Autor Günter Drommer zur Eröffnung der Literaturtage 2003 des Bezirks Marzahn-Hellersdorf am 14. Oktober 2003

Sehr geehrter Herr Bürgermeister!
Sehr geehrte Frau Abgeordnete!
Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Liebe Gäste und Freunde!

Bücher sind Gefäße für Gedanken. Als die Klügsten unserer Ahnen in grauer Vorzeit bemerkten, dass es ihnen nicht mehr möglich war, alles im Kopf aufzubewahren, was sie ihren Kinder Lind Kindeskinder an Erfahrungen und Ideen weiterzugeben trachteten, erfanden sie sich eine Schrift und dazu eine Möglichkeit, deren Zeichen zu konservieren. Immer mal wieder im Verlauf der Geschichte der Menschheit waren Herrscher ihres Machterhalts wegen bestrebt, solches aufgeschriebene Wissen vergessen zu machen. Was blieb ihnen anderes übrig, als Bücher zu vernichten?

Aber nicht Adolf Hitler, der Diktator selbst, hat in der Nacht vom 9. auf den 10. Mai 1933 die Bücher angezündet, damit dem Volke ein bestimmtes Wissen verloren ginge. Das besorgten andere für ihn, nationalistisch verhetzte Studenten der Berliner Universität und der Universitäten anderer großer Städte Deutschlands. Die hatten die Niederlage ihrer Väter im Ersten Weltkrieg nicht verkraftet. Sie machten nicht diejenigen für die Niederlage verantwortlich, die auf den Kriegsausbruch hingearbeitet, ihn ausgelöst und am Ende tatsächlich auch verloren hatten. Schuld waren für sie die anderen, aus deren Mitte vor allem die 1,2 Millionen Tote gekommen waren, blühende junge Männer sie alle und dann einfach nicht mehr da. Ganz ohne jeden Sinn. Wir wissen, wessen Bücher sie den Flammen übergaben: Diese Ausstellung nennt sie uns. Es sollten die Warner verstummen, damit das ganze ein zweites Mal vonstatten geiler' könne Es ging vonstatten. Der Toten waren jetzt fünfmal mehr. Die Niederlage war ungleich fürchterlicher als die erste. Der Jammer der mannlosen Frauen, der jungen Witwen von damals, wo ist er geblieben? Jeder vermag sich die Frage sehr leicht zu beantworten, warum wir Deutschen inzwischen ein so altes Volk geworden sind und in den kommenden Jahren noch älter werden. Es fehlen ganz einfach zwei Generationen einstmals junger Väter. Wie viele Kinder blieben ungezeugt? Deren Kinder uns fehlen.

Und als ob die Welle des unbelehrbaren Nationalismus ein drittes Mal, diesmal zum Glück vielleicht schwach genug, zurückschwappte, regt sich die Dummheit erneut, auch hier im Stadtbezirk der Arbeitslosen, in Marzahn-Hellersdorf. Was wir heute hier zu würdigen haben, ist eine ganz und gar ungewöhnliche Initiative. Ich kenne Büchervernichtungen zur Genüge. Gleich nach der Wende haben nicht wenige, ihre alten Bücher plötzlich verleugnet, die ihnen doch aber zuvor einen guten Teil ihrer Klugheit, ihrer Wissbegier vermittelt hatten. Sie landeten auf dem Müll. Andere Bücher rechneten sich über Nacht nicht mehr. In den Buchhandlungen des Ostens war Platz zu machen für Neues, viel Gutes und manches Schlechtes war dabei. In vielen Buchhandlungen des Westens war kein Platz für Konkurrierendes aus den Verlagen Aufbau, Volk und Welt und wie sie alle hießen. Vom Leipziger Kommissions- und Großbuchhandel fuhren die LKWs mit den Büchern direkt auf den Müll. Da kam zum Beispiel der Pfarrer Wesskott mit seinem Kleintransporter und grub sie alle wieder aus, und so liegen nun die, die nicht doch noch an den Mann kamen, in einer großen Scheune, irgendwo in der Nähe von Göttingen. Andere, aus Bibliotheken, die des ZK der SED war auch dabei, abtransportierte Bucher liegen heute für teures Geld in den Antiquaraten cleverer Händler. Reden wir auch nicht davon, dass viele Bücher heute, bei diesem schon fast ungesunden Angebot, auch eine Verschleißware sind. Einmal zum Italiener essen gehen kostet mehr, als sich für Stunden durch ein Buch anregen, anrühren, fröhlich machen, verzaubern zu lassen.

Reden wir von dem, was hier passiert ist. Menschen, die den Wert eines Gedankengefäßes zu schätzen wissen, haben sich zusammengetan. Sie haben unter dm Dach einer Agrarbörse eine soziale Bücherstube gegründet. Wenn ich auch nicht ganz genau weiß, was die Aufgaben einer Agrarbörse in Hellersdorf sind, sie sei gelobt. Soziale Bücherstube: schon das Wort gefälllt mir, denk ich dabei nicht an hehre, grabesstumme Säle mit glänzenden Fußböden, übermannshohen Regalen voller in Leder gebundener Folianten. In einer Stube ist's gemütlich, und so soll es auch sein. Dass die Bücherstube Bücher übernimmt und sie so vor der Vernichtung rettet, dass sie sie anderen zugänglich macht, den Kranken bringt, den Wissbegierigen für wenig Geld überlasst, das ist famos. Dass sie Menschen, junge Leute, von der Straße holt, die nun, statt an der Ecke zu stehen und sich den Hals voll zu kippen, in die Welt des Wissens tauchen können, das ist famoser, Dafür sei den Nimmermüden der Bücherstube gedankt. Aber es ist auch famos, dass nun die leerstehende Marzahner Bibliothek zum neuen Domizil werden kann. Berlin hat kein Geld, Marzahn/Hellersdorf hat noch weniger als kein Geld. Aber die Leute hier haben Verstand, danke, Frau Stadträtin. Und noch ein kleiner nachdrücklicher Hinweis an die Firma Lidl, die ja wohl den Platz braucht, wo jetzt die soziale Bücherstube untergebracht ist. Wer so viele Lebensmittel in ganz Europa. verkauft und damit so viel Geld verdient, von dem ist es sicher nicht zuviel verlangt, dieser wunderbaren sozialen Bücherstube auch mal eine wenig Sponsor-Geld für das Lebensmittel Buch herüberzureichen.

Ich freue mich, dass der Stadtbezirk auch eines seiner großen Bürger gedenkt. Ich begrüße Herrn Pump, der dessen Erbe so umsichtig verwaltet und auch dieser Ausstellung mit Rat und Tat zur Seite gestanden hat. Wenn ich jetzt auf Ludwig Renn, ein Freund des sächsischen Kronprinzen aus uraltem Adelsgeschlecht zu sprechen komme, so ist das gefährlich. Da ich Renns Biograph sein will und schon ziemlich viel über diesen ganz und gar ungewöhnlichen Menschen weiß, in aller gebotenen Bescheidenheit, mehr vielleicht als manch anderer gelernter DDR-Bürger, besteht die Gefahr, dass ich jetzt erst richtig ins Reden komme. Wer etwas mehr über Renn wissen will, der ist für morgen Nachmittag ganz herzlich an diesen Ort eingeladen.

Jetzt und zum Schluss nur so viel über Renn: Er hat ein dazumal hochberühmtes Buch über den Ersten Weltkrieg geschrieben, den er vom ersten bis zum letzten Tag als Offizier in vorderster Linie an der Westfront miterlebt hat. Er hat in diesem Buch, es erschien 1928, über die Sinnlosigkeit dieses Krieges geschrieben, aber er hat auch den Mut der Soldaten und ihre Liebenswürdigkeit und ihren sinnlosen Tod und all die Entbehrungen nicht zu schildern vergessen, denen unsere Großväter und Urgroßväter damals ausgesetzt waren. Und obwohl die Hitlerei den Kommunisten Renn hasste wie kaum einen anderen, ließ sie doch sein Buch über Krieg nicht mit auf den Scheiterhaufen werfen. Man gedachte ein Abkommen mit Renn zu treffen: alles vergessen, ein reumütig zurückgekehrter kaiserlich-königlicher Offizier würde gut in die Reichsschrifttumskammer gepasst haben. Aber nicht mit Renn, aus dem Gefängnis unter Vorbehalt entlassen, gelang ihm die Flucht in die Schweiz und weiter nach Spanien, wo er ein tapferer Heerführer der Spanischen Republik wurde. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich erkläre die Ausstellung „Verbrannt und Verboten“ und die Literaturtage 2003 der Sozialen Bücherstube Marzahn/Hellersdorf in der Pyramide Hellersdorf für eröffnet.
 

 

 

14.10.2003
www.petra-pau.de

 

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