Einer trage des anderen Last

Rede von Petra Pau (PDS im Bundestag) auf der Montags-Demo in Halle/Sa.
20. September 2004

1. Sozialstaat
Die Älteren werden sich noch erinnern. Es gab zu DDR-Zeiten einen Film, der hieß: „Einer trage des anderen Last!“ Es war ein guter Film. Es war ein gesellschaftskritischer Film, der zugleich Mut machte.
Das Motto - „einer trage des anderen Last“ - stammt übrigens aus der Bibel. Es beschreibt auch das, was ich mir unter einem Sozialstaat und unter einer solidarischen Gesellschaft vorstelle:
Die Reichen helfen den Armen, die Gesunden helfen den Kranken, die Jungen helfen den Alten und wer Arbeit hat, hilft den Arbeitslosen. Davon aber entfernt sich die Bundesrepublik Deutschland immer mehr. Deshalb demonstriere ich hier in Halle und anderswo. Ich will eine Gesellschaft, in der es sozial und gerecht zugeht, in der alle der anderen Last tragen.

2. „gottlos“
„Hartz IV“, die so genannte Reform, die viele umtreibt, wurde übrigens am 19. Dezember 2003 beschlossen. Ich erinnere mich gut daran. Sie werden gleich merken, warum. Es war ein Freitag, der letzte vor Weihnachten. Der Bundesrat und der Bundestag tagten parallel. Es ging um „,Hartz IV“.
Als die Debatte im Bundestag begann, forderten wir, die Abstimmung zu verschieben. Das Gesetz umfasst viele Hundert Seiten. Wir bekamen sie kurz vor der Abstimmung. Kein Abgeordneter konnte sie in der kurzen Zeit lesen.
Gleichwohl wurde ich von der CDU/CSU als „gottlos“ beschimpft. Sie wollten nicht verschieben, sondern ein geruhsames Weihnachtsfest. Das wiederum finde ich unchristlich. Denn würde Jesus leben, er wäre gewiss heute hier oder auf einer anderen Montags-Demo!

3. Mit-Esser
Nun hat Bundeskanzler Schröder beklagt, es gäbe eine weit verbreitete Mitnehmer-Mentalität. Und dieses „Mitnehmen, wo man nur kann“, würde den Sozialstaat kaputt machen. Ich finde: Er hat Recht - im Prinzip. Aber er hat Unrecht - im Konkreten.
Neulich hatte ich eine Fernseh-Diskussion. Ich stritt mit einem jungen FDP-Politiker über „Hartz“ und über Manager-Bezüge. Ich erinnerte an den Vodafone-Deal und an die Abfindungen für Esser, Ackermann und andere. Sie kassierten Zig-Millionen, während zugleich Zig-Tausende in die Arbeitslosigkeit entlassen wurden.
Das sei normal und richtig in der Globalisierung, wurde mir gesagt.
Was, frage ich, soll normal und richtig sein, wenn die Reichen immer reicher und die Armen immer zahlreicher werden? Ich finde: Das ist nicht normal, das ist asozial.

4.    1.350 Jahre
Ich habe hochgerechnet: Allein für die Sonderprämie von Esser & Co. müssten Normal-Arbeiter 1350 Jahre arbeiten. Das schafft natürlich keiner. Dagegen spricht die Erfahrung, dagegen spricht die Biologie und dagegen spricht auch die so genannte Gesundheitsreform. Der FDP-Globalisierer ließ sich dennoch nicht erschüttern. Er warf mir vor, ich würde eine Neid-Diskussion schüren.
Nein, Neid ist nicht mein Thema. Mein Thema heißt soziale Gerechtigkeit. Und deshalb bleibe ich dabei: „Hartz IV“, und die „Agenda 2010“ sind ein Gegenentwurf zu einer modernen, sozialen und gerechten Republik!

5. Agenda sozial
Nun wird immer wieder gesagt: Die so genannten Reformen seien alternativlos. Lassen Sie sich das bitte nicht einreden. Es gibt immer Alternativen. Ich werbe zum Beispiel für eine „Agenda sozial“ als Gegenentwurf zur „Agenda 2010“. Auch die „Agenda sozial“ drängt auf Veränderungen. Denn es ist richtig: Wir leben nicht mehr im 19. Jahrhundert, sondern im 21. und deshalb muss reformiert werden.
Eine „Agenda sozial“ wäre allerdings anders gestrickt, als die „Agenda 2010“. Und sie hätte drei entscheidende Voraussetzungen:
•  Wir brauchen erstens eine andere Steuerpolitik, eine, die von oben nach unten umverteilt und nicht anders herum.
•  Wir brauchen eine andere Sozialpolitik, eine die gerecht und solidarisch wirkt und nicht die Betroffenen zusätzlich belastet.
•  Und wird brauchen mehr Demokratie und keine „Basta“-Politik.

6. Gift für den Osten
„Hartz“ wird übrigens auch nicht bringen, was versprochen wird, im Gegenteil. Die Wirtschafts- und Arbeitsminister aller neuen Bundesländer, also quer durch die Parteien, haben im Frühjahr vorgerechnet: Wenn Hartz IV greift, wenn die Arbeitslosenhilfe verschwindet und stattdessen ALG II gezahlt wird, dann gehen dem Binnenmarkt allein im Osten rund 1 Mrd. € verloren. Eine Mrd. € weniger Kaufkraft, das sind 1 Mrd. € weniger Nachfrage. Und eine 1 Mrd. weniger Nachfrage wird weitere kleine und mittlere Unternehmen in den Konkurs treiben. Unter dem Strich wird es also nicht weniger, sondern mehr Arbeitslosigkeit geben. Deshalb wiederhole ich: Hartz ist schlecht für den Westen und Gift für den Osten.

7. Kein Ost-West-Konflikt
Deshalb habe ich auch eine dringende Bitte: Wir dürfen nicht den falschen Kritikern auf den Leim gehen. „Hartz IV“ und die gesamte „Agenda 2010“ sind kein Ost-West-Konflikt. Sie treffen alle struktur-schwachen Regionen, egal ob sie Sachsen-Anhalt, Bremerhafen oder Saarland heißen.
An einer Giebelwand in Berlin Kreuzberg steht seit langem und in großen Buchstaben: Die Grenze verläuft nicht zwischen Ost und West, sondern zwischen Arm und Reich. Das ist so und deshalb dürfen wir uns auch keine falschen Konflikte aufschwatzen lassen.
Das gilt übrigens auch für die rassistischen und nationalistischen Parolen. Wer Rechtsextremen auf den Leim geht, hilft weder sich noch anderen.

8. ALG II
Allerdings, auch das gehört zur aktuellen Debatte: Bisher konnte mir noch niemand plausibel erklären, warum das Arbeitslosen-Geld II, das ab 1. Januar 2005 gezahlt wird, im Osten niedriger sein wird, als im Westen. In keinem Geschäft gibt es Rabatte für Ossis. Manche Dinge des täglichen Lebens sind in den neuen Bundesländern sogar teurer als in den alten.
Deshalb haben wir als Minimalforderung gesagt: Wenn schon Arbeitslosen-Geld II, dann einheitlich 400 € plus Miete usw.. Das wäre sogar bezahlbar, wenn man darauf verzichten würde, die Spitzensteuer-Sätze zu senken. Und es wäre erst recht bezahlbar, wenn man wieder eine Vermögens-Steuer erheben würde.
Aber selbst zu solch kleinen, aber wichtigen Korrekturen sind weder die rot-grüne Bundesregierung, noch die CDU/CSU bereit, geschweige denn die FDP bereit.
Deshalb wäre es gut, wenn auch am 2. Oktober möglichst viele, aus Ost und West, aus Nord und Süd, an der geplanten Groß-Demo gegen „Hartz IV“ in Berlin teilnehmen.
 

 

 

20.9.2004
www.petra-pau.de

 

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