Der Sozialstaat steht auf dem Spiel

Petra Pau auf der Kundgebung in Offenbach am 13. 02. 2004

Der Bundestag hat sich gestern mit dem Jahreswirtschaftsbericht 2004 befasst. Wer auf die Internet-Seiten der SPD guckt, wird dazu den schönen Satz finden:
„Der Jahresbericht 2004 unterstreicht, dass die bisher umgesetzten Reform-Massnahmen der Agenda 2010 (...) eine gute Grundlage und Triebfeder für den nachhaltigen Aufschwung sind.“ Soweit das Selbstlob der SPD. Auf so was muss man erst mal kommen.

Der Blick ins Leben sieht anders aus, allemal aus Sicht der Agenda-Geschädigten. Ich war dieser Tage im Saarland und in Rheinland-Pfalz, in meinem Berliner Wahlkreis ohnehin. „Sagen Sie denen im Bundestag, Frau Pau, was wir von den so genannten Reformen halten, nämlich Nichts!“ Das wurde mir aufgetragen, von Arbeitslosen, von Jungen, von Alten, von Bürgermeistern, von Kranken. Natürlich habe ich das gesagt. Leider ist die PDS im Bundestag derzeit die einzige und noch dazu die kleinste Partei, die gegen die Agenda 2010 ist. Das muss sich ändern, finde ich.

Als ich gebeten wurde, nach Offenbach zu kommen und hier zu sprechen, da wurde mir gesagt: Es geht um die Privatisierung öffentlicher Betriebe. Ich habe zugesagt, weil es um mehr geht: Der Sozialstaat und gute alte Werte, wie Solidarität und Gerechtigkeit, stehen auf dem Spiel. Nicht nur in Offenbach, sondern in Deutschland insgesamt, auch in Europa. Das klingt dramatisch, leider ist es auch so.

Bundeskanzler Schröder hat sich dieser Tage gewundert. „Ich verstehe nicht“, sagte er vor Unternehmern, „wie man aus 10 € Praxis-Gebühr eine Schicksalsfrage machen kann“,. Nun, für viele ist das sehr viel. Ich habe Senioren in Pflegeheimen besucht. Fast ihr ganzes Taschengeld geht für Praxisgebühren drauf. Sage niemand, das sei sozial oder gerecht - es ist das Gegenteil!

Aber die Praxis-Gebühr ist nur ein Steinchen im Mosaik. Nehmen wir die Renten: Sie werden durch die Agenda 2010 gekürzt, zum Teil massiv. Nicht nur für die jetzt Alten, sondern für alle kommenden Generationen. In einem Polit-Magazin hörte ich: „Das ist die erste Renten-Kürzung in der Geschichte der Bundesrepublik.“ Das ist natürlich Quatsch: Es ist die zweite Rentenkürzung seit Rot-Grün. Die erste fiel nur nicht ganz so auf.

Als vor Jahren die künftigen Renten von 68% auf 63% gekappt wurden, da wurde zugleich die „Riester-Rente“ erfunden. Wer später eine ausreichende Rente will, hieß es, der kann sich privat versichern, mit der „Riester-Rente“. Das aber ist dasselbe, als wenn Ihnen ein Taschendieb die Börse klaut und Ihnen hernach eine Diebstahlversicherung anbietet. Sie werden beklaut und verarscht.

Der große Bogen ist bei der Praxis-Gebühr derselbe, wie bei der Riester-Rente. Der Sozialstaat wird abgebaut, die Lebensrisiken werden privatisiert. Statt dessen gibt es Kasko-Versicherung mit wachsender Selbstbeteiligung, frei nach dem FDP-Motto: Was für's Auto gut ist, kann für die Menschen nicht schlecht sein. Ich finde das zynisch!

Vor allem geht das Solidar-Prinzip den Bach runter. Die Solidarsysteme, die Kranken-, Renten- und Arbeitslosenkassen, hatten einst folgenden Grundgedanken: Gesunde helfen Kranken, Verdienende helfen Arbeitslosen, Reiche helfen Armen. Derweil zahlen Kranke mehr als Gesunde, Arme mehr als Reiche, abhängig Beschäftigte mehr als viele Unternehmer.

Experten haben errechnet, dass in großen Unternehmen die Putzfrauen inzwischen mehr Steuern bezahlen, als das Unternehmen selbst. Das kann nicht gesund sein, gerecht ist es auch nicht!

In einer großen Talkshow erklärte ein bekannter CDU-Politiker unlängst: „Deutschland war noch nie so arm, wie jetzt!“ Eine Lachnummer: zumal Deutschland auch 2003 wieder Export-Weltmeister war. Aber gelacht hat niemand. Es hat auch keiner widersprochen.

Richtig ist: Wir haben 4 ½ Millionen Arbeitslose, fast so viele wie am Ende der Kohl-Ära. Das ist schlimm und kostet viel. Richtig ist aber auch: In Deutschland gibt es inzwischen 370.000 €-Millionäre, Tendenz steigend. Ihr Gesamt-Vermögen beträgt unvorstellbare 4 Billionen €. Das ist eine Zahl mit 12 Nullen - vor dem Komma.

Immer, wenn wir die Einführung einer Vermögenssteuer fordern, dann schallt uns von der SPD bis zur CSU entgegen: „Neidsteuer!“ Und immer, wenn wir im Bundestag gegen Kürzungen bei Armen stimmen, dann heißt es: „Alle müssen Opfer bringen!“ Das versteht kein normaler Mensch, das muss auch niemand verstehen.

Am 1. November hatten in Berlin 100.000 gegen diese Politik demonstriert. In wenigen Wochen findet erneut ein bundesweiter Aktionstag gegen Sozialabbau statt. Lasst uns zehn Mal 100.000 werden. Die PDS hat der „Agenda 2010“ eine „Agenda sozial“ entgegen gesetzt. Man findet sie im Internet. Es gibt sie auch als Broschüre.

Entscheidend aber ist: Lassen Sie sich kein X für'n U vormachen. Wir brauchen Reformen. Reformen bedeuteten von jeher, etwas besser zu machen. Das aber, was Rot-Grün tut und das, was CDU und CSU wollen, das sind keine Reformen, das ist Ettickenschwindel.

Wenn ich dann noch höre, wie CDU-Ministerpräsident Koch mit Sozialhilfe-Empfängern umspringen will, dann gruselt es mich. Über Asylsuchende und andere Menschen in Not will ich gar nicht erst reden.

Deshalb rate ich allen, die von Rot-Grün enttäuscht sind: Man kann den Deibel nicht mit dem Belzebub austreiben. Wenn es gegen die Privatisierung der Gesellschaft geht, wenn es um soziale Gerechtigkeit geht, dann geht es um jede und jeden, dann geht es um uns alle.
 

 

 

13.2.2004
www.petra-pau.de

 

Seitenanfang

 

Termine

 

Lesbares

 

Startseite