sich beschwert hat, dass sein Salär zwar rechtlich ok., aber seiner Meinung nach zu hoch ist und die deshalb darum bitten, weniger überwiesen zu bekommen?

Ich kenne einen einzigen Fall in der jüngeren Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Als Rot-Rot in Berlin mit den Beschäftigten im Öffentlichen Dienst einen „Solidarpakt“ aushandelte, der u. a. kürzere Arbeitszeiten für weniger Lohn vorsah, da verzichteten die Senatorinnen und Senatoren selbst auf üppige Urlaubs- und Weihnachtsgelder. Aber das ist die absolute Ausnahme.

Meine erste Bitte ist daher:
Auch wenn Sie Hartz-IV-Betroffene kennen, von denen Sie annehmen, sie würden sich unrechtmäßig bereichern, lassen Sie sich trotzdem nicht auf dieses Nebengleis der politischen Auseinandersetzungen locken. Das Missbrauch-Volumen beträgt nach Ermittlungen der Bundes-Agentur 35 Millionen EURO. Soviel und viel mehr stecken die Ackermanns & Co. auf einen Streich ein.

Sie geben in Ihrem Brief Bundeskanzlerin Merkel Recht, wenn diese sagt: „Wer arbeitet, müsse auch mehr bekommen, als der, der nicht arbeitet.“ Bis dahin folge ich Ihnen und der Bundeskanzlerin sogar weitgehend. Aber nicht mehr bei den Schlussfolgerungen. Die große CDU-SPD-Koalition will die Bezüge der Arbeitslosen kürzen. Die LINKE will die Löhne der Arbeitenden erhöhen.

Deshalb fordern wir aktuell einen gesetzlichen Mindestlohn von 8 Euro je Arbeitsstunde. Diese Zahl kommt nicht von ungefähr. Es gibt nach bundesdeutschem Recht eine Pfändungsgrenze. Sie liegt etwas unter 900 Euro pro Monat netto. Wer weniger verdient, darf nicht gerichtlich belangt werden, weil er sonst in die Armut fällt. Brutto entspricht das etwa 1.400 Euro.

Sie beklagen, dass ein alleinerziehender ALG-II-Empfänger mit einem Kind nach Berechnung der Berliner Zeitung 1.390 Euro/Monat erhält. Ich beklage, dass inzwischen in vielen Gewerben die Monatslöhne unter 600 Euro liegen, also trotz Vollzeit-Job unter der Armutsgrenze. „Von Arbeit muss man Leben können“, und zwar in Würde! Das ist unsere Alternative zur Unions-Forderung.

In 18 der 25 EU-Länder gibt es gesetzliche Mindestlöhne in der beschriebenen Höhe. Und in allen diesen 18 Ländern ist die Arbeitslosigkeit niedriger als in Deutschland. Das sollte doch zumindest nachdenklich stimmen. Die LINKE hat immer betont: Deutschland darf kein Niedriglohn-Land werden. Die Billig-Strategie ist falsch, sie ist sozial verwerflich und obendrein ökonomisch fatal.

Deutschland ist Export-Weltmeister. Das spricht für eine Wirtschaftskraft, die im globalen und unerbittlichen Wettbewerb bestehen kann. Aber Deutschland hat einen schwindsüchtigen Binnenmarkt. In allen großen Wirtschaftsnationen sind die Netto-Gehälter in den letzten zehn Jahren gestiegen, in den USA, in Frankreich, in England, in Skandinavien und zwar zwischen 10 bis 25 Prozent.

Nur in Deutschland sind sie gesunken, real um 0,8 Prozent und das bei steigenden Preisen. Die Folgen sind leicht auszurechnen: Die Kaufkraft sinkt und damit die Nachfrage. Gibt es weniger Nachfrage, dann schwinden auch die Aufträge, insbesondere für heimische klein- und mittelständische Betriebe. Damit steigt die Zahl der Konkurse und folglich die Arbeitslosigkeit.

Daher meine zweite Bitte:
Lassen Sie sich nicht von wohlfeilen CDU-Slogans, wie vom „Lohnabstandsgebot“ oder „sozial ist alles, was Arbeit schafft“, auf eine falsche Fährte locken. Sie haben, wie Sie schreiben, als DDR-Bürger etwas über die politische Ökonomie des Kapitalismus gelernt, was Sie nun leibhaftig erfahren. Heiner Müller schrieb nach der Vereinigung: „Wir stecken jetzt knietief im Kapitalismus.“ Das war keine Ostalgie. Das war ein merk-würdiger Befund.

Ich habe mich immer bemüht, bei meinen öffentlichen Auftritten und überhaupt, nicht in purer Harz-IV-Schelte zu verharren. Wenn Sie dennoch diesen Eindruck haben, wie Sie schreiben, muss ich natürlich darüber nachdenken. Aber mein grundsätzliches politisches Credo ist: Ich will Alternativen zur herrschenden Politik aufzeigen. Und ich will Mitstreiter für diese Alternativen gewinnen.

Das hat übrigens noch einen speziellen Grund. Die so genannte Arbeitsmarktreform, also Hartz I-IV, betrifft sehr viele. Sie wird von Links und von Rechts attackiert. Die NPD übernimmt längst Texte der Linkspartei.PDS und gestaltet diese auf Flugblättern zum Verwechseln ähnlich. Sie will auf der Protest-Woge gegen Hartz IV ihr braunes Süppchen zu kochen.

Das lässt sich nicht verhindern. Und genau deshalb reicht es nicht, wenn die Linkspartei nur ihr Nein kultiviert. Sie muss mit ihren Alternativen überzeugen. Denn erst dann wird der fundamentale Unterschied zwischen Rechts und Links erfahrbar. Das ist wichtig, zumal es bundesweit täglich 2 ½ Gewalttaten mit rechtsextremen Motiven gibt, zumeist gegen vermeintlich Undeutsche.

Damit bin ich bei meiner dritten Bitte:
Sie schreiben, „kopfschüttelnd“, wie viele aus „Gott und aller Welt“ bei der AOK erscheinen und sich „auf unsere Kosten gesund pflegen“ lassen. Ich wäre froh, wenn wir möglichst viele Geschundene gesund pflegen könnten. Und ich werde hellhörig, wenn deutsche Unternehmen weltweit Gewinn ziehen, aber mit den sozialen Folgen ihres Geschäfts nichts zu tun haben wollen. Dieser kapitalen und unsozialen Logik sollten wir als Linke nicht folgen und wir sollten sie schon gar nicht pauschal bei den Betroffenen abladen.

Mit solidarischen Grüßen
Petra Pau,
Berlin, 21. 06. 2006
 

 

 

21.6.2006
www.petra-pau.de

 

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