Die „Agenda 2010“ und das „Sozialwort der Kirchen“

Thesen anlässlich des 95. Deutschen Katholikentages
Ulm, 18. Juni 2004

1. 

Ein guter Rat meint: „Lies nie in alten Papieren!“ Ich habe es dennoch getan. Das Dokument ist aus dem vorigen Jahrtausend und doch erst sieben Jahre alt. In ihm steht Wunderliches - jedenfalls verglichen mit aktuellen Debatten. Etwa:
„Nur ein finanziell leistungsfähiger Staat kann als Sozialstaat funktionieren.“ Oder: „Wir warnen davor, die Pfeiler der sozialen Sicherung zu untergraben.“
Ich habe gerade aus dem „Sozialwort der Kirchen“ zitiert. Es wurde 1997 vorgestellt. Ein Jahr, bevor Rot-Grün das politische Bundesruder übernahm. Es verstand sich als christliche Einmischung, als Wegweiser und als Kritik an der Kohl-Ära.

2. 

Bei „Christiansen“ höre ich anderes. Etwa: „Deutschland war nie so arm, wie jetzt!“, meinte ein namhafter Bundes-Politiker. Das verstößt natürlich gegen das achte Gebot: „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden…“ (2. Moses 20). Aber es gab Beifall. Dabei stimmt das Gegenteil: Es gab noch nie soviel Reichtum in Deutschland, wie derzeit.
Richtig ist allerdings: Der Sozialstaat verarmt. Korrekter: Er wird verarmt und entwertet. Vor allem, weil ein weiterer Rat aus dem „Sozialwort“ vorsätzlich in den Wind geschlagen wird: „Nicht nur Armut, auch Reichtum muß ein Thema der politischen Debatte sein!“
Wenn ich im Bundestag eine Vermögenssteuer fordere - die PDS tut es immer noch - dann höre ich: „Neid-Steuer!“ Aber solange es Konzerne gibt, die als Unternehmen weniger Steuern zahlen als ihre Putzfrauen, solange drohen nicht Neid und Missgunst, sondern Unrecht und Armut.
„Wir wollen keine Neid-Gesellschaft“, sagte Guido Westerwelle jüngst auf dem Parteitag der FDP, „wie wollen eine Anerkennungs-Gesellschaft, eine Gesellschaft, die anerkennt, wenn jemand an der Spitze steht und andere mitzieht!“ (Dresden, 05. 06. 2004)
Mir fielen da sofort die Herren Ackermann und Esser an. Sie waren Spitze bei der Deutschen Bank und bei Mannesmann. Sie haben nach der Übernahme durch Vodafone Zig-Millionen Euro Abfindung kassiert. zugleich wurden Tausende entlassen.
Ich bin nicht neidisch. Aber ich will das auch nicht anerkennen. Allein für das Spitzen-Honorar von Ackermann & Co. müsste ein Normalsterblicher 3.000 Jahre lang arbeiten. Er schafft es natürlich nicht und das liegt nicht nur an der Arbeits- und Gesundheitspolitik.
Vor kurzem diskutierte ich im Fernsehen mit einem jungen FDP-Mitglied über die exorbitanten Spitzengehälter für Manager in deutschen Unternehmen. Er war dafür und begründete das mit dem internationalen Wettbewerb und der Globalisierung. Dieselbe Begründung wird aufgeführt, wenn es um mehr Niedriglöhne und ungeschützte Arbeitsverhältnisse geht. Es stimmt also was nicht - im Kopf mancher Politiker und in der Politik überhaupt. Die Maßstäbe trudeln.

3. 

Das 21. Jahrhundert ist nicht mehr das 20. Jahrhundert. Nehmen wir die Sozialsysteme. Sie wurden zu Zeiten großer Fabriken erdacht. Die Zahl der Beschäftigten war das Maß der Dinge und dazu die Höhe der Löhne. Dementsprechend wurde eingezahlt, in die Krankenkasse, in die Rentenkasse, in die Arbeitslosenkasse. Pari-Pari, die Arbeitnehmer ihren Anteil und die Arbeitgeber die zweite Hälfte.
Dieses Maß taugt nicht mehr. Weder die Zahl der Beschäftigten, noch die Länge der Arbeitszeit entscheiden heute über Größe und Gewinn. High-Tec-Klitschen sind häufig viel profitabler und Wissen schafft Reichtum, nicht Maloche. Das ist Trend. Das liegt in der Natur der Technik. Und das wusste schon ein gewisser Karl Marx.

4. 

Damit stehen wir aber vor einem Problem. „Wir warnen davor, die Pfeiler der sozialen Sicherung zu untergraben“, hieß es im Sozialwort der Kirchen. Sie werden aber längst untergraben, weil ihr Maß nicht mehr stimmt. Hinzu kommen demografische Herausforderungen, die viel zitierte Globalisierung und anderes mehr.
Deshalb haben alle Recht, die sagen: Es ist höchste Zeit für radikale Reformen - gerade auch mit Blick auf die Sozialsysteme. Wer sie erhalten will, der muss sie ändern, der muss ins Tragwerk neue Pfeiler einziehen. Genau das passiert aber nicht. Im Gegenteil: Pfeiler werden angesägt und eingerissen. Das muss zur Schieflage und das kann zum Einsturz führen.
Übrigens nicht nur materiell, auch ethisch und moralisch. Wir erleben längst einen Kampf der Generationen, jung gegen alt. „Ich kann durchaus auf etwas Rente verzichten, damit die Jugend eine Chance erhält.“ Das sagte jüngst eine Seniorin im Fernsehen und sie meinte es gut. Die Grünen diskutieren ebenso. Und viele glauben inzwischen daran. Inzwischen wird sogar öffentlich darüber diskutiert, ob alten Menschen noch derselbe medizinische Standard gebührt, wie jüngeren - ob ihnen kranke Hüften operiert und nötige Behandlungen bezahlt werden sollten.
Ich halte diese Debatte für zynisch und würdelos. Sie missbraucht zugleich den Solidar-Gedanken. Zum einen wird suggeriert, Rentnerinnen und Rentnern gehe es landauf, landab wie Gott in Frankreich. Wir wissen: Das ist falsch. Viele sind nach einem langen Arbeitsleben arm wie eine Kirchenmaus. Noch schlimmer aber ist die immanente Lüge. Denn die Renten- und Sozialkürzungen betreffen nicht nur die Alten. Sie treffen die Jungen genauso, spätestens wenn sie dereinst Rente beziehen oder böse krank werden. Alt und Jung werden gleichsam geschröpft. Sie sollten sich also nicht gegeneinander stellen lassen.

5. 

Die soziale Abbruch-Politik wird aktuell unter der Überschrift geführt: „Lohnnebenkosten senken“. Das ist eine Lieblingsforderung der FDP. Sie wird auch vom Unternehmer-Flügel der CDU/CSU heftig vertreten. Die Folgen erleben wir bei den Renten ebenso wie beim Gesundheitssystem. Ich will es an zwei Beispielen verdeutlichen.
„Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik hat Rot-Grün die Renten gekürzt“, protestierte die CDU Anfang des Jahres. Das stimmte natürlich nicht. Denn schon bei der Einführung der „Riester-Rente“ wurde die künftige Rente herabgesetzt. Zum Ausgleich dafür sollten sich alle privat versichern: Kasko mit Eigenbeteiligung! - frei nach dem FDP-Motto: Was fürs Auto gut ist, kann für den Menschen nicht schlecht sein.
Für Beispiel 2 bemühe ich einen Witz: „Woran erkennt man Ärzte in der Kneipe? - Sie zahlen mit Zehn-Euro-Scheinen!“ Die Praxis-Gebühr gilt seit Anfang des Jahres. Ich nenne sie „Schmidt-Zehnt“. Denn mit der Praxis der Ärzte hat sie nichts zu tun. Vielmehr entspringt der „Schmidt-Zehnt“ derselben Logik, wie die Riester-Rente. Immer mehr Kosten werden aus der paritätischen Finanzierung herausgenommen, immer mehr Beiträge werden den Unternehmen erlassen und immer mehr Lasten werden den unmittelbar Betroffenen übertragen. Die Rezept-Gebühr ist dafür ein weiterer Beleg.

6. 

Der eine Pfeiler - um im Bild des Sozialwortes zu bleiben - wird dünn und dünner. Ich meine den Arbeitgeberanteil. Und der zweite Pfeiler - der Arbeitnehmeranteil - wird überlastet. Das betrifft den Sozialstaat insgesamt. Nehmen Sie die aktuelle Debatte um die Ausbildung. Nur noch jedes 5. Unternehmen bildet aus. Zugleich suchen 200.000 Jugendliche vergebens eine Lehrstelle. Der viel gescholtene Sozialstaat muss mit seinem Vermögen einspringen und Ersatz schaffen.
Wir hatten gestern eine Debatte dazu im Bundestag. Die SPD bekam hämisches Lob von der CDU/CSU, weil sie die bereits beschlossene Ausbildungs-Umlage auf Eis gelegt hat. Ich habe Rot-Grün genau deswegen kritisiert. Das schöne Sprichwort heißt: „Lieber den Spatz in der Hand, als die Taube auf dem Dach.“ Der vage und unzureichende Ausbildungs-Pakt ist das Gegenteil. Statt der Taube in der Hand greift die SPD nach einem flügellahmen Spatz bei MacGeiz.

7. 

Ein beliebtes und Dauer-Thema ist die Steuer-Reform. Jede Partei hat ihr eigenes Modell. Das von Friedrich März passt auf einen Bierdeckel. Da, finde ich, sollte es auch bleiben. Denn unter dem Strich geht es um eine weitere Umverteilung von Unten nach Oben.
Ich bin auch für eine Steuer-Reform. Aber ich werde zugleich hellhörig, wenn Steuern und Subventionen a priori als lästig verteufelt werden. Sie sind Säulen des Sozialstaates und Steuerräder der Politik.
Deshalb stelle ich die Fragen anders, als üblich. Ich diskutiere nicht primär über hohe oder niedrige Steuern, über 3- oder 4-Stufen-Modelle. Ich will vor allem Steuer-Gerechtigkeit. Und ich gebe mit Blick auf den Sozial-Staat eine grundsätzliche Alternative zu bedenken: Entweder das „Prinzip“ oder das „System“ - eines von beiden muss geändert.

8. 

Konkret: Lange Zeit galt das Solidar-Prinzip. Gesunde helfen Kranken, Junge helfen Alte, Reiche helfen Armen, wer Arbeit hat hilft Arbeitslosen. Dieses Prinzip hatte System. Dazu gehörte seine paritätische Finanzierung. Sein Maß war der Lohn.
Genau das aber funktioniert nicht mehr wie ehedem. Also müssen wir uns entscheiden. Wollen wir das Prinzip erhalten - die Solidarität - dann brauchen wir ein anderes System, als das lohn-fixierte. Bleibt man aber „im System“ - wie es politdeutsch heißt - dann verlieren wir die Solidarität. Das ist der eigentliche Punkt, über den der Streit sich lohnen würde.

9. 

Es gibt - keineswegs neu - den Vorschlag, den Arbeitgeberanteil umzustellen - weg vom Lohn oder Gehalt, hin zum Gewinn. Der Fachbegriff heißt „Wertschöpfungs-Abgabe“. Ein solches Maß - orientiert am tatsächlichen Gewinn - die könnte auch die leidige Debatte über Lohnneben-Kosten entschärfen und es wäre eine wirkliche Alternative zur herrschenden Debatte.
Ähnlich verhält es sich mit dem spekulierenden Kapital. Ich meine die Billionen € - eine Zahl mit 12 Nullen vor dem Komma - die tag-täglich weltweit an den Börsen hecken und mit der wirklichen Arbeit nichts zu tun haben. Die Kurse werden aufgeblasen und als Dax oder T-Aktie schon im „Morgenmagazin“ gepriesen. In verlässlicher Unregelmäßigkeit platzt das Bombengeschäft und hinterlässt ein Desaster. Die so genannte Tobin-Steuer könnte diese globale Miss-Wirtschaft zumindest beschränken. Sie wurde vor 30 Jahren erfunden. Praktisch gibt es sie bis heute nirgends.

10. 

Deshalb greife ich noch einmal ins „Sozialwort der Kirchen“. Da heißt es kritisch: „Umverteilung ist gegenwärtig häufig Umverteilung des Mangels, weil der Überfluß auf der anderen Seite geschont wird.“ Das ist ein wahres Wort. Die Umverteilung des Mangels und die Schonung des Überflusses ist aber zugleich das Wesen der „Agenda 2010“.
Folgerichtig hat sie böse Schattenseiten. Immer mehr Leute werden in die Armut gedrängt. Demnächst wird das Arbeitslosengeld II eingeführt. Es sind drohende Almosen unterhalb der Menschen-Würde. Allein in meiner Heimat-Stadt Berlin werden davon 500.000 Menschen betroffen sein - und das in einem der reichsten Länder der Erde. Leider gab es nur zwei Bundesländer, die diesem Sozial-Abbau nicht zugestimmt haben: Berlin und Mecklenburg-Vorpommern.

11. 

Gestatten Sie mir noch eine Weiterung. Die EU-Wahl ist vorbei. Übrigens ehe die EU überhaupt ein richtiges Thema wurde. Die niedrige Wahlbeteiligung belegt, wie uninteressant die Abstimmung war und gemacht wurde. Fragen Sie sich selbst: Was wissen und was bewegt Sie, wenn Sie an die neue Europäische Union denken?
In den Medien und in den offiziellen Polit-Debatten gab es drei, bestenfalls fünf Themen: Die Ost-Erweiterung, der Beitritt der Türkei und eine Volksabstimmung über die künftige Verfassung. Der „Stabilitäts-Pakt“ spielte eine Rolle und der Streit, ob ein Gottes-Bezug in die Verfassung soll.
Im letztgenannten Punkt sind wir wahrscheinlich unterschiedlicher Meinung, denn ich bin dagegen. Aber vielleicht kommen wir uns wieder näher, wenn ich folgende Frage stelle: Was nützt der Gottes-Bezug, wenn in derselben Verfassung der freien Marktwirtschaft das Wort geredet und wenn in derselben Verfassung die Militarisierung der EU-Außenpolitik vorgeschrieben wird? Beides steht konträr zur „Berg-Predigt“ und zu Mahnung in Matthäus: „Du kannst nicht Gott dienen und dem Mammon.“ Diese biblischen Botschaften sind mir - als Sozialistin - wichtiger, als Pseudo-Bekenntnisse in einer Präambel.

12. 

Als Bundeskanzler Schröder im Frühjahr 2003 seine „Agenda 2010“ vorstellte, da habe ich ihm für die PDS im Bundestag geantwortet: „Wir sagen Ja zu ihrem Nein zum Krieg“ - gemeint war der Krieg der USA gegen den Irak und die UNO. „Aber wir sagen Nein zu ihrem Ja zum Sozialabbau!“ Damit waren wir zwei PDS-Abgeordneten, wie es abfällig heißt, die eigentlichen Abweichler vom mainstreem. Denn SPD und Grüne tragen die Agenda 2010. Der FDP geht sie nicht weit genug. CDU und CSU sind sogar die eigentlichen Erfinder dieses Kurses. Nachzulesen im „Zukunftsbericht der Freistaaten Bayern und Sachsen“. Ich empfehle ihn als Lektüre.

13. 

Wir haben der „Agenda 2010“ eine „Agenda sozial“ entgegen gesetzt. Sie ist ein Diskussions-Angebot und sie enthält politische Alternativen für eine soziale und solidarische Zukunft. Die „Agenda sozial“ korrespondiert durchaus mit dem „Sozialwort der Kirchen“. Ich werbe für beide.
Zugleich habe ich einen „Tagesspiegel“-Kommentar von 1997 im Kopf. Seine Botschaft: In den 80er Jahren gab es ein katholisches Sozialwort in den USA. Die Reagen-Regierung hat dennoch den bis dato größten Sozialabbau durchgesetzt.
Die USA-Kirche blieb weitgehend ungehört, so wie die Kirche auch hierzulande - so ist jedenfalls meine Wahrnehmung - viel zu kleinlaut ist, wenn es um irdische Fragen geht. Damit rede ich das alltägliche soziale Engagement vieler Kirchen-Gemeinden nicht klein. Ich schätze es hoch. Aber ich vermisse das große, mobilisierende Wort der Kirche, gerade auch der katholischen.
Deshalb will ich mein Plädoyer für radikale Reformen mit einem der PDS unverdächtigen Kronzeugen abrunden. Als Heiner Geißler noch Generalsekretär der CDU war, da prägte er den Slogan „Freiheit oder Sozialismus!“ Heute mahnt er aus christlicher Sicht: „Solidarität oder Kapitalismus!“ (Vgl.: Intoleranz - Vom Unglück unserer Zeit / 2002) Sie werden verstehen: Das liegt mir näher.
 

 

 

18.6.2004
www.petra-pau.de

 

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