Rechtstrend ernst nehmen

Eröffnung der Berliner christlich-jüdischen „Woche der Brüderlichkeit“ im Centrum Judaicum
Rede von Petra Pau, MdB
Berlin, 9. März 2023

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1. Der Holocaust, der Völkermord an Jüdinnen und Juden, gehört zu den schlimmsten Verbrechen in der Geschichte der Menschheit. Er trägt zwei Stempel: Deutsch & Faschismus!

Ich höre sehr wohl die Mahnung Überlebender: Wir, die Nachfolge-Generationen, tragen dafür keine Verantwortung. Wohl aber dafür, dass sich so etwas nie wiederholt.

Und auch das gehört für mich zu wichtigen Erinnerungen: Die Nazis kamen damals nicht an die Macht, weil die NSDAP so stark war, sondern weil die Demokraten zu zerstritten waren.

Ja, zur Demokratie gehört selbstverständlich Streit um unterschiedliche politische Positionen. Wenn es aber gegen Menschengruppen, um vermeintliche Rassen oder gar Völker geht, dann wird es widerwärtig, nicht hinnehmbar.

2. Sie wissen: Ich orientiere und engagiere mich politisch links. Mein Maßstab ist Artikel 1 Grundgesetz: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Wohl bemerkt: aller Menschen, nicht nur der Schönen und Reichen und nicht nur der Deutschen und Weißen.

Ergo kritisiere ich die bestimmende Politik.

•  Die Würde des Menschen braucht eine soziale Basis.
1-Euro-Jobs, Armutsrenten und Hartz IV gehören nicht dazu.

•  Zur Würde gehört auch, dass sie und er selbst bestimmt mitbestimmen kann und nicht fremdbestimmt werden, also Fragen von Bürgerrechten und Demokratie, allemal in Zeiten zunehmender Digitalisierung.

•  Schließlich dürfte die drohende Klimakatastrophe die Würde des Menschen massenhaft zerstören.

•  Kriege sind a priori darauf angelegt, dies zu tun.

Kurzum: Die soziale Frage, Bürgerrechte und Demokratie, Umwelt- und Friedenspolitik, das und mehr ist für mich Links.

3. Aber zurück aus der Parteipolitik: Wir leben im 21. Jahrhundert.

Dies weist gegenüber seinen Vorgängern zwei fundamentale Besonderheiten auf.

•  Erstmals ist die Menschheit in der Lage und rasant auf dem Wege, sich und überhaupt alles Leben final zu vernichten.

Als Stichworte nenne ich nur die drohende Klimakatastrophe und die – bis vor kurzem fast vergessene - atomare Weltkriegsgefahr.

Bislang gibt es keine ernsthaften Aktivitäten, geschweige denn globale, die Klimakatastrophe zu verhindern. Insofern haben die Jugendlichen von „friday for future“ mit ihrem störenden Drängen völlig Recht.

•  Und der verbrecherische Krieg Russlands gegen die Ukraine droht in einem erneuten weltweiten Rüstungswettlauf zu münden, wider alle Vernunft.

Und ebenso erstmals reifen im 21. Jahrhundert zwei neue Produktivkräfte, die über den Kapitalismus hinausweisen können.

Dazu einige Bemerkungen mehr:

Ernstzunehmende Theorien unterstellen: Es waren immer zwei materielle Innovationen, zwei technologische Revolutionen, die eine neue gesellschaftliche Entwicklung ermöglichten: bis dato nicht gekannte Möglichkeiten, Energien zu gewinnen und zu nutzen, sowie völlig neue, weiterreichende Formen der Kommunikation. Ohne die Erfindung der Dampfmaschine (später der Petrol- und Elektro-Energie) und ohne die Telegrafie (später Telefon, Radio und Fernsehen), wäre die Entwicklung zum Kapitalismus nicht möglich gewesen.

Nehmen wir einmal an, diese These stimmt, dann drängt sich eine spannende Frage auf: Könnte es sein, dass die Solaroption und das Internet im weiten Sinne miteinander eine solche gesellschaftliche Sprengkraft entfalten, wie seinerzeit die Dampfenergie und die Telegrafie? Zumindest als Chance! Und, dass beiden ein Potenzial innewohnt, das über den Kapitalismus hinausweist und neue gesellschaftliche Chancen eröffnen könnte? Natürlich nicht automatisch. Das bedarf politischer Kämpfe.

Namhafte Wissenschaftler stützen diese Annahme.
Zu ihnen gehört aus meiner Sicht der US-amerikanische Gesellschaftstheoretiker Jeremy Rifkin. Er spricht von einer neuen industriellen Revolution, weg von profit-orientierten Monopolen, hin zu gemeinwohl-orientierten Unternehmen.

Profit-orientierte Monopole drängen auf Konzentration und Expansion, gemeinwohl-orientierte Unternehmen agieren dezentral und demokratisch.
Solarenergie und Digitaldrucker sind dafür Stichwörter.

4. Das führt mich zu der Frage:
Wie ist das eigentlich mit der Digitalisierung, bewirkt sie mehr Demokratie und Mitbestimmung oder ist sie eher eine unsichtbare Gefahr?

Noch gut erinnere ich mich an Mitte der 1990er Jahre. Damals wurde das Internet allgemein zugänglich. Die Euphorie war groß. Erstmals wurden Bürgerinnen und Bürger Sender und Empfänger von Nachrichten zugleich, und das auch noch weltweit, in Echtzeit. Das war historisch neu.

Nunmehr konnte man sich vernetzen, aktivieren, mobilisieren, auch eingreifen, über lokale Grenzen hinweg. Die Aktionsplattform www.campact.de ist dafür in Deutschland nur ein Beispiel. Ein anderes digitales Angebot ist www.abgeordnetenwatch.de. Wählerinnen und Wähler können so Parlamentariern auf den Zahn fühlen, deren Tun oder Lassen transparent abbilden.

Früher bekam ich als Mitglied des Bundestags täglich fünf bis zehn Briefe. Die erhalte ich auch heute noch, zusätzlich aber Ein- bis Zweihundert E-Mails.

Keine Frage, das Internet ermöglicht mehr Transparenz und Einfluss für Bürgerinnen und Bürger. Bewirkt die Digitalisierung - sie umfasst mehr als das weltweite Netz – folglich auch mehr Demokratie?!

Viel spricht dafür! Und noch mehr dagegen! Aktuell jedenfalls.

Die weltweit offene Ära des vordem militärischen Internets war kaum nutzbar, schon begannen neue Monopole das vermeintlich freie Netzwerk zu kapern. Sie dominieren inzwischen weltweit und sie wurden dadurch obendrein steinreich. Sie vermarkten Daten, auch ganz persönliche Daten, Ihre und meine.

Und wir liefern sie ihnen allzu oft kostenlos frei Haus, indem wir z. B bei Google suchen oder bei Facebook posten. Nein, ich bin keine Maschinenstürmerin und ich halte mitnichten ein Plädoyer gegen die Digitalisierung. Das wäre zudem brotlos. Sie läuft und läuft, wie seinerzeit die Dampfmaschine, nur viel rasanter und weitreichender.

Nur über drei Punkte sollte man nicht hinweg sehen.

Erstens: Daten gelten als das neue Öl des 21. Jahrhunderts, wenn es um kapitale Geschäfte mit Milliarden-Profit geht. Zugleich hat nicht nur das Bundesverfassungsgericht wiederholt geurteilt: Datenschutz ist ein Grundrecht. Bürgerinnen und Bürger, die nicht mehr wissen oder wissen können, wer was über sie weiß, sind nicht mehr souverän. Eine Demokratie ohne Souveräne aber ist unvorstellbar.

Zweitens: Die kapitalsten Datensauger empfehlen sich gekonnt als Glücksbringer und so werden sie auch gern genommen. Auch ich nutze Google, Facebook und mehr. Wohl wissend, dass es sich um Konzerne handelt, die uns allen fies ins Herz und schamlos ins Hirn schauen wollen, aber sich selbst nicht in ihre Karten, sprich Algorithmen, gucken lassen.

Drittens: Was den Daten-Imperialisten von Silicon Valley billig ist, ist Geheimdiensten aller Couleur nur recht. Spätestens seit den Enthüllungen von Edward Snowden über die NSA weiß man erneut, dass die viel gepriesenen westlichen Werte auch von Staats wegen attackiert werden, auch hierzulande. Dank Digitalisierung massiver denn je.

Alle drei Punkte laufen darauf hinaus, dass Bürgerinnen und Bürger zunehmend durchschaubar, berechenbar, manipulierbar werden. Wie im Horrorbuch „1984“ von Georg Orwell.

Über alledem schwebt allerdings eine viel grundsätzlichere Frage: Was, wenn durch die Digitalisierung künstliche Intelligenz nicht nur punktuell, sondern prinzipiell intelligenter wird, als menschliche? Wer hätte dann das Sagen? Und was wäre dann mit Bürgerrechten und Demokratie?

Kurzum:
Die Chancen für mehr Demokratie durch Digitalisierung sind groß, die Gefahren für die Demokratie durch Digitalisierung sind riesig.
Das ist kein Plädoyer gegen die Digitalisierung, sondern für mehr engagierte Politik für Bürgerrechte und Demokratie – parteiübergreifend.

5. Aktuelle Entwicklungen und Analysen stimmen pessimistisch.
Der gesellschaftliche Zusammenhalt bröselt, der Zuspruch zu demokratischen Institutionen schwindet, der innere Frieden ist bedroht.

Ich frage regelmäßig die Bundesregierung, wie viele antisemitische Straf- und Gewalttaten sie registriert hat. Im IV. Quartal 2022 waren es 506, also im Schnitt 4,2 pro Tag. Diese offiziellen Zahlen sind hoch und stapeln tief.

Noch drastischer sieht es bei politisch rechtsextrem motivierten Straf- und Gewalttaten aus.

Natürlich sind wir angehalten, Gesicht zu zeigen, wenn Judenhasser oder Nazis ihr Haupt erheben. Zivilcourage von Demokratinnen und Demokraten ist gefragt.

Aber die gesellschaftlichen Ursachen für den europaweit zu beobachtenden Rechtstrend liegen tiefer. Darauf macht der Soziologe Prof. Heitmeyer mit seiner Langzeitstudie über „deutsche Zustände“ aufmerksam.

Sein Fazit: Die Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit nimmt zu, ebenso die Akzeptanz von Gewalt als Politikersatz.
Zu den Ursachen sagt er: Das Soziale, also das Gemeinschaftliche, wird privatisiert und die Demokratie entleert. Er gibt der vorherrschenden neoliberalen Politik die Schuld.

Schlussgedanke:

Wir, die nachgeborenen Generationen, tragen keine Verantwortung für die Zeit des Faschismus, wohl aber dafür, dass sich solche Verbrechen nie wiederholen.

Nein, die Bundesrepublik 2023 ist nicht mit Deutschland 1923 oder gar 1933 zu vergleichen. Aber der Rechtstrend lässt aufmerken.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
 
 

 

 

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