NSU-Desaster: Erschrecken riesig, Konsequenzen winzig

Beitrag von Petra Pau zum NSU-Komplex auf dem 3. Parlamentariertag der LINKEN
Erfurt, 4. September 2014

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I. Zum Einstieg in die Debatte sechs knappe Anmerkungen:

Am 4. November 2011, spätestens am Tag darauf, wurde bekannt, dass eine Nazi-Bande über zehn Jahre lang mordend und raubend quer durch die Bundesrepublik Deutschland unterwegs war, angeblich unerkannt und unbehelligt. Dahinter setze ich Fragezeichen Nummer 1.

Nach allen Erkenntnissen aus mehreren Untersuchungsausschüssen und vielen journalistische Recherchen gibt es für mich nicht einen einzigen NSU-Tathergang, bei dem ich sagen könnte: Ja, genauso müsste es gewesen sein. Daraus ergibt sich Fragezeichen Numero 2.

Im Bundestag, in Thüringen und Sachsen, später in Bayern, Hessen und NRW wurden parlamentarische Untersuchungsausschüsse eingesetzt. In anderen Ländern mit NSU-Bezug noch immer nicht. Diese Aufklärungs-Abstinenz trägt alle Partei-Farben, also Fragezeichen 3.

Die Bundeskanzlerin hatte 2012 den NSU-Opfern und deren Angehörigen bedingungslose Aufklärung versprochen. Davon kann keine Rede sein. Nahezu alle beteiligten Politiker und Behörden mauern. Die drohende Akteneinsicht war offenbar gefährlicher, als der Vorwurf des Schreddern. Fragezeichen 4.

Die 1.500 Seiten Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses des Bundestages wurden zweimal im Plenum bekräftigt, einmal in der 17. Legislatur, noch mal in der aktuellen. Umgesetzt wurde bislang fast nichts, auch in den Ländern nicht. Ergo das 5. Fragezeichen.

Das bis hierher Gesagte zusammengefasst: Das Erschrecken nach dem NSU-Desaster war riesig. Die greifbaren Konsequenzen daraus sind winzig. Ich füge hinzu: Der NSU war nie nur ein Trio. Und die Gefahr des Rechtsterrorismus erschöpfte sich nicht im NSU. Sie ist auch nicht gebannt - Ausrufezeichen!

II. Die Schlussfolgerungen aus dem NSU-Desaster sind vielfältig und umfangreich. Die bekannten Sonder-Voten der LINKEN sind weitergehend.

Dabei geht es vor allem um drei Stränge:

• Geheimdienste und V-Leute
• Rassismus und Behörden
• Politik und Gesellschaft

Geheimdienste und V-Leute
Im Zentrum des staatlichen Versagens agierten die Ämter für Verfassungsschutz. Sie haben nicht das Grundgesetz geschützt, sondern Nazis unterstützt und polizeiliche Ermittlungen behindert.

Deshalb unsere Forderung: Die Ämter für Verfassungsschutz sind als Geheimdienste aufzulösen. Außerdem ist die V-Leute-Praxis aller Sicherheitsbehörden umgehend einzustellen.

Nun hege ich keine Illusionen, was sich derzeit wirklich durchsetzen lässt. Andererseits waren die Geheimdienste aller Art noch nie so weitgehend diskreditiert, wie jetzt (siehe NSU und NSA).

Wer, wenn nicht DIE LINKE, sollte das allgemeine Unbehagen und die erlebbaren Proteste gegen Geheimdienste in den Parlamenten vertreten?
Wir müssen uns also verständigen, wie wir das forcieren.

Zur unsäglichen V-Leute-Praxis könnte ich die Geschichte „Piatto“ (Brandenburg) erzählen. Die Wirren um V-Mann „Corelli“ (Sachsen-Anhalt) sind nicht kleiner. Beide und mehr V-Leute hatten NSU-Bezüge.

2013 behauptete die „Magdeburger Volksstimme“ übrigens, Petra Pau habe „Corelli“ enttarnt, damit Geheimnisverrat begangen und die Sicherheit gefährdet. Das war natürlich blanker Schwachsinn, eine gesteuerte Lüge.

Nazi „Corelli“ kam in ein BKA-Zeugenschutzprogramm. Just, als der Generalbundesanwalt ihn 2014 zum NSU vernehmen wollte, fand man ihn tot auf. Dumm gelaufen, ein Diabetes-Unfall, heißt es offiziell.

Ich bediene keine Verschwörungstheorien. Aber alle Sicherheitsbehörden agieren mit V-Leuten aus der Szene, kaufen sie ein, bauen sie auf, schirmen sie ab. Was also können wir dagegen tun - konkret?

Rassismus und Behörden
Die zweite Konsequenz aus dem NSU-Desaster ist ein weitergehendes Thema, es heißt Rassismus, gesellschaftlicher und institutioneller Rassismus. Die Türkische Gemeinde in Deutschland fordert seit langem einen „Gipfel gegen Rassismus“. Ich unterstütze das.

Aber damit allein wäre es natürlich nicht getan. Auch zu diesem Problem brauchen wir eine Abstimmung, wie wir im Bund und in den Ländern parlamentarisch künftig vorgehen wollen.

Ich nenne zum NSU-Komplex nur drei konkrete Stichpunkte:
a) ein Bleiberecht für Opfer rechtsextrem-rassistischer Gewalt;
b) Programme zur Sensibilisierung innerhalb der Polizei und Justiz;
c) unabhängige Polizei-Beobachtungs- und -Beschwerde-Stellen.

Darüber hinaus werden Asylsuchende, Flüchtlinge, aber auch seit langem hier lebende Migrantinnen und Migranten vielfach rechtlich benachteiligt.
Das manifestiert und fördert rassistische Einstellungen.

Politik und Gesellschaft
Ein dritter Komplex nach dem NSU-Desaster ist nicht neu, aber nach wie vor relevant: Die Förderung von gesellschaftlichen Initiativen gegen Rechtsextremismus und Rassismus ist höchst unbefriedigend.

Die viel gescholtene „Extremismus-Klausel“, mit der entsprechende Initiativen unter einen verfassungswidrigen Generalverdacht gestellt werden, wurde abgeschwächt, existiert aber weiterhin.

Ihre finanzielle Unterstützung durch den Bund reicht nicht. Nach Auffassung der LINKEN ist sie auf 50 Mio. Euro jährlich zu verdoppeln. Zudem ist sie gen West auszudehnen und vor allem zu verstetigen.

Das alles enthebt die Bundesländer nicht eigener Verpflichtungen. Auch DIE LINKE nicht. Die beginnt bei parlamentarischen Anfragen zu rechtsextremen Straftaten und Entwicklungen, endet aber damit nicht.

Nach meinen Beobachtungen ist DIE LINKE bislang die einzige Partei, die das seit Jahren konsequent tut. Wir sollten beraten, wie das noch abgestimmter und effektiver gehen könnte.

Besser früher, als später, wollen wir die Förderung gesellschaftlicher Initiativen für Demokratie und Toleranz aus dem partei-politischen Zugriff eines Bundesministeriums heraus lösen (z. Z. Familie).

Wir plädieren stattdessen für ein Stiftungsmodell, das mit einer unabhängigen Beobachtungsstelle gegen „Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus“ korrespondiert.

Hinzugefügt sei: Ich plädiere noch immer für eine Beauftrage des Bundestags für Bürgerrechte, Demokratie und Toleranz. Das klingt formal und ist bislang auch in der Fraktion DIE LINKE nicht mehrheitsfähig.

Aber ich halte zwei Gründe dagegen.

Der Erste: Der Kampf gegen Rechtsextremismus und Rassismus ist komplex und ressortübergreifend. Wird das Innen- oder Justiz-Ministerium zuständig, ist es schon zu spät.

Alle Ausschüsse der Parlamente und alle Ministerien der Regierungen müssen ihre Beiträge leisten. Dies zu koordinieren wäre eine sinnvolle Aufgabe für eine Bundesbeauftragte.

Der zweite Grund: Wir haben einen Bundesbeauftragten für Menschenrechte. Der ist weltweit unterwegs und interveniert anderswo gegen Menschenrechtsverletzungen. Zu Recht.

Nur hierzulande, in der Bundesrepublik Deutschland, gibt es keinen autorisierten Ansprechpartner, wenn es um Verstöße gegen Bürger- und Freiheitsrechte geht. Kurzum: Mein Vorschlag bleibt.

III. Drei Abschlussgedanken von mir, vor unserer Debatte und für sie:

Der Erste: Rund vier Dutzend Linke waren bislang parlamentarisch intensiv mit dem NSU-Desaster befasst. Wir schauten in Abgründe und kennen viele Details. Gleichwohl empfehle ich allen das dicke Buch von Stefan Aust und Dirk Laabs „Heimatschutz“. Ich teile nicht jeden Satz. Aber es bietet einen historischen und gesellschaftlichen Draufblick, weit über das NSU-Netzwerk hinaus.

Der Zweite: Wenn es gegen Nazis geht, dann brauchen wir breitmöglichste Bündnisse, von CSU bis Linke, von Gebeten bis Blockaden, von Apothekern bis zu Autonomen. Die Nazis kamen 1933 nicht an die Macht, weil die NSDAP so stark war, sondern weil Demokraten zerstritten waren. Ich suche solche Bündnisse und ich lehne alles als a-politisch ab, was sie überheblich gefährdet.

Der dritte Gedanke als Frage: Warum gewinnen Rechte (Extremisten und Populisten) immer mehr Zuspruch? In Europa, aber auch in Deutschland? Zum ersten Trend kommt ein zweiter. Zuflucht bei rechten Alternativen suchen zunehmend junge Leute bis 35 Jahre. (aktuell: Landtagswahl in Sachsen). Das war früher anders, da entschieden sich Jüngere überdurchschnittlich für Links.

Wir werden das heute nicht klären. Zumal es in diesem Workshop nicht um Wahlanalysen geht. Aber es sind offenbar längerfristige Entwicklungen. Deshalb erinnere ich zum gemeinsamen Nachdenken an zwei Analysen.

Die Langzeitstudie von Prof. Heitmeyer & Team mahnt: Die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit nimmt zu, ebenso die gesellschaftliche Akzeptanz von Gewalt. Benannt werden zwei Ursachen. Kurz gefasst: Das Soziale wird ökonomisiert, die Demokratie wird entleert.
Anders gesagt: Die neoliberale Strategie treibt die Gesellschaft nach rechts.

Wissenschaftler im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung bestätigten dies: Die Mitte ist im Umbruch, instabil und schwindend. Ein Grund dafür seien beschleunigte globale Entwicklungen. Diese werden für viele immer unüberschaubarer und deshalb als diffuse Bedrohung empfunden. Genau das gibt Nazis eine Chance, warnen sie. (Vgl. Griechenland und Frankreich)

Ihre Empfehlung lautet: „Mehr Politik wagen!“ Dazu gehören ein auskömmlicher gesetzlicher Mindestlohn ebenso wie die Umverteilung von Wohlstand und eine Neubewertung von Arbeit. Sie regen Neues an, so auch ein bedingungsloses Grundeinkommen. Schließlich mahnen sie: „Mehr Europa, aber anders, nämlich sozial und demokratisch.“

Das alles war und ist nicht Gegenstand in den Untersuchungsausschüssen zum NSU-Desaster. Aber wer das Fiasko auf mordende Nazis und auf das Totalversagen der Sicherheitsbehörden beschränkt, nimmt generelle politische Fehlentwicklungen aus dem Blick. Das wäre im Wortsinne kurzsichtig.
 

 

 

4.9.2014
www.petra-pau.de

 

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