Digitalisierung und Demokratie

Rede von Petra Pau zur Überreichung der Europässe für Absolventen des Auslandspraktikums im Rahmen der Ausbildung für Informatiker
Berlin, Bundestag, 25. November 2019

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Sehr geehrte Damen und Herren,

ich begrüße Sie alle, vor allem jene, die heute eine Weiterbildung zum Informatiker vollbracht haben.
Vorläufig.

Warum ich „vorläufig“ sage, mag eine Geschichte erhellen. Sie ist aus meinem Buch „Gottlose Type“ und überschrieben mit:

Alles Neuland

Auf dem Weg zur Arbeit höre ich zumeist „Inforadio Berlin-Brandenburg“. Dort gibt es alle 20 Minuten aktuelle Nachrichten. So erfahre ich - nein, nicht was wichtig ist, sondern - was für wichtig gehalten oder wichtig gemacht wird. Das ist ein Unterschied. Aber auch das muss ich wissen. Parallel genügt ein Blick auf den Laptop, um im Tickerdienst zu erfahren, was sonst noch passierte. Das alles gehört zum Alltag, jeden Morgen.

Das war nicht immer so. Mitte der 1990er steckte das allgemein zugängliche Internet noch in den Kinderschuhen. Damals gab es elektronische Postfächer, thematische, zum Beispiel zum Rechtsextremismus oder zur Friedenspolitik. Dort konnte man sich anmelden und einloggen, eigene Beiträge einstellen und lesen, was andere zu sagen hatten. Das verband virtuell, hatte aber mit der modernen, globalen Sofortkommunikation, wie wir sie heute kennen, noch nichts zu tun. Und gab es zwei, drei Tage lang mal keine neuen Einträge, dann war halt Ruhe im Mini-Netz. Zugang gab es ohnehin nur über koffergroße Büro-Computer, die sich über ein träges Modem hörbar in das vermeintlich welt-weite Gewebe einwählten. Da war noch nichts mit News via Smartphone mal flugs unterwegs gelesen, im Bus oder in der Bar.

Gleichsam überschaubar und geregelt war meine Öffentlichkeits- und Medienarbeit. Gelegentlich lud ich zu einer Pressekonferenz ein. Je nachdem, was die Redaktionen für wichtig hielten oder wichtig machen wollten, kamen auch Journalistinnen und Journalisten, also mal mehr, mal weniger. Dazwischen griff ich zur zweitstärksten Waffe, zur Presseerklärung. Auch dafür gab es bewährte Regeln, aus heutiger Sicht sehr komfortable. Demnach sollte man eine Presseerklärung möglichst bis 12 Uhr Mittag, spätestens bis 14 Uhr verbreitet haben, um die Chance zu wahren, in Zeitungsartikeln des Folgetages zitiert zu werden. Denn auch die Zeit von Journalistinnen und Journalisten ist begrenzt, sie springen auch nicht Hopplahopp, nur weil ihnen eine Erklärung ins Haus flattert. Obendrein droht ihnen irgendwann unverrückbar der Redaktionsschluss.

Inzwischen kann man diese altbewährten Regeln alle vergessen. Auch die Printmedien sind nebenbei online, die Kommunikation ist allgegenwärtig, einen fixen Redaktionsschluss gibt es nicht mehr, das Fax ist ohnehin out, das Alleskönnerhandy in. Will ich heute in Medien vorkommen, ob Zeitung oder Web-Portal, dann am besten via twitter, wo mir Journalistinnen und Journalisten online folgen. Nicht 12 bis 14 Uhr, sondern möglichst sofort. Ellenlange Erklärungen waren nie mein Markenzeichen, aber nun muss meine Botschaft in maximal 140 Zeichen passen, klar und Pau sein. So twitterte ich zum umstrittenen, gleichwohl komplexen Thema Maut auf deutschen Straßen: „Rein zufällig plädiert Verkehrminister Dobrindt (CSU) ausgerechnet für ein System, das eine Totalkontrolle aller Verkehrsteilnehmer zulässt.“ (140 Zeichen)
Erreichte ich früher zehn oder zwanzig Redaktionen auf einmal, so fliegt meine twitter-Botschaft inzwischen rund um die Welt. Experten haben gerechnet. Demnach bedarf es maximal acht „Stationen“, bis eine Meinung via Internet allüberall verbreitet ist. Der Sender einer Botschaft hat „fellows“, Verfolger, die den „twit“ verbreiten. Die wiederum haben andere Freunde und die Freunde der anderen Freunde wiederum haben noch andere Freunde. So fliegt meine Botschaft weltweit in Sekunden. Vorausgesetzt, die gezwitscherten 140 Zeichen wecken Interesse. Die dafür nötige Würze in der Kürze will natürlich auch erstmal erdacht und getippt werden.

2013 hatte sich Bundeskanzlerin Angela Merkel mit einer simplen Wortkombination Kritik und Hohn eingehandelt. Sie sprach vom „Neuland Internet“. „Offline-Oma Merkel“, haben wohl viele gedacht. Ich habe mich an dieser Häme nicht beteiligt. Denn sie hat Recht. Es ist keine 20 Jahre her, dass uns Kisten-Computer, Spezial-Postfächer und faxende Geräte ergötzten. Inzwischen klingt das nach Museumsgeschichten aus dem Mittelalter. Wer also weiß es besser und vor allem wirklich, was in noch einmal 20 Jahren sein wird? Alles Neuland!

* * *

So weit die Geschichte. Die Digitalisierung vollzieht sich räumlich global, also weltweit, und zeitlich expotential, also immer schneller. Anders gesagt: So grundsätzlich richtig der Anspruch auf lebenslanges Lernen ist, im Zusammenhang mit der Digitalisierung trifft er auf jeden Fall zu, deshalb mein Einschub vom vorläufigen Abschluss der Weiterbildung.
Gleichwohl gratuliere ich Ihnen herzlich.

Nun ist Digitalisierung in der Sache anspruchsvoll, sie hat aber auch politische Dimensionen. Auf eine gehe ich ein und rufe dazu das Jahr 1983 in Erinnerung. Damals fällte das Bundesverfassungsgericht ein weitreichendes Urteil. Allgemein bekannt ist es als „Volkszählungsurteil“. Mit ihm wurde in der Bundesrepublik Deutschland der Datenschutz in den Verfassungsrang gehoben. Wohl bemerkt, 1983, damals lebten wir fast ausnahmslos noch in der analogen Welt. Im Gerichtsurteil hieß es sinngemäß:

Bürgerinnen und Bürger, die nicht mehr wissen oder nicht mehr wissen können, wer was über sie weiß, sind nicht mehr souverän. Eine Demokratie ohne Souveräne aber ist undenkbar.

Als Innenpolitikerin sind meine Pro-Themen Bürgerrechte und Demokratie, meine Kontra-Themen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus.
Vor Geraumen bat mich eine Tageszeitung um einen Artikel. Ich möge darlegen, ob die Digitalisierung die Demokratie eher stärkt oder schwächt.
Keine Angst, ich lese den Artikel jetzt nicht vor, die Überschrift reicht:

„Chancen groß, Gefahren riesig“

Fragen Sie sich selbst:
Wissen sie noch, wer was über sie weiß oder wissen könnte?
Spätestens seit den Enthüllungen von Edward Snowden weiß die ganze Welt, was Geheimdienste für Datenkraken sind, nicht nur die NSA. Sie untergraben zielstrebig und unkontrollierbar die Demokratie. Für diese Aufklärung gebührt Snowden der Friedens-Nobelpreis, finde ich.
Aber auch im zivilen Bereich ist es Gang und Gäbe, persönliche Daten zu saugen, zu horten, zu speichern, zu vergleichen, zu manipulieren. Schauen wir nur zu den milliardenschweren Globalkonzernen im Silicon Valley, egal, ob sie Google oder Facebook heißen. Sie alle attackieren Grundlagen der Demokratie. Und wir helfen ihnen dabei, indem wir immer mehr Persönliches an sie Preis geben - ich auch.
Gleichwohl habe ich bisher keine Vorstellung, wie man deren privat-kapitalistische Monopolstellung brechen kann, ohne auf den vermeintlichen oder realen Service von Apple & Co. zu verzichten. Und deshalb gebe ich Ihnen diese Frage einfach mal als politische Denkaufgabe mit.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit und zudem allen, die diesen internationalen Bildungszyklus möglich gemacht haben.
Danke!

* * *

 
 

 

 

25.11.2019
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