Gern bin ich der Bitte gefolgt, zu Ihnen und mit Ihnen zu sprechen.
Das IPS-Programm steht seit Jahren fix und wichtig in meinem Kalender.
Ich werde meinen Einstieg zweiteilen.
Teil I - Holocaust
1. Unser gemeinsames Thema sind der Antisemitismus und der Holocaust.
Verkürzt versteht man unter Antisemitismus Hass auf Jüdinnen und Juden,
nur, weil sie Jüdinnen und Juden sind.
Zum Exzess wurde der Antisemitismus während der Herrschaft der Nazis und seines Führers Adolf Hitler in Deutschland 1933 - 1945 getrieben.
Er mündete in den Holocaust, dem Völkermord an Jüdinnen und Juden.
Jüdinnen und Juden selbst sprechen meist von der Shoa.
Rund sechs Millionen europäische Jüdinnen und Juden wurden damals systematisch umgebracht: erschlagen, erschossen, vergast.
Würde man jedem Opfer des Holocaust eine Schweigeminute widmen,
so würde über elf lange Jahre Friedhofsruhe herrschen, Totenstille.
2. Eine zentrale Rolle bei der Ermordung aller, die nicht in das unmenschliche Weltbild der Nazis passten, hatten deren Konzentrationslager, kurz KZ.
Wobei das oft zitierte KZ Auschwitz nur eines von vielen war.
Wie bestialisch es dort zuging, beschreibt der Historiker Paul Wilberg in seinem Standardwerk zum Holocaust. Ich zitiere eine längere Passage:
Nach der Entladung der Deportationszüge erfolgte die Selektion (Auslese); Alte, Kranke und gelegentlich auch kleine Kinder wurden bereits auf der Rampe aussortiert. Im Stammlager Auschwitz brachte man die Alten und Kranken auf Lastwagen zu den Gaskammern, kräftige Personen kamen zunächst zum Arbeitseinsatz. Die Selektion verlief dabei oberflächlich, die Angekommenen wurden an dem Arzt vorbeigetrieben, der in eine von zwei Richtungen wies: entweder zum Arbeitseinsatz oder sofort in die Gaskammer. Auch in den Lagern selbst (zum Beispiel auf dem Appellplatz und im Lager-Lazarett) kam es zu regelmäßigen Selektionen. Die der Gaskammer zugeteilten Männer und Frauen mussten sich entkleiden, wobei der Eindruck erweckt wurde, dass die Kleider nach dem angekündigten gemeinsamen Duschen zurückgegeben würden. Zur Täuschung, zur Vermeidung von Panik und zur Beschleunigung des Ablaufes behauptete die Wachmannschaft beispielsweise, man solle sich beeilen, da sonst das Wasser in den Duschen oder die Suppe nach dem Duschen kalt würde. Es kam gelegentlich auch im Winter vor, dass die entkleideten Menschen stundenlang barfuß im Freien stehen mussten, bis sie an die Reihe kamen, wobei sie in manchen Fällen die Schreie derer hörten, die vor ihnen in die Gaskammern gegangen waren. Die Opfer entdeckten in den Gaskammern, dass die vermeintlichen Duschen nicht funktionierten. Nach dem Schließen der Türen löschte die Wachmannschaft die elektrische Beleuchtung, da das Giftgas in hoher Konzentration leicht entzündlich ist. Ein SS-Mann mit spezieller Gasmaske öffnete den Deckel des Einwurfschachtes an der Decke und schüttete Zyklon-B-Pellets auf den Boden der Gaskammer. Die leicht flüchtige Blausäure gaste aus dem Granulat aus und verteilte sich im Raum. In Panik stießen die stärkeren die schwächeren Menschen nieder, drängten von der Einwurfstelle weg, stellten sich auf Umfallende und Liegende, um giftgasfreiere Luftschichten zu erreichen. Bewusstlosigkeit oder Tod trat bei den ersten Opfern nahe der Einwurfstelle nach etwa zwei Minuten ein. Das Schreien hörte auf und die Sterbenden fielen übereinander, sofern genügend Platz war. Nach fünfzehn Minuten waren alle in der Gaskammer tot. Die SS ließ das Gas entweichen und nach etwa einer halben Stunde öffnete das Häftlings-Sonderkommando die Türe. Die Leichen fand man turmartig angehäuft, manche in sitzender und halbsitzender Position, Kinder und ältere Menschen zuunterst. An der Stelle, wo das Gas eingeworfen worden war, befand sich ein freier Raum, da die Menschen von dort zurückgewichen waren. Eine Häufung von Menschen befand sich gepresst an der Eingangstüre, die sie zu öffnen versucht hatten. Die Haut der Leichen war rosafarben, teilweise stand Schaum vor den Lippen oder es hatte Nasenbluten eingesetzt. Einige Leichen waren mit Kot und Urin bedeckt, bei manchen schwangeren Frauen hatte die Geburt eingesetzt. Jüdische Sonderkommandos mit Gasmasken mussten zunächst die Leichen an der Tür wegräumen, um sich den Weg freizumachen. Dann mussten sie die Leichen abspritzen und auseinanderzerren. Sofern den Frauen das Haar noch nicht geschoren worden war, mussten sie es nun schneiden und vor dem Einpacken in Salmiaklösung waschen. In allen Lagern wurden die Körperhöhlen nach versteckten Wertsachen durchsucht, die Goldzähne gezogen. Abschließend wurden die Leichen zu den Krematorien abtransportiert.
3. Eigentlich müsste ich nach dieser Schilderung aufhören.
Denn es fällt schwer, zum Sachlichen zurückzukehren.
Aber ich möchte Ihnen noch drei weitere Gedanken mitgeben.
Der erste bezieht sich ebenfalls auf die Nazi-Zeit.
Bevor der Judenhass in Deutschland zum Holocaust eskaliert wurde,
gab es Vorstufen der Ausgrenzung von Jüdinnen und Juden.
1933
über Jüdische Geschäfte wird ein Boykott verhängt;
Juden werden aus dem Beamtentum ausgeschlossen;
Jüdische Ärzte dürfen nicht für Krankenkassen arbeiten.
1935
Juden wird der Besuch von Kinos, Cafés und Bädern untersagt;
die Nürnberger Rasse-Gesetze werden beschlossen;
Juden verlieren das Wahlrecht.
1937
Juden dürfen keinen Doktor-Grad erwerben;
die Zahl jüdischer Schülerinnen und Schüler wird beschränkt.
1938
Jüdische Betriebe werden arisiert (sprich: enteignet);
Juden dürfen keine Behörden mehr betreten;
9. November: Juden-Pogrome im ganzen Reich, Synagogen brennen.
1939
männliche Juden müssen sich Israel, weibliche Sara nennen;
Juden werden in so genannte Judenhäuser eingewiesen;
Juden müssen alle Rundfunkempfänger abgeben.
Ich mache jetzt einen Zeitsprung.
1942
20. Januar: Auf der sogenannten Wannsee-Konferenz in Berlin wird die Endlösung der Judenfrage beschlossen. Erklärtes Ziel war damit die Vernichtung aller Jüdinnen und Juden in ganz Europa.
Also das, was man später Holocaust oder Shoa nennen wird.
Kurzum: Der Holocaust oder die Shoa, der Völkermord an Jüdinnen und Juden, hatte Vorstufen der Ausgrenzung. Und mit jeder Stufe hatte die Nazi-Führung getestet, ob die Bevölkerung sie mit trägt. Das tat sie überwiegend.
Die Lehre: Man muss jeder Ausgrenzung, sei es aus religiösen, ethnischen oder politischen Gründen, von Beginn an widersprechen. Der Holocaust mahnt, was am Ende geschehen kann, wenn der gesellschaftliche Widerspruch ausbleibt.
Etliche Gedenkstätten erinnern daran.
In Berlin z. B. das Haus der Wannsee-Konferenz, das Sie anschließend besuchen. Neben dem Brandenburger Tor erstreckt sich das Denkmal für die ermordeten Jüdinnen und Juden. Und an vielen Orten in der Stadt finden Sie sogenannte Stolpersteine. Sie sind in Fußwege eingelassen - mit Namen und Daten - und erinnern so an Jüdinnen und Juden, die dort wohnten und von den Nazis umgebracht wurden.
Bei alledem geht es nicht allein ums Erinnern.
Es geht um unsere Verantwortung für die Gegenwart und Zukunft.
Imre Kertész war Ungar, Autor, Literatur-Nobel-Preisträger,
Jude und Holocaust-Überlebender.
Ich empfehle sein Buch Kaddisch für ein ungeborenes Kind.
Er hatte uns im Bundestag gemahnt:
Was vordem unvorstellbar war, ist geschehen.
Und was einmal geschah, kann wieder geschehen.
Mein zweiter Gedanke:
Nazi-Deutschland wurde von nahezu allen europäischen Staaten unterstützt,
wenn es um die Deportation von Jüdinnen und Juden ging,
ausgenommen einige skandinavische Regierungen.
Etliche Staaten, z. B. Ungarn, hatten ihre Jüdinnen und Juden
längst abholbereit in eigene Lager gesteckt.
Der Holocaust im weiteren Sinne ist also kein allein deutsches Verbrechen.
Aber das mindert die deutsche Hauptschuld um keinen Deut.
Historiker haben hochgerechnet, dass am Völkermord an den Juden
rund 500.000 Deutsche unmittelbar beteiligt waren, vom Transport in die Lager, bis zur Entsorgung der Leichen.
Deshalb bleibe ich dabei:
Antisemitismus ist nirgendwo hinnehmbar,
in Deutschland ist er unerträglich!
Mein dritter Gedanke:
Für Jüdinnen und Juden in aller Welt war die Gründung des Staates Israel
eine logische und unverzichtbare Konsequenz aus dem Holocaust.
Der Staat wurde im Mai 1948, vor nunmehr 70 Jahren gegründet,
mit Zustimmung der UNO, also völkerrechtlich begründet.
Als Linke kritisiere ich an der aktuellen Politik Israels vieles.
Aber das Existenzrecht des Staates Israel steht für mich außer Frage.
Teil II - Antisemitismus
Den Begriff Antisemitismus als Synonym für Judenhass gibt es erst seit dem 19. Jahrhundert. Er ist obendrein sachlich falsch.
Denn Antisemitismus bedeutet ja, dass man gegen Semiten ist.
Semitismus gilt historisch zuweilen als Sammelbegriff orientalischer Kultur. Sprachwissenschaftlich gehören zur Familie der Semiten Araber, Israelis, Aramäer, Malteser sowie Gruppen in Äthiopien/Eritrea, also nicht nur Juden.
Gleichwohl hat sich der Begriff Antisemitismus allgemein eingebürgert.
Wobei Judenfeindlichkeit viel älter ist und tausende Jahre zurückreicht.
Obendrein scheint Antisemitismus unausrottbar und vor allem dort besonders ausgeprägt, wo es gar keine Jüdinnen und Juden gibt.
Umso mehr drängt die Frage: Woraus speist sich der verbreitete Hass auf Jüdinnen und Juden - historisch und aktuell.
Wissenschaftler verweisen auf sechs Quellen:
Erstens: die religiöse Judenfeindschaft
Sie war bereits ein fester Bestandteil im frühen Christentum. Juden galten als blind und verstockt, weil sie Jesus nicht als Messias ansehen wollten. Der biblische Verrat an Jesu wurde den Juden angelastet. Dasselbe geschah bei unerklärlichen Bedrohungen, etwa als die Pest im Mittelalter wütete. Juden galten als Aussätzige. Vertreibungen von Juden und Pogrome gegen Juden folgten. Stereotypen, die daher stammen, sind zum Beispiel: Juden seien abweichlerisch und verräterisch.
Zweitens: die soziale Judenfeindschaft
Schon im Mittelalter wurden Juden zahlreiche Rechte versagt. Etliche Berufe oder Zünfte blieben ihnen verwehrt. Sie durften weder Grundbesitz haben, noch in Diensten des Staates tätig sein. Sie wichen daher in der Not vielfach auf Handels- und Finanzbranchen aus. Das wiederum öffnete Tür und Tor für neue Feindbilder, allemal, je mehr sich das Gefühl ausbreitete: Geld regiert die Welt! Der Jude als Wucherer und Betrüger gehört zu den überlieferten Stereotypen.
Drittens: die politische Judenfeindschaft
Sie unterstellt, Jüdinnen und Juden würden als Clique oder kollektiv ihren sozialen und wirtschaftlichen Status ausnutzen, um politische Macht gegen andere zu erheischen. Auch das ist ein sehr altes Klischee. Im Mittelalter wurden Juden als Brunnenvergifter verschrien. Im 20. Jahrhundert und bis heute gelten sie als Drahtzieher einer Weltverschwörung. Ein Beleg dafür sollen die Protokolle der Weisen von Zion sein. Eine Fälschung, ein antisemitisches Machwerk, das nichts desto trotz noch immer verbreitet wird, aktuell zunehmend in islamisch-geprägten Ländern.
Viertens: die rassistische Judenfeindschaft
Diese Quelle des Antisemitismus sprudelte besonders gefährlich ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sie korrespondierte mit unhaltbaren Rassentheorien. Sozial-Darwinismus ist ein Stichwort hierfür. Rasserein überleben oder chaotisch untergehen, hieß die propagandistische Alternative. Die Juden wurden als minderwertige Fremdkörper dargestellt und mithin als Gefahr für alle Arier. Auch dafür wurden Juden Eigenschaften angedichtet, wie parasitär, fratzenhaft, hakennäsig, aber auch durchtrieben oder hinterlistig.
Allen vier Quellen ist gemein, dass sie sich scheinbar ergänzen und gegenseitig durchdringen. Sie schaukeln sich hoch und sie wabern sich fort, unterschwellig oder bewusst angestachelt. Auch heute noch, so als hätte es den Holocaust, den systematischen Mord an sechs Millionen Jüdinnen und Juden nie gegeben.
Fünftens: der sekundäre Judenhass
Darunter werden Stereotype gefasst, wonach sich Jüdinnen und Juden zu Unrecht in einer kollektiven Opferrolle aufspielten. Denn den vielfach behaupteten Holocaust habe es nie gegeben. Es wird - insbesondere von Rechtsextremisten - unterstellt, der organisierte Massenmord an sechs Millionen Jüdinnen und Juden sei eine Erfindung der Juden, um das deutsche Volk zu demütigen. Die Erinnerung an den Holocaust wird als moralische Aggression angesehen. Aus Opfern werden so Täter, denen man sich zu erwehren habe.
Sechstens: der antizionistische Judenhass
Im Kern geht es darum, dass dem Staat Israel das Existenzrecht generell aberkannt wird. Im Focus des Nah-Ost-Konflikts erscheinen Jüdinnen und Juden so als notorische Kriegstreiber gegenüber der arabischen Welt, insbesondere gegenüber dem Palästinensischen Volk. Wohlgemerkt: Nicht die Regierung oder die Politik Israels steht in der Kritik, sondern alle Jüdinnen und Juden werden in Kollektivhaft genommen. Auch das ist einmalig und bei keinem anderen Volk der Fall, egal an wie vielen Kriegen andere Staaten auch beteiligt sind.
Im April 2017 übergab eine unabhängige Expertenkommission dem Bundestag einen umfangreichen Bericht über aktuellen Antisemitismus in Deutschland.
Sie finden ihn im Internet.
Demnach hegen 20 - 25 Prozent der Bevölkerung antisemitische Vorbehalte,
und zwar quer durch alle sozialen Schichten und Altersgruppen.
Die Verbreitung ist mithin seit Jahren etwa gleich hoch. Aber antisemitische Vorbehalte werden zunehmend unverhohlener geäußert, auch gewalttätig.
Angriffe auf jüdische Einrichtungen erfolgen fast täglich. Die Sorge, ja Angst unter Jüdinnen und Juden nimmt derzeit rasant zu.
Die Expertenkommission empfiehlt ein komplexes Programm für einen stärkeren Kampf gegen Antisemitismus - in der Gesellschaft, in der Politik.
Dabei ist richtig, dass viele Flüchtlinge aus dem arabischen Raum, die hierher kommen, vom antizionistischen Antisemitismus geprägt wurden.
Die Experten warnen aber auch vor falschen und einseitigen Sichten. Die größte Gefahr für Jüdinnen und Juden geht weiterhin von Rechtsextremen aus.
Ich füge hinzu: Jedweder Antisemitismus ist menschenfeindlich.
Schlussgedanke:
Eine Konsequenz aus dem mörderischen Agieren der Nazis 1933 - 1945
ist übrigens Artikel 1 Grundgesetz. Dort heißt es in Absatz 2:
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Wohl bemerkt aller Menschen,
nicht nur der Schönen und Reichen und nicht nur der Deutschen und Weißen.
Also auch aller Jüdinnen und Juden, egal, welcher Herkunft sie sind.
Antisemitismus ist folglich verfassungswidrig,
der Kampf dagegen ein Gebot des Humanismus.
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