Wie geht es der Demokratie in Deutschland?
Petra Pau
Sehr schlecht, sie fiebert.
Schnupfen?
Schwindsucht.
Das ist eine böse Diagnose.
Ich fange mal abstrakt an. Das Wort Demokratie kommt aus dem Griechischen und bedeutet übersetzt: Herrschaft des Volkes. Man frage Bürgerinnen und Bürger, ob sie herrschen oder sich beherrscht fühlen?
Das klingt jetzt revolutionär.
Nein, ganz irdisch. Eine Mehrheit der Bevölkerung ist gegen Kriegseinsätze der Bundeswehr, eine Mehrheit im Bundestag ist dafür. Eine Mehrheit der Bevölkerung ist gegen die Rente ab 67 Jahre, eine Mehrheit im Bundestag ist dafür. Eine Mehrheit in der Bevölkerung ist für direkte Demokratie, also auch für Volksentscheide. Wieder sieht es im Bundestag anders aus.
Aber die Mehrheit im Bundestag wurde von einer Mehrheit der Bevölkerung demokratisch gewählt.
Auf den ersten Blick, ja...
...und auf den zweiten?
Die größte Partei ist längst die der Nichtwähler, Tendenz steigend. Mal eine kleine DDR-Wende-Erinnerung: Die Volkskammer wurde am 18. März 1990 von 93,4 Prozent aller Bürgerinnen und Bürger in befreiender Hoffnung gewählt. Inzwischen zweifeln bundesweit immer mehr daran, dass die repräsentative Demokratie ihnen etwas bringt. Im Osten übrigens noch mehr als im Westen. Hinzu kommen zwei weitere Tendenzen.
Erstens?
Regierungen, nahezu alle, versuchen sich dem Parlament zu entziehen. Sie wollen möglichst ungestört und unkontrolliert schalten und walten. Das widerspricht der Demokratie-Idee.
Und zweitens?
Immer mehr Entscheidungen verschwinden aus Sicht der Bürgerinnen und Bürger im undemokratischen Nirwana, zum Beispiel im EU-Dschungel.
Gegen beide Entwicklungen hat DIE LINKE beim Bundesverfassungsgericht geklagt.
Ja, mehrfach und weitgehend erfolgreich. Immer ging es darum, die Rechte des Bundestags und damit seiner Wählerinnen und Wähler zu wahren. Zuletzt, als hunderte Milliarden Euro – ohne Parlamentsentscheid - für die angebliche Rettung von Griechenland und weiteren EU-Staaten bewilligt werden sollten.
Warum angebliche Rettung?
Weil es im Kern nicht um Griechenland geht, auch nicht um die Europäische Union, sondern um den Profit spekulierender Banken. Aber das führt jetzt zu weit, erhellt aber exemplarisch das Demokratie-Problem auf doppelte Weise.
Wenn doppelt, dann wieder Erstens?
Griechenland wurden von der EU Milliarden Euro in Aussicht gestellt. Vorausgesetzt, das griechische Parlament, und zwar alle Parteien, beugen sich ohne Wenn und Aber dem Diktat der EU-Kommission.
Damit wurde das griechische Parlament kaltgestellt?
Ganz kalt, zum Sozial-Crash kommt der Demokratie-Crash.
Und Zweitens?
Das alles wurde damit begründet, dass die Finanzmärkte beruhigt und Vertrauen in die Politik gewinnen müssen.
Ein absurdes Argument?
Ja, aber Bundeskanzlerin Angela Merkel hat es zum Programm erhoben. 2005 meinte sie, es gäbe keinen Rechtsanspruch auf Demokratie. Was eigentlich ein Fall für den Verfassungsschutz wäre. Aber ich lehne den bekanntlich als undemokratischen Gesinnungsgeheimdienst ab. Also zurück zur CDU-Vorsitzenden: aktuell plädierte sie für eine marktkonforme Demokratie.
Für die Unterordnung der Demokratie unter unkontrollierte Märkte?
Die große Verheißung von der Volksherrschaft entpuppt sich als Diktatur des großen Geldes. Kapital, meinte schon Karl Marx, ist ein Herrschaftsverhältnis. Die Politik kapituliert. Sie prostituiert sich. Das ist Verrat an der Demokratie.
Und Stimmungsmacher, wie BILD, trommeln dazu patriotisch-deutschnational gegen faule Griechen.
Ja, kreuzgefährlich. Hinter alledem steckt aber auch ein objektives Problem und damit eine grundsätzliche Richtungsentscheidung.
Welche?
Wir erleben seit Jahren: Es geht um Unsummen Geld. Banken und Börsen bewegen sie per Computer weltweit in Sekundenschnelle. Politik und Demokratie aber brauchen Zeit, manchmal Wochen, manchmal Monate.
Ein unauflösbarer Widerspruch?
Das wäre schlimm und das Ende einer ohnehin beschränkten Demokratie. Ganz grob gesagt: Das Merkel-Credo muss umgekehrt werden. Wir brauchen eine demokratiekonforme Marktwirtschaft.
Was wiederum heißt?
Die Finanzwelt muss endlich gebannt und die Wirtschaft reguliert werden. Der FDP-gelobte Markt ist sozial und ökologisch blind. Es geht um das viel zitierte Primat der Politik. Es wurde aufgegeben. Es muss zurückerobert werden.
Wieso ohnehin beschränkte Demokratie?
Zumeist sprechen wir über Demokratie im politischen Raum. Aber das ist nicht einmal das halbe Leben. Die Welt der Wirtschaft ist weitgehend demokratiefrei. Wirkliche Mitbestimmung gibt es dort nur für die Unternehmerseite oder für Aktionäre, nicht aber für die Millionen Beschäftigten.
Es gibt Gewerkschaften...
... das ist auch gut so, aber keine Garantie für Demokratie. Ich bleibe mal auf meinem Gebiet, der Innenpolitik. Über soziale Probleme kann jeder Polizist ein Lied singen. Aber es geht auch um Sicherheit unter der Maßgabe garantierter Bürgerrechte. Wozu übrigens auch der Datenschutz gehört. Ein Blick in Erklärungen der Deutschen Polizeigewerkschaft reicht: In aller Regel pfeift sie auf Bürgerrechte und damit auf Demokratie.
Was hat der Datenschutz damit zu tun?
Es gibt ein legendäres Urteil des Bundesverfassungsgerichtes, das so genannte Volkszählungsurteil. Es gab dem Datenschutz Verfassungsrang.
Wer nichts zu verbergen hat, hat auch nichts zu befürchten, oder?
Ein beliebter Spruch. Er ist grundfalsch. Das Bundesverfassungsgericht hat sinngemäß klargestellt: Bürgerinnen und Bürger, die nicht mehr wissen, wer was über sie weiß, sind nicht mehr souverän. Sie werden manipulierbar und passen sich an. Wer nicht mehr souverän ist, kann folglich kein Souverän sein. Eine Demokratie ohne Souveräne aber ist unvorstellbar.
Das in den Gehörgang aller Facebook-Freunde, oder?
Ja, unbedingt, wobei ich ja auch bei Facebook und Twitter dabei bin. Da ist viel Leichtsinn unterwegs. Umso weniger darf man das vergiftete Argument staatlicher Behörden gelten lassen: Was im Internet möglich ist, darf dem Staat nicht verwehrt werden. Die Datensammelwut des Staates wächst längst ins Unermessliche. Es droht ein völlig neuer Überwachungsstaat.
Bei der Polizei und beim Verfassungsschutz?
Nicht nur. Hartz IV ist unsozial und obendrein eine Datenkrake. Wer bedürftig wird, muss über 150 ganz persönliche Daten über sich und seine Umgebung preisgeben. Das würden die Schönen und Reichen nie tun. Kurzum: Wer arm dran ist, verliert auch noch Bürgerrechte und jegliche Souveränität.
Über ein demokratiefeindliches Thema haben wir noch gar nicht gesprochen: den Rechtsextremismus.
Die Nazi-Ideologie folgt dem germanischen Führer-Prinzip. Artikel 1 Grundgesetz, die unantastbare Würde aller Menschen, wird bekämpft. Die NSU-Nazi-Mordserie ist dabei nur die Spitze eines Eisberges. Rechtsextremismus und Demokratie sind wie Feuer und Wasser.
Was hiermit hinreichend klargestellt ist.
Leider nicht. Ich nehme als Politikerin wissenschaftliche Studien ernst, zum Beispiel die Langzeitstudie des Teams um Professor Heitmeyer.
Über Deutsche Zustände?
Sie besagt, dass die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in Deutschland zunimmt. Ebenso die Bereitschaft, Gewalt als Problemlösung zu akzeptieren.
Unter Nazis?
Nein, inmitten der Gesellschaft. Und als akute Brandstifter für diese antidemokratischen Stimmungen benennt die Studie: Das Soziale wird ökonomisiert, die Demokratie wird entleert.
Das klingt nach politischer Generalkritik.
Ebenso bei Wissenschaftlern, die bei der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung publiziert haben. Ihre aktuelle Studie heißt "Die Mitte im Umbruch". Auch sie schlagen Alarm. Sie verweisen auf beschleunigte globale Entwicklungen und die damit für viele beständige Erfahrung von Ungewissheit.
Nachvollziehbar?
Im wahren Leben erlebbar. Es sollte endlich ernst genommen werden. Auch, was die von der SPD beauftragten Wissenschaftler fordern.
Nämlich?
Mehr Politik wagen! Das heißt für sie unter anderem einen flächendeckenden Mindestlohn, Konzepte für ein bedingungsloses Grundeinkommen sowie eine Neuverteilung und Neubewertung von Arbeit. Schließlich fordern sie: Mehr Europa, aber anders, nämlich sozial und demokratisch. Ich merke an: Das alles findet man im Programm der Linkspartei.
Wir sind jetzt quer durch die deutsche und globale Politik gehechelt. Mein Kopf schwirrt.
Das glaube ich gern. Ich wollte nur Zweierlei deutlich machen.
Wieder Erstens?
Die Demokratie leidet wirklich an Schwindsucht, aus verschiedenen Gründen. Simple Appelle, wie die von Bundespräsident Gauck, sinngemäß liebe Leute, seid doch bitte demokratie-eifriger, sind unverantwortlich oberflächlich.
Und Zweitens?
Mehr Demokratie ist mit einem besseren Wahlrecht oder mit mehr Volksabstimmungen allein nicht zu haben. Die gehören dazu. Aber die Problematik ist komplexer, und dabei habe ich über Chancen und Risiken des Internetzeitalters oder über das Für und Wider der überfälligen Energiewende noch gar nicht gesprochen.
Also klassische Frage: Was tun?
Besorgte Wissenschaftler plädieren seit längerem für eine Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags zur Revitalisierung der Demokratie.
Übersetzt: zur Wiederbelebung...
... ja, blödes Fachchinesisch. Zumal es nicht nur um eine Erweckung alter demokratischer Tugenden geht, die es vielleicht gefühlt, aber nie ernsthaft gab. Weitgehende Demokratie muss im 21. Jahrhundert völlig neu fundiert werden.
Dagegen hilft eine Bundestagskommission?
Nein, letztlich nur engagierte Bürgerinnen und Bürger, egal, ob sie friedens-, umwelt- oder sozialpolitisch unterwegs sind, souverän für die Gemeinschaft. Aber eine Enquete-Kommission des Bundestags mit kritischen Wissenschaftlern und Bürgerrechtlern könnte signalisieren: Gefahr erkannt. Auch wir kümmern uns. Endlich!
Interview: Rainer Brandt
linksfraktion.de, 27. Dezember 2012
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