Behörden machen Merkel wortbrüchig


Öffentliches Fachgespräch „NSU-Komplex - Bilanz und Ausblick“ der Fraktion DIE LINKE im Bundestag
Berlin, 20. Oktober 2014
Eröffnung von Petra Pau

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Vorab:

Der Zuspruch zu unserem öffentlichen Fachgespräch ist erfreulich.
Dafür danke ich Ihnen. Er ist sogar größer, als sich hier im Clara-Zetkin-Saal der LINKEN ermessen lässt. Wir bieten einen livestream an. Zudem wird unsere Beratung dokumentiert, auch optisch.

Daher meine Bitte: Wer aus verständlichen Gründen nicht auf Fotos und Videos erscheinen möchte, zeige das bitte an. Selbstverständlich wird das respektiert.

Und noch eine Bitte: Wer seine Beiträge auch als Datei parat hat, möge sie uns geben. Das erleichtert uns die Nachbereitung.

Zum geplanten Ablauf dieser Veranstaltung brauche ich hier nichts sagen. Er liegt Ihnen vor und ist zudem im Internet abrufbar, also genug der technischen Vorbemerkungen.
 

1. 

Es geht um Menschen und Menschenrechte
 
Vor kurzem war ich bei der Türkischen Gemeinde Berlin-Brandenburg. Mit „Klagelieder - über die Verbrechen von Jena“ nahmen Esther Dischereit und DJane Ipek Ipekçioğlu die Gefühle der Hinterbliebenen der NSU-Nazi-Mordopfer in den Blick.
 
Bevor 2012 der Untersuchungsausschuss des Bundestages seine Untersuchungen aufnahm, hatten wir zwei Anhörungen. In einer ging es um die Entwicklung rechtsextremer Strukturen in West und Ost seit den 1970er Jahren. Das war wichtig, für alle Ausschussmitglieder.
 
Andrea Röpcke zeigte damals sehr kenntnisreich, wie sich die Nazi-Szene entwickelt hatte, aus der später auch das NSU-Trio hervorging. Mein Kollege Clemens Binninger (CDU) bedankte sich bei ihr: „So eine fundierte Analyse hätte er gern mal von den Sicherheitsbehörden gehört.“
 
In der zweiten Anhörung ging es um die Opfer und Hinterbliebenen des NSU-Terrors. Barbara John schilderte sehr bewegende Beispiele, wie die Betroffenen das alles erlebten und erleben. Zusammengefasst: Der Amtstrott ging nach dem 4. 11. 2011 weiter, als sei nichts geschehen.
 
Barbara John wird übrigens in 14 Tagen ihr Buch „Unsere Wunden kann die Zeit nicht heilen“, öffentlich vorstellen. Ich empfehle es. Zumal: Medial kommt die Opfer-Perspektive viel zu selten vor. Wir beziehen sie heute bewusst ein. Es geht um Menschen und Menschenrechte.
 
Zur Erinnerung: Im Februar 2012 hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel den Opfern und ihren Hinterbliebenen bedingungslose Aufklärung versprochen. Davon kann auch anderthalb Jahre später keine Rede sein. Ihre eigenen Behörden machen die Kanzlerin zur Wortbrecherin.

2. 

Ämter für Verfassungsschutz schützen keine Verfassung
 
Im Vorfeld unserer Veranstaltung wurde ich gefragt, ob der nahende dritte Jahrestag des 4. November 2011, also das Finale des NSU-Trios in Eisenach für uns einen besonderen Anlass bot. Für mich jedenfalls nicht. Mich erregt vielmehr, dass seit dem 3. September 2013 nichts geschah.
 
Vor reichlich einem Jahr hatte der Bundestag den Abschlussbericht seines Untersuchungsausschusses debattiert und ihn zum Beschluss erhoben, inklusive 50 konkrete Schlussfolgerungen aus dem NSU-Desaster. Dasselbe wiederholte der aktuelle Bundestag im Februar 2014.
 
Nur: Bislang wurde keine dieser Schlussfolgerungen umgesetzt, nicht durch die Bundesregierung, nicht durch die Landesregierungen, nicht durch die Behörden im Bund und in den Ländern. DIE LINKE im Bundestag wird sich damit nicht abfinden. Wir bleiben dran.
 
Hinzu kommt: Die parlamentarischen Untersuchungsausschüsse im Bundestag, in Thüringen, in Sachsen, in Bayern haben vieles zu Tage gefördert, was zum NSU-Desaster führte, insbesondere zum totalen Versagen des Rechtsstaates und seiner Sicherheitsbehörden.
 
Umgekehrt haben die Sicherheitsbehörden alles versucht, um die Aufklärung zu behindern oder gar zu verhindern. Das begann schon unmittelbar nach dem 4. 11. 2011. Im Bundesamt für Verfassungsschutz wurde eine 100-köpfige Kommission gebildet und geheim gehalten.
 
Zur selben Zeit begann eine Aktenvernichtung großen Stils. Dieses Schreddern möglicher Belege musste in der Öffentlichkeit schlecht ankommen. Was die Frage provoziert, warum dies als kleineres Übel dennoch geschah? Was wäre der größere Skandal gewesen?
 
Das ist für mich alles offen. Kein Untersuchungsausschuss konnte die vermutete Finsternis bislang befriedigend erhellen. Wir werden das auch heute nicht klären. Aber Thema bleiben die Ämter für Verfassungsschutz. Wozu es erwartungsgemäß keinen fraktionsübergreifenden Konsens gibt.
 
Die Position der LINKEN ist übrigens, von eigenartigen regionalen Sonderheiten einmal abgesehen, klar. Die Ämter für Verfassungsschutz sind als Geheimdienste aufzulösen. Denn auch das NSU-Desaster hat gezeigt. Sie schützen nicht die Verfassung, sie stärken ihre Feinde.
 
Wie sagte Clemens Binninger? „So eine fundierte Analyse über die Nazi-Szene hätte ich gern mal von den Sicherheitsbehörden gehört.“ Er hätte vom Verfassungsschutz viel über die Journalistin Andrea Röppke erfahren können. Denn der hatte sie als "Verfassungsfeindin" im Visier.

3. 

Sieben Versager beim NSU-Desaster
 
Das übergreifende Thema heißt Rassismus. Er grassiert und das hat Ursachen. Auch die werden wir heute nicht klären. Aber wir wollen sie aufrufen. Wobei meine Perspektive sagt: Betroffen sind wir alle. Denn entweder gilt Menschlichkeit für alle oder letztlich für niemanden.
 
Aber weg von notwendigen Allgemeinplätzen:
 
Ich hatte vor Jahresfrist schon einmal in sechs Punkten gebündelt, wer alles beim NSU-Desaster versagt hat. In Kurzfassung:
 
Erstens: Der Rechtsstaat hat versagt.
Er hat seine Bürgerinnen und Bürger vor Straftaten, allemal vor Mord zu schützen. Sollte ihm das, aus welchen Gründen auch immer, nicht gelingen, so hat er die Straftat aufzuklären, die Täter zu ermitteln und gemäß Gesetz zu bestrafen. Beides geschah bislang nicht.
 
Zweitens: Die militante Nazi-Szene wurde unterschätzt.
Die Nazi-Szene ist vernetzt, europaweit, in die USA hinein, bis nach Südafrika. Pläne zur Bewaffnung und zu Terror-Anschlägen wurden längst international debattiert und auch praktiziert. Die deutschen Sicherheitsbehörden hatten das offenbar komplett ausgeblendet.
 
Drittens: Die Ermittlungen trugen rassistische Züge.
Bei neun Morden und zwei Bombenanschläge waren vor allem Menschen mit türkischen Wurzeln betroffen. Ein rassistischer Hintergrund lag nahe. Ermittelt aber wurde im Umfeld der Opfer. Ihnen wurde organisierte Kriminalität unterstellt. So wurden aus Betroffenen Täter gemacht.
 
Viertens: Die Geheimdienste führten ein Eigenleben.
Die Inlandsgeheimdienste, die Ämter für Verfassungsschutz, hatten zahlreiche Informationen, die zu dem Nazi-Trio hätten führen können. Aber sie wurden nie angemessen analysiert und vor allem wurden sie gegenüber den ermittelnden Kriminalämtern geheim gehalten.
 
Fünftens: Eine Nazi-Mord-Serie passte nicht ins deutsche Image.
Kurze Zeit, 2006, gingen Ermittler von rechtsextremen Tätern aus. Öffentlich wurde diese Annahme unterdrückt. In Deutschland fand damals die Fußball-Weltmeisterschaft statt. Ihr Motto: „Die Welt zu Gast bei Freunden!“ Dieses Bild sollte nicht gestört werden.
 
Sechstens: Die Medien haben ebenso versagt
Sie waren fast durchweg zu staats-nah und zu opfer-fern. Nahezu unkritisch wurden Verlautbarungen der Sicherheitsbehörden verbreitet. Alternative Annahmen dazu wurden ausgeblendet. Überhaupt hat das Thema Rechtsextremismus in Medien nur eine Ausnahme-Chance.
 
Hinzu kommt Punkt sieben, das Wegducken der Politik, Selbstkritik
DIE LINKE hatte zwar 2006 eine kleine Anfrage an die Bundesregierung gestellt, gezeichnet von Hakin Keskin. Damals demonstrierten in Kassel Tausende unter dem Motto „Kein zehntes Opfer“. Die Antwort war nichts sagend. Wir hatten sie dennoch hingenommen.

4. 

Aktuell laufen im Bundestag Debatten um den Haushalt 2015. Die „schwarze Null“ ist dabei das bemühte Zauberwort. Ich führe hier keine Steuerdebatte, sondern merke nur an: Initiativen für Opfer und gegen Rechtsextremismus könnten beim aktuellen Finanzstreit verlieren.
 
Das ist natürlich widersinnig. Aber Irrsinn ist hartnäckig.
DIE LINKE will generell ein anderes Fördermodell: parteiferner, finanziell angemessener, langfristig verlässlicher. Übrigens: Auch die „Extremismusklausel“ ist nicht weg, sondern wurde nur abgeschwächt.
 
Das alles werden wir aktuell grundsätzlich ändern können. Aber wer die Chance hat, sollte sie nutzen und Verbündete in den anderen Fraktionen suchen. Damit wenigstens der Haushaltsansatz für 2015 von derzeit 30 Millionen Euro auf fünfzig Millionen bundesweit angehoben wird.

5. 

Zwei Abschlussgedanken zum Einstieg
 
Dem NSU werden zehn Morde, zwei Anschläge und zahlreiche Überfälle angelastet. Es gibt keinen einzigen Tatort, bei dem ich guten Gewissens sagen könnte: Ja, so muss es gewesen sein. Das trifft übrigens auch auf das NSU-Ende nach dem Banküberfall in Eisenach zu.
 
Stattdessen mehren sich Zweifel an der Darstellung der Behörden. Angeblich hatten sie erst nach dem 4. November 2011 von der Existenz der Mörderbande namens NSU erfahren. Das Wort "Pannen" habe ich in diesen Zusammenhängen ohnehin längst gestrichen.
 
Und auch darin sind wir uns sicher einig: Die NSU-Terrorbande lässt sich nicht auf das Trio Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe reduzieren, ebenso wenig, wie die rechtsterroristische Gefahr auf die NSU-Clique. Es geht daher heute in der Tat um beides: um Bilanz und Ausblick.
 
Ich wünsche uns allen eine konstruktive Beratung mit Folgen.
 

 

 

20.10.2014
www.petra-pau.de

 

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