Berlin (ddp-bln). Wenn es in der Welthauptstadt des Atheismus um
das Für und Wider von christlichem Glauben geht, kann einfach keine
Langeweile aufkommen. Die Sophienkirche in Berlin-Mitte ist fast bis
auf den letzten Platz gefüllt, als am Donnerstagmittag die These
diskutiert wird: Ich glaub nix - mir fehlt nix. Die zahlreichen
Kirchentagsgäste im Publikum erleben eine zweistündige Redeschlacht zwischen Gläubigen und solchen ohne Religion, wie sie in einer Fernseh-Talkshow nicht spannender sein kann.
Eingeladen sind PDS-Politikerin Petra Pau, der Vorsitzende des
Humanistischen Verbandes Deutschland, Rolf Stöckel, der weltliche
Bestattungsredner Jürgen Gerdes und Pfarrer Ehrhart Neubert. Die
Zuhörer erfahren vieles, was sie vielleicht noch nicht wussten. So
erzählt Linkssozialistin Petra Pau, dass sie in einem kirchlich
geprägten Elternhaus aufwuchs, getauft und konfirmiert wurde. Auf
große Sympathie beim Publikum stößt ihr Plädoyer für
Religionskunde-Unterricht an jeder Schule, unabhängig vom Glauben
oder Nicht-Glauben eines Kindes.
Für Aufregung und Empörung sorgt dann allerdings
Religionssoziologe Ehrhart Neubert, der mit seinem Vortrag über
Atheismus als Herausforderung für die Kirchen die Debatte erst
richtig anheizt. Während andere im Podium um Verständnis für die
andere Seite bemüht sind, fährt Neubert scharfe Geschütze auf. Der
Atheismus ist auch eine kulturelle Form des Autismus, sagt er und
zieht sich damit auch den Zorn vieler Gläubiger im Publikum zu.
𛈜Hört, hört, raunt es aus der Menge in der schmucken Sophienkirche.
Und er setzt noch eins drauf. Atheismus, so meint Neubert, sei ein
Produkt des kulturellen Vergessens und berge die Gefahr in sich,
dass die Maßstäbe zwischen Gut und Böse verwischen. Bei diesen Worten
beginnen die Zuhörer langsam zu kochen. Sie quittieren seine Rede mit
lauten Pfiffen in dem Gotteshaus.
Über eines können sich die Organisatoren dieser Diskussion
wahrlich nicht beschweren - über lähmende Dialoge oder mangelnde
Anteilnahme des Publikums. Als das Gespräch auf den Kirchensaal
ausgedehnt wird, stehen die Redewilligen in einer langen Schlange vor
dem Mikrofon und beschweren sich reihenweise über Neuberts provokante
Ansichten. Der Vergleich zwischen Atheisten und Autisten - das ist
der Weg, der Menschen von der Kirche wegtreibt, weil er solch eine
Arroganz an den Tag legt, empört sich ein junger Christ. Ein
Religionslehrer beschwert sich über Neuberts Zerrbilder.
Auch bei den Podiumsgästen schlagen die Emotionen hoch. Es
verletzt mich tief, wenn Sie Menschen wie mich als Autisten
bezeichnen, klagt Gerdes, der sich als bekennender Humanist und
Nicht-Gläubiger nach Neuberts Vortrag am liebsten einen Schnaps
gegönnt hätte. Zu seiner großen Überraschung bekommt er den
tatsächlich. Ein junger, langhaariger Theologiestudent ärgert sich
über Neuberts Argumente und zeigt vollstes Verständnis für Gerdes'
Bedürfnis nach Hochprozentigem. Er stellt ihm - sehr zum Amüsement
des Publikums - eine kleine Schnapsflasche aufs Podium.
Schnaps und Pfiffe machen zumindest eines deutlich: Gläubige und
Nichtgläubige haben sich etwas zu sagen, wollen miteinander in einen
Dialog kommen. Und genau das ist eines der wichtigsten Anliegen
dieses Ökumenischen Kirchentages in Berlin, der - wie es hieß -
vermutlich religionslosesten Hauptstadt weltweit.
ddp/shu/clp
291453 Mai 03
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