Das „Kapitel NSU“ darf nicht geschlossen werden

Bundestag, 20. Februar 2014, Debatte zum interfraktionellen Antrag mit 50 Konsequenzen aus dem NSU-Nazi-Mord-Desaster
Rede von Petra Pau

1. 

Ein Nazi-Trio namens NSU (Nationalsozialistischer Untergrund) war 13 Jahre lang raubend und mordend durch Deutschland gezogen.
 
Nach dem 4. November 2011 flog es auf. Das allgemeine Entsetzen war groß, auch über die Ignoranz und Arroganz von Sicherheitsbehörden.
 
Was lange ausgeblendet wurde - weil nicht sein sollte, was nicht sein darf - wurde manifest: Es gibt tödlichen Rechtsterrorismus in Deutschland.
 
Und es gibt Opfer, ebenfalls viel mehr, als bis dato eingestanden wurde. Vor allem ihnen gilt unser erstes Augenmerk.

2. 

Der damalige Bundestag einigte sich 2012 fraktions-übergreifend auf einen Untersuchungsausschuss. Ich arbeitete in ihm für DIE LINKE mit.
 
Am 2. September 2013 hatte derselbe Untersuchungsausschuss - wiederum fraktions-übergreifend - einen Abschlussbericht vorgelegt.
 
Die Fraktion DIE LINKE hatte ihm zugestimmt. Der Abschlussbericht enthält zugleich unsere weitergehenden oder abweichenden Positionen.
 
Grundsätzlich sind es vor allem drei:
 
Erstens halten wir die Ämter für Verfassungsschutz für nicht kontrollierbar und deshalb auch für nicht reformierbar. Sie waren Teil des NSU-Desasters. Sie sollten als Geheimdienste aufgelöst werden.
 
Zweitens ist die staatliche Unterstützung für gesellschaftliche Initiativen gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus völlig unzureichend. Wir brauchen folglich ein neues Fördersystem.
 
Drittens muss der grassierende Rassismus - in der Gesellschaft und von Staats wegen - endlich als akutes Problem anerkannt und politisch bekämpft werden. Ignoranz hilft niemandem!
 
Militanter Rechtsextremismus hat außerdem eine internationale Dimension, auch für eine soziale und demokratische Europäische Union.
 
Nationalismus und Rassismus töten die Europäische Idee.
Das will DIE LINKE nicht.

3. 

Mit dem Schlussbericht des Untersuchungsausschusses im September 2013 waren wir uns allesamt einig: Keiner der NSU-Morde und Anschläge sind schlüssig geklärt. Es bleiben viele Fragen.
 
Wir haben ebenso beklagt, dass der Aufklärungswille in den meisten Bundesländern und Landesparlamenten unterirdisch ist. Es wird blockiert. Übrigens egal, welche Parteifarben gerade regieren.
 
Dass Innenminister und Sicherheitsbehörden ob des NSU-Desasters mauern, hatte ich erwartet. Dass Parlamentarier kneifen, ist schlimmer.

4. 

Nun komme ich zu der Frage: Was ist seit dem Abschlussbericht des NSU-Untersuchungsausschusses des Bundestags, also seit September 2013, wahrnehmbar passiert? Dazu drei Beispiele:
 
Erstens wurde die so genannte Extremismus-Klausel, mit der Initiativen gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus von Staatswegen kriminalisiert wurden, abgeschwächt. Das ist ein Anfang.
 
Zweitens hat sich der Kölner Polizeipräsident bei den Betroffenen des NSU-Bomben-Anschlags anno 2004 in der Keupstraße dafür entschuldigt, dass sie im Zentrum der Ermittlungen standen. Ich sage: endlich!
 
Drittens hatte die Bundesregierung seit 1990 knapp 60 Tote rechtsextremer Gewalt eingeräumt. Seriöse Recherchen registrieren 150 bis 180 Tote. Die Diskrepanz soll nun überprüft werden. Das ist überfällig.
 
Aber das alles ist viel zu wenig! Niemand, keine Regierung und keine Behörde im Bund und in den Ländern waren daran gehindert, die Schlussfolgerungen aus dem Untersuchungsausschuss umzusetzen. Es geschah nur bisher kaum. Das verlängert das Desaster.

5. 

Die Todes-Spur gewalttätiger Nazis geht übrigens quer durch die Bundesrepublik Deutschland, West und Ost, Nord und Süd.
Sie ist auch nicht auf das NSU-Netzwerk reduzierbar.
 
In Sachsen-Anhalt begann diese Woche ein Prozess gegen gewalttätige Nazis. Sie hatten 2013 in Bernburg einen Imbiss überfallen, den Betreiber rassistisch beschimpft und halbtot geschlagen.
 
Es waren Wiederholungstäter, vorbestraft und landesweit bekannt. Trotzdem tun sich die Polizei und die Justiz schwer damit, überhaupt ein politisches Motiv zu erkennen.
 
Ich könnte ähnliche Fälle aus den zurückliegenden Monaten aufzählen, aus Bayern, aus Baden-Württemberg und immer wieder aus Sachsen.
 
All das sind ernste Hinweise darauf, dass zu viele die „Lektion NSU“ noch immer nicht gelernt haben. Das muss sich ändern.
 
Eine aktuelle Zahl auf Anfrage der LINKEN möge die Brisanz des militanten Rechtsextremismus zusätzlich unterstreichen.
 
Laut Bundesinnenministerium wurden in den zehn Jahren zwischen 2003 und 2012 mindestens 1.794 Angriffe registriert, bei denen Nazis Waffen eingesetzt hatten oder damit gedroht haben.
 
Mit anderen Worten: Im statistischen Schnitt gibt es bundesweit jeden zweiten Tag eine bewaffnete Attacke durch Rechtsextreme.
 
Kurzum: Die Gefahr ist nicht gebannt. Sie ist ungebrochen hoch.
Deshalb darf auch das „Kapitel NSU“ nicht geschlossen werden.

6. 

Vor zwei Jahren versprach Bundeskanzlerin Angela Merkel den NSU-Opfern bedingungslose Aufklärung. Davon kann bislang keine Rede sein.
 
Auch Behauptungen aus Sicherheitsbehörden, ihr Ermittlungsdruck habe die militante Nazi-Szene eingeschüchtert, sind schlicht falsch.
 
Im Gegenteil: Die NPD und die autonome Nazi-Szene machen in Wort und Tat bundesweit mobil vor allem gegen Menschen in Not, gegen Flüchtlinge und Asylsuchende - wie in den Pogromjahren 1991/92!
 
Dagegen sollten alle demokratischen Parteien alles vermeiden, was von Nazis und anderen Rassisten aufmunternd verstanden werden könnte.
 
Auch deshalb müssen die 50 Schlussfolgerungen aus dem Bericht des NSU-Untersuchungsausschusses endlich umgesetzt werden.
 
Das will der aktuelle Antrag. Es drängt!

[download] Stenographischer Bericht, pdf-Datei

[als Video]

 

 

20.2.2014
www.petra-pau.de

 

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