Im 21. Jahrhundert

102. Katholikentag, Biblischer Impuls, Hannas Loblied
Stuttgart, 27. Mai 2021 Debatte zu
Beitrag von Petra Pau

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Anrede,

Empfange ich im Bundestag Besucher und reicht die Zeit, dann gehen wir durch die Parlamentsgebäude mit Halt bei einigen Kunstwerken. Davon gibt es viele, so viele, dass sie einen Bildband füllen. Vor allem zwei gehören bei mir zum Standardprogramm. Beide sind im Reichstagsgebäude. Und beide waren durchaus umstritten.
Das eine ist der Andachtsraum von Günther Uecker. Er bietet Raum und die dazugehörigen Utensilien für alle relevanten Religionen, für Christen, für Juden, für Muslime, auch für Hindus. Unions-Politiker forderten ein dominierendes Kreuz, schließlich sei man hier im christlichen Abendland. Uecker blieb standhaft.
Das zweite Kunstwerk ist im Innenhof des Gebäudes. Es ist von Hans Haake. Er schuf einen Schriftzug „Der Bevölkerung“, in bewusstem Kontrast zu der Giebelinschrift „Dem deutschen Volke“. Die Buchstaben werden umgrünt. Wer wollte, konnte aus seinem Wahlkreis ein Säckchen Erde mitbringen. Und was diese barg und aus ihr erwächst, soll gedeihen, unbeschnitten, unbegradigt.
Uecker plädiert für einen gleichberechtigten Dialog, interreligiös. Haake mahnt uns Abgeordnete, für alle Bürgerinnen und Bürger da zu sein, multikulturell und nicht nur für Deutschgermanen.
Lange hatte ich beide Werke vor allem als Erinnerung an die mörderische Zeit des Faschismus interpretiert. Aber spätestens seit diese von einem bekannten AfD-Politiker als „Vogelschiss“ verharmlost wurde, weiß ich: Ueckers und Haakes Mahnungen sind brandaktuell.

Mit dieser Episode aus meinem Buch „Gott hab sie selig“ bin ich flugs bei „Hannahs Loblied“, zu dem ich um einige Gedanken gebeten wurde. Denn eine zentrale ihrer biblischen Botschaften lautet: So unterschiedlich Menschen auch sein mögen, so sind sie doch alle gleich: vor dem Recht und in ihrer Würde.

Meine Pro-Themen als Innenpolitikerin sind Bürgerrechte und Demokratie, meine Kontra-Themen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus.
Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus grassieren alltäglich und sind kreuzgefährlich für die davon Betroffenen, und das sind auch hierzulande sehr viele. Das geht aus den Antworten der Bundesregierung hervor, die ich regelmäßig nach der Anzahl der Straf- und Gewalttaten mit diesen menschenfeindlichen Hintergründen frage. Und ich weiß: Die offiziellen Zahlen stapeln tief. Natürlich muss der Staat dem konsequent entgegen treten, aber das bleibt genauso eine gesellschaftliche Herausforderung, für uns alle. Aber wie am besten? Diese, aus linker Sicht Preisfrage, gebe ich gern an Sie weiter:

Stimmungen inmitten der Gesellschaft kippen nach rechts. „Ausländer raus“ geistert durch viele Köpfe. Antisemitismus ist wieder hoffähig. Gewalt gegen Andersdenkende, Anderslebende und Andersliebende gehört zum Alltag.
Das alles komme nicht überraschend. Das alles war voraussehbar, meinte Prof. Wilhelm Heitmeyer 2017 in einem Interview. Ich war dabei, als er und sein Wissenschaftsteam am 11. 11. 2011 in Berlin die Ergebnisse ihrer Langzeitstudie über „Deutsche Zustände“ vorstellten. Also lange bevor zahlreiche Flüchtlinge und Asylbewerber zu uns kamen.
Die Heitmeyer-Forschungen liefen über zehn Jahre. Das Fazit in aller Kürze:

Die Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit nimmt zu. Ebenso die Akzeptanz von Gewalt als Politikersatz. Als Ursachen für diese fatale Entwicklungen nannte sie: Das Soziale wird ökonomisiert, die Demokratie wird entleert. Auf Politikdeutsch nennt man das „neoliberal“. Dem Markt wird freier Lauf gelassen, den Banken und Monopolen wird gegeben, der Gesellschaft und dem Einzelnen genommen. Das ist seit über 25 Jahren die dominierende Politik, die sich dadurch obendrein selbst entmündigt.
Wenn Heitmeyer & Team Recht haben, und ich finde Ja, dann ist die neoliberale Politik das tiefer liegende Übel. Ergo müssen Linke gegen alle agieren, die neoliberal unterwegs. Parteipolitisch hieße das: DIE LINKE gegen CDU, CSU, SPD, FDP, Bündnis 90/Die Grünen und gegen die AfD, also wir gegen alle.
So weit, so scheinbar logisch.
Aber da gibt es auch eine historische Lehre aus der Zeit des Faschismus. Sie besagt: Die Nazis kamen nicht an die Macht, weil die NSDAP so stark war, sondern weil die Demokraten zu zerstritten waren. Das wiederum würde bedeuten, breiteste Bündnisse anzustreben: Linke mit SPD, Bündnisgrünen, CDU, FDP, selbst CSU, also – ausgenommen die AfD – wir mit allen.
Beide Strategien passen irgendwie nicht zusammen!
Oder doch? Und wenn doch, dann wie? Ich gebe es ihnen als Preisfrage mit.

* * *

Wir leben im 21. Jahrhundert, und das hat im Vergleich zu seinen Vorgängern zwei Besonderheiten, eine negative und eine positive.

Die negative: Erstmals ist die Menschheit in der Lage und auf dem schlechten Wege, sich und überhaupt alles Leben weltweit auszulöschen. Stichwort Klimakatastrophe. Ein Plus von 1,5 Grad Celsius sei gerade noch hinnehmbar, sagen Wissenschaftler, ein plus von 2 Grad Celsius wäre das Finale.
Es ist doch bezeichnend, dass es erst eine jungen Frau, Greta Thunberg, bedurfte, um die Alarmglocken weltweit zu läuten. Aber ist Ihnen seither ein globales und zugleich konkretes Programm bekannt, mit dem sich Menschheit praktisch dem Untergang widersetzt? Ich kenne keines.
Und so hatte die schwedische Aktivistin 2019 vor dem UNO-Klimagipfel in New York erneut angeklagt (Zitat): „Menschen leiden. Menschen sterben. Wir befinden uns am Anfang eines Massen-Aussterbens, und alles, woran ihr denken könnt, sind Geld und Märchen von ewigem Wachstum. Wie könnt ihr es wagen!“ Viele, auch in Medien, debattierten stattdessen, ob ihr solch harsche Worte in ihrem Alter überhaupt zu stehen. Ich finde ja. Es geht um ihre Generation und ihre Zukunft.
Wenn Sie sich dem Thema Klimakatastrophe weniger wissenschaftlich und mehr belletristisch nähern wollen, dann empfehle ich Ihnen das Buch „Der neunte Arm des Oktopus“ von Dirk Roßmann. Eine positive Schlüsselrolle darin spielt, dass die drei mächtigsten Staaten der Welt, nämlich die USA, China und Russland, ein aktives und drängendes Klimabündnis eingehen. Sie ahnen sicher, warum ich aktuell darauf verweise. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine ist furchtbar, allemal für die unmittelbar betroffenen Menschen in der Ukraine. Aber die Folgen dieser Aggression sind noch viel weitergehender.

Nun zu der positiven Besonderheit des 21. Jahrhunderts: Hat der Kapitalismus, in dem wir leben, möglicherweise Entwicklungen hervorgebracht, die historisch über ihn hinausweisen, hin zu einer sozialistischen Gesellschaft?
Ernstzunehmende Theorien unterstellen: Es waren immer zwei materielle Innovationen, zwei technologische Revolutionen, die eine neue gesellschaftliche Entwicklung ermöglichten: bis dato nicht gekannte Möglichkeiten, Energien zu nutzen sowie völlig neue, weiterreichende Formen der Kommunikation. Ohne die Erfindung der Dampfmaschine (später der Petrol- und Elektro-Energie) und ohne die Telegrafie (später Telefon, Radio und Fernsehen), wäre die Entwicklung zum Kapitalismus nicht möglich gewesen.

Nehmen wir einmal an, diese These stimmt, dann drängt sich doch eine spannende Frage auf: Könnte es sein, dass die Solaroption und das Internet miteinander eine solche gesellschaftliche Sprengkraft entfalten, wie seinerzeit die Dampfenergie und die Telegrafie? Zumindest als Chance! Und, dass beiden ein Potenzial innewohnt, das über den Kapitalismus hinausweist und neue gesellschaftliche Chancen eröffnen könnte? Natürlich nicht automatisch. Das bedarf politischer Kämpfe.

Namhafte Wissenschaftler stützen diese Annahme. Zu ihnen gehört aus meiner Sicht der US-amerikanische Gesellschaftstheoretiker Jeremy Rifkin. Er spricht von einer neuen industriellen Revolution, weg von profit-orientierten Monopolen, hin zu gemeinwohl-orientierten Unternehmen. Herman Scheer, der vorerst letzte Visionär der SPD, ging noch weiter. Der weltweit anerkannte Solar-Experte († 2010) sah in den neuen revolutionären Technologien sogar Grundlagen für einen demokratischen Sozialismus.
Ich empfehle die diversen Bücher beider.

Und nun noch mal unterstellt, sie hätten Recht. Dann hätte das natürlich grundlegende Konsequenzen für Linke im 21. Jahrhundert. Denn das würde bedeuten: Erstens reicht soziales Engagement, gestützt auf die klassische Umverteilung von Reichtum nicht aus, es greift zu kurz. Zweitens braucht sie neue, zeitgemäße Solar- und Netzkompetenzen - aus sozialen, ökologischen und demokratischen Gründen. Daher ist meine zentrale These: Rote müssen im 21. Jahrhundert zugleich Grüne und Piraten sein. Nur so kann aus dem nötigen Kontra zum Bestehenden ein werbendes Pro für Neues werden - bündnis- und mehrheitsfähig.

Natürlich ergibt sich noch keine neue Gesellschaft, nur weil man die revolutionären Potenziale einer Solarwende und der Digitalisierung zusammendenkt. Was gleichwohl allein schon Zündstoff birgt. Ich deute das am Beispiel Energiewende nur kurz an. Hierzulande scheint es parteiübergreifend Konsens zu sein: Das unbeherrschbare Atomzeitalter muss beendet werden. Für fossile Energieträger gilt nur noch eine Restlaufzeit. In absehbarer Zeit brauchen wir 100% Solarenergie. Gleichwohl gibt es dazu zwei widerstreitende Strategien:
Die eine: Das Gros der Alternativenergie wird aus Offshore-Windparks in der Nordsee oder aus Riesen-Solar-Feldern in Nord-Afrika geliefert. Die andere: Die Solar-Energie speist sich vor allem aus dezentralen Anlagen, also vor Ort – Sonne, Wind, Wasser, Biomasse usw. Die erste Strategie mit Riesen-Windparks, Riesen-Solar-Flächen und Riesen-Energie-Trassen, würde die Monopolmacht der großen Konzerne neu begründen, also mehr Profit und weniger Demokratie. Die zweite Strategie entspräche der Idee von Prof. Wolfgang F. Haug: „Welt aus dem Reich des Privateigentums zurückgewinnen, ohne sie dem Reich des Staatsapparates auszuliefern.“

Das war auch Hermann Scheers Ansatz. Die Solarwende wird zur Eigentumswende, zugunsten von Kommunen oder Genossenschaften. Die Konsumenten würden so zu Produzenten und umgekehrt, ergo weniger Profit, mehr Demokratie! Und das betrifft nicht nur die Energie. In China wurde jüngst ein Mehretagenhaus per 3-D-Drucker produziert. In Japan wurde ein Auto 3-D-gedruckt. Der 3-D-Druck wiederum ermöglicht dezentrale Produktionsweisen, wovon auch immer. Rifkin spricht von „Prosumenten“ in Gemeinschaften, von Konsumenten, die zugleich Produzenten sind und umgekehrt. Wobei in der Energiefrage die EU und Regierungen bislang eher die Profit-Option fördern, die Linke hingegen die Demokratie-Option.

Aber noch mal auf den Punkt gebracht: Die kapitalistische Produktionsweise basiert aus Konzentration von Kapital und Arbeit und Expansion von Absatz und Macht. Für das Gros der Menschen bedeutet das unter dem Strich Ausbeutung und Entrechtung, mal staatlich abgemildert, wie hierzulande, mal brutal wie vielfach weltweit.

Nun ermöglichen zwei neue Schlüsseltechnologien im 21. Jahrhundert vielleicht neue Produktions- und Lebensweisen, durch dezentrale Teilhabe. Wobei „Solar“ nicht nur für Energie im engeren Sinne steht, sondern überhaupt für erneuerbare Roh- und Betriebsstoffe, für Nachhaltigkeit. Und „Internet“ meint natürlich auch mehr als eine globale Kommunikation in Echtzeit via E-Mail oder SMS. Längst macht ein neues Kürzel Furore: „Produktion 4.0“. Vom „Internet der Dinge“ ist die Rede, vom Energie-Netz, vom Kommunikations-Netz, vom Infrastruktur-Netz, mit weit- und tiefgreifenden gesellschaftlichen Folgen. Eine will ich hier nur andeuten: Wenn Werkzeuge mit Werkstücken kommunizieren, die Maschine mit ihren Produkten, werden immer weniger Menschen dafür gebraucht. Selbst gut ausgebildeten Fachleuten droht unter kapitalistischen Bedingungen ein Abstieg ins Prekariat, ungesichert und massenhaft. Das ist eine soziale Gefahr. Man kann sie weg reden, aber man sollte es nicht.

* * *

Damit komme ich zu einem weiteren Angebot, das mich beschäftigt und ebenfalls etwas mit Hannahs Loblied und ihrem Anspruch auf Würde und Gerechtigkeit zu tun hat. Ich nähere mich diesem Punkt mit einer anderen biblischen Geschichte.

Der Herr eines Weinberges heuerte dereinst Helfer an und vereinbarte mit ihnen für ihr Tagwerk einen Lohn von einem Silbergroschen. Des Mittags stellte er noch mehr Weinwerker an, vor Sonnenuntergang weitere. Dann zahlte er alle aus, jeweils mit einem Silbergroschen. Prompt kam Unbill auf. Die Ersten murrten wider den Herrn und sprachen: „Diese haben nur eine Stunde gearbeitet, und du hast sie uns gleich gemacht, die wir des Tages Last und die Hitze getragen haben. Er antwortete aber und sagte zu einem unter ihnen: Mein Freund, ich tue dir nicht Unrecht. Bist du nicht mit mir eins geworden für einen Groschen? Nimm, was dein ist, und gehe hin! Ich will aber diesem Letzten geben gleich wie dir.“ Denn auch er habe Frau, Kind und Familie, wie Du! „Also werden die Letzten die Ersten und die Ersten die Letzten sein.“
Was für eine wunderbare linke Botschaft, biblisch erzählt. Man kann diese uralte Weinberg-Geschichte aus Matthäus 20 nämlich auch als Plädoyer für ein bedingungsloses Grundeinkommen lesen. Primär zählt nicht, wer wie lange für andere malocht, sondern dass alle vor Gott gleich sind oder nach dem Grundgesetz Mensch sein können. Die Letzten wie die Ersten!

Die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens ist umstritten, auch unter Linken. Ich befürworte sie. Demnach bekäme jede und jeder einen Basisbetrag zum Leben in Würde, unabhängig vom Alter oder von Bildung, unabhängig auch davon, ob er oder sie einer Erwerbsarbeit nachgehen kann oder will. Sagen wir aktuell 1.350 Euro im Monat. Ja, das wäre eine kleine Revolution. Eine sehr bekannte Linke wurde jüngst gefragt, ob sie ein bedingungsloses Grundeinkommen befürworten würde. Sie verneinte, gute Löhne für gute Arbeit seien wichtiger. Das eine schließt das andere nicht aus, finde ich. Wichtiger ist etwas anderes. Ein bedingungsloses Grundeinkommen bezieht sich auf die Würde des Menschen und zwar ausnahmslos aller. Eine gute Vergütung indes belässt Erwerbsarbeit als Dreh- und Angelpunkt. Preisfrage: Was ist linker, humanistischer, emanzipatorischer?
Ein solches Grundeinkommen wäre auch ein Gewinn an Freiheit. Niemand könnte mehr in Arbeit gezwungen werden, die offensichtlich den Stempel „Ausbeutung“ trägt. Menschen könnten wägen und wählen, was auch mehr Demokratie bedeuten würde. Hinzu kommt, wie gesagt, eine rasante Entwicklung. Die zunehmende Digitalisierung der Gesellschaft wird ganze Berufsgruppen auslöschen. Was dann: Elend oder Freiheit? Ein BGE, so die Abkürzung, böte eine positive Antwort. Und doch: Wenn es um die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens geht, höre ich letztlich immer zwei Fragen. Die erste: Wer soll das bezahlen? Dafür gibt es verschiedene Modelle. Die zweite: Wer würde dann überhaupt noch arbeiten? Die ist interessanter. Alle Skeptiker betonen stets: „Ich schon, aber die anderen nicht!“ Alle sagen: „Ich würde ja wollen, nur die anderen nicht!“ Das Problem aller sind so immer die anderen. Seltsam, nicht?

* * *

Bürgerrechte und Demokratie sind meine Pro-Themen. Das führt zu der Frage, wie ist das eigentlich mit der Digitalisierung, ermöglicht sie mehr Demokratie oder bewirkt sie weniger? Noch gut erinnere ich mich an Mitte der 1990er Jahre. Damals wurde das Internet allgemein zugänglich. Die Euphorie war groß. Erstmals wurden Bürgerinnen und Bürger Sender und Empfänger von Nachrichten zugleich, und das auch noch weltweit, in Echtzeit. Das war historisch neu. Nunmehr konnte man sich vernetzen, aktivieren, mobilisieren, auch eingreifen, über lokale Grenzen hinweg. Die Aktionsplattform www.campact.de ist dafür in Deutschland nur ein Beispiel. Ein anderes digitales Angebot ist www.abgeordnetenwatch.de. Wählerinnen und Wähler können so Parlamentariern auf den Zahn fühlen, deren Tun oder Lassen transparent abbilden. Früher bekam ich als Mitglied des Bundestags täglich fünf bis zehn Briefe. Die erhalte ich auch heute noch, zusätzlich aber ein- bis zweihundert E-Mails. Keine Frage, das Internet ermöglicht mehr Transparenz und Einfluss für Bürgerinnen und Bürger. Bewirkt die Digitalisierung - sie umfasst mehr als das weltweite Netz – folglich auch mehr Demokratie?! Viel spricht dafür! Und noch mehr dagegen! Aktuell jedenfalls.
Die weltweit offene Ära des vordem militärischen Internets war kaum nutzbar, schon begannen neue Monopole das vermeintlich freie Netzwerk zu kapern. Sie dominieren inzwischen weltweit und sie wurden dadurch obendrein steinreich. Sie vermarkten Daten, auch ganz persönliche Daten, Ihre und meine. Und wir liefern sie ihnen allzu oft kostenlos frei Haus, indem wir z. B bei Google suchen oder bei Facebook posten. Nein, ich bin keine Maschinenstürmerin und ich halte mitnichten ein Plädoyer gegen die Digitalisierung. Das wäre nicht links und zudem brotlos. Sie läuft und läuft, wie seinerzeit die Dampfmaschine, nur viel rasanter und weitreichender.
Nur über drei Punkte sollte man nicht hinwegsehen.
Erstens: Daten gelten als das neue Öl des 21. Jahrhunderts, wenn es um kapitale Geschäfte mit Milliarden-Profit geht. Zugleich hat nicht nur das Bundesverfassungsgericht wiederholt geurteilt: Datenschutz ist ein Grundrecht, unabdingbar für souveräne Bürgerinnen und Bürger, ohne die wiederum jedwede Demokratie unvorstellbar sei.
Zweitens: Die kapitalsten Datensauger empfehlen sich gekonnt als Glücksbringer und so werden sie auch gern genommen. Auch ich nutze Google, Facebook und mehr. Wohl wissend, dass es sich um Konzerne handelt, die uns allen fies ins Herz und schamlos ins Hirn schauen wollen, aber sich selbst nicht in ihre Karten, sprich Algorithmen, gucken lassen.
Drittens: Was den Daten-Imperialisten von Silicon Valley billig ist, ist Geheimdiensten aller Couleur nur recht. Spätestens seit den Enthüllungen von Edward Snowden über die NSA weiß man erneut, dass die viel gepriesenen westlichen Werte auch von Staats wegen attackiert werden, auch hierzulande.

Dank Digitalisierung massiver denn je.
Alle drei Punkte laufen darauf hinaus, dass Bürgerinnen und Bürger zunehmend durchschaubar, berechenbar, manipulierbar werden. Wie im Horrorbuch „1984“ von Georg Orwell.

Die weltweit fünf größten Daten-Monopole, alle mit Hauptsitz im Silicon Valley, betrachten das Internet quasi als ihr Eigentum und genauso nutzen sie es. Experten warnen längst vor einer Big-Data-Diktatur. Und so überrascht auch die alternative Forderung nach einem neuen, parallelen Internet nicht. Organisiert nach öffentlich-rechtlichen Prinzipien, humanen Werten folgend. Noch scheint unklar, wie das wirklich aussehen könnte. Aber wahr ist leider auch: Derzeit führt der Anspruch „Internet für alle“ de facto zur „Überwachung aller“.

Yvonne Hofstetter ist IT-Unternehmerin und alarmiert gerade deshalb höchst kompetent, was die Zukunft von Bürgerrechten und Demokratie in Zeiten einer pur-kapitalistischen Digitalisierung betrifft. Das belegen auch ihre zwei Bücher „Sie wissen alles“ und „Das Ende der Demokratie“. Demnach werden wir es mit Rahmenbedingungen zu tun haben, die mit jenen im 20. Jahrhundert kaum noch vergleichbar sind. Yvonne Hofstetter erwägt zehn Alternativen für die Politik und für eine aktive Gesellschaft. Drei ihrer - viel weitergehenden - Gedanken seien kurz skizziert.
Erstens erinnert sie daran, dass Bürgerrechte noch nie vom Himmel gefallen sind oder vom Staat frei Haus geliefert wurden. Sie müssen durch eine engagierte Zivilgesellschaft wieder und wieder erkämpft werden.
Zweitens müssen der Staat und internationale Gemeinschaften gleichwohl verbindliche Regeln und klare Rahmen setzen, um die Digitalisierung und Bürgerrechte verträglich zueinander zu bringen.
Drittens sei es brotlos, mit erhobenem Zeigefinger auf die Dominanz der USA zu zeigen, solange die Digitalisierung hierzulande und EU-weit vergleichsweise stiefmütterlich behandelt werde.
Über alledem schwebt allerdings eine noch viel grundsätzlichere Frage, finde auch ich: Was, wenn durch die Digitalisierung künstliche Intelligenz nicht nur punktuell, sondern prinzipiell intelligenter wird, als menschliche? Wer hätte dann das Sagen? Und was wäre dann mit Bürgerrechten und Demokratie?

„Jeder Mensch“ heißt ein aktuelles Buch von Ferdinand von Schirrach, eher ein Büchlein, also schnell zu lesen und von mir empfohlen. In ihm geht es um Grundrechte. Die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ wurde 1948 von der UNO-Vollversammlung verabschiedet.
„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen“, heißt es in Artikel 1.
Artikel 2 verbietet jegliche Form der Diskriminierung. Jeder Mensch hat Anspruch auf die (…) verbürgten Menschenrechte und Grundfreiheiten.
Artikel 18 gebietet: „Jeder hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit“; dieses Recht schließt die Freiheit ein, seine Religion oder seine Weltanschauung zu wechseln“ und so weiter.
Die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ ist inzwischen bald 75 Jahre alt. Auch die EU-Grundrechtecharta hat schon über zwei Jahrzehnte auf dem Buckel. Und so stellt sich der Jurist von Schirach die Frage, ob sie nunmehr, also im 21. Jahrhundert noch ausreichen. Er kommt zu dem Schluss: Nein! Und er stellt neue, weitere Grundrechte zur Diskussion.
Ich zitiere nur mal drei:
Artikel 1 – Umwelt: Jeder Mensch hat das Recht, in einer gesunden und geschützten Umwelt zu leben.
Artikel 2 – Digitale Selbstbestimmung: Jeder Mensch hat das Recht auf digitale Selbstbestimmung. Die Ausforschung oder Manipulation von Menschen ist verboten.
Artikel 3 – Künstliche Intelligenz: Jeder Mensch hat das Recht, dass ihn belastende Algorithmen transparent, überprüfbar und fair sind.

Nun spiegeln Grundrechte, wenn sie aktualisiert und aufgeschrieben sind, noch lange nicht die Realität. Eher, wie diese von den selbstgesetzten Normen abweicht. Und bei allem Gesagten, habe ich die soziale Frage noch nicht einmal angesprochen, die asoziale Tendenz, dass auch zu Corona-Zeiten die Reichen immer reicher und die Armen immer zahlreicher werden. Aber auch die Themen Bürgerrechte und Demokratie zeigen, was zu tun ist, um Hannahs Loblied zu entsprechen und gleiche Würde für alle zu ermöglichen. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.

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27.5.2022
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