Alles fängt immer klein an

Gedenken an „Gleis17“
Berlin-Grunewald, 9. November 2010
Rede von Petra Pau, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages

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Ich gestehe vorweg: Ich komme nicht gern zum „Gleis 17“. Ich fahre auch nicht gern nach Sachsenhausen oder Ravensbrück. Man wird dort mit der Hölle konfrontiert. Und je mehr man sich auf die Geschichte dieser Orte einlässt, umso mehr kann man den Glauben an das Gute im Menschen verlieren. Das widerspricht meiner Hoffnung.

1.
Aber die Hölle ist geschehen. Und was einmal geschah, obwohl es undenkbar schien, kann wieder geschehen. Das meinte Imre Kertész in einer Gedenkstunde im Deutschen Bundestag. Imre Kertész ist Jude, er ist Holocaust-Überlebender und Literatur-Nobel-Preisträger. Ich empfehle sein Buch: „Kaddisch für ein ungeborenes Kind“.

Ich empfehle es wirklich. Es ist keine leichte Kost, die man, wie eine Fernseh-Soap, vorbeiflimmern lässt. Aber je weiter man in dem Buch vordringt, umso mehr kommt man ins Grübeln. Wollen wir wirklich so leben, wie wir leben? Und waren die Konsequenzen aus der NS-Katastrophe wirklich tiefgründig? Imre Kertész meint Nein. Das finde ich auch.

2.
Es fängt immer scheinbar ganz klein an. So war es auch 1933, nach Hitlers Machtantritt. Eine verkürzte Chronik mag das Unfassbare fassbarer machen:

1933
01. April: Über Jüdische Geschäfte wird ein Boykott verhängt;
07. April: Juden werden aus dem Beamtentum ausgeschlossen;
22. April: Jüdische Ärzte dürfen nicht für Krankenkassen arbeiten;

1935
Mai: Juden wird der Besuch von Kinos, Cafés und Bädern untersagt;
15. September: Die „Nürnberger Rasse-Gesetze“ werden beschlossen;
14. November: Juden verlieren das Wahlrecht.

1937
15. April: Juden dürfen keinen Doktor-Grad erwerben;
02. Juli: Jüdische Schülerinnen und Schüler werden aus Schulen verbannt.

1938
20. Juni: Juden dürfen keine Behörden mehr betreten;
09. November: Juden-Pogrome im ganzen Reich, Synagogen brennen;
03. Dezember: Juden dürfen nicht mehr Auto fahren.

1939
01. Januar: männliche Juden müssen sich „Israel“, weibliche „Sara“ nennen;
30. April: Juden werden in so genannte Judenhäuser eingewiesen;
23. September: Juden müssen alle Rundfunkempfänger abgeben.

1942
20. Januar: Auf der so genannten Wannsee-Konferenz in Berlin wird die „Endlösung der Judenfrage“ beschlossen. Erklärtes Ziel war damit die Vernichtung von 11 Millionen Jüdinnen und Juden in ganz Europa.

1945
Dem „Holocaust“ oder der „Shoa“, diesem historisch einmaligen Verbrechen, fielen 4 ½ Millionen Jüdinnen und Juden zum Opfer. Nein, sie „fielen“ nicht „zum Opfer“. Sie wurden systematisch ermordet.

3.
Ich bleibe dabei: Hitler und die Nazis kamen nicht an die Macht, weil die NSDAP damals so stark war. Sie konnten die menschliche Zivilisation an den Abgrund führen, weil Demokratinnen und Demokraten zu schwach waren.

Und sie kamen an die Macht, weil sich Konzerne von Hitler neue Absatz- und Rohstoff-Märkte erhofften. Der 2. Weltkrieg war immer auch ein deutscher Krieg um höhere Profite - auf Kosten von Millionen Menschen.

4.
Im Mai war ich in Ungarn. Anlass war die regelrechte Hinrichtung eines Roma-Vaters und seines Sohnes durch ungarische Neo-Nazis. Ich lernte bei diesem Besuch, dass auch Imre Kertézs erneut bedroht wird, weil er Jude ist.

In Frankreich werden Roma abgeschoben, in der Schweiz werden Minarette verboten und an deutschen Tankstellen werden plötzlich Bestseller feilgeboten, in denen Sarrazin anderen Kulturen Minderwertigkeit attestiert.

5.
Welcher Mensch ist minderwertig? Der, der etwas anderes glaubt? Der, der etwas anderes liebt? Der, der etwas anderes will? Glauben, Lieben, Wollen, das alles hat etwas mit Kultur zu tun.

Sie kommt so unterschiedlich daher, wie das Leben vielfältig ist, multikulturell halt. Wer sagt, „Multikulti“ sei gescheitert, verengt das Leben. Wer einer deutschen „Leitkultur“ das Wort redet, will assimilieren, nicht integrieren.

Integrieren ist schwierig. Assimilieren kann töten. Zuwanderung Ja, aber nicht aus anderen Kulturen, hört man neuerdings wieder von namhaften Politikern. Und die NPD frohlockt, denn genau das tönt sie seit langem.

5.
Noch mal zurück zu meinem Besuch in Ungarn. Ich traf mich in Budapest mit einem Klub junger Leute. Ihr Motto heißt: bunte Vielfalt statt rechte Einfalt, Kultur statt Hass. Sehr engagiert bestätigten sie mir:

Die wirtschaftlichen Probleme nehmen zu, die soziale Probleme ebenso und mithin die gesellschaftliche Probleme. Wo sich so viel Unbill bündelt, wird nach einem Schuldigen gesucht, besser nach zwei Schuldigen.

Als Gefahr von oben gelten die allmächtigen Finanzhaie, also die Juden. Die Gefahr von unten sind die arbeitsfaulen Kriminellen, also die Roma. Das sind die kreuzgefährlichen Stereotype, die gern und weit verbreitet werden.

6.
Die Ablehnung von „Multikulti“ wird gern religiös begründet. Von Politikern, die falsch Zeugnis reden. Denn Christen, Juden und Muslime haben dieselbe göttliche Wurzel: Alle drei beziehen sich auf Abraham. Lest es nach.

Man kann die Multikulti-Frage aber auch anders stellen, nicht religiös, sondern sozial. Was hat die Kultur der zunehmenden Millionäre auf Sylt mit der Kultur der zunehmenden Hartz-IV-Empfänger in Neukölln oder Marzahn gemein?

Und was ist wichtiger? Wie die Leute beten oder wie sie leben - können. Falsche Fragen führen immer zu gefährlichen Antworten. In der Nazi-Zeit wurde den Deutschen eingehämmert: Schuld an ihrer Misere hätten die Juden.

7.
Und noch etwas zum Thema Religion. Die Indianer in Nord-Amerika haben ihre eigene. Als sie noch selbstbestimmt waren, fragten sie sich bei jeder zu fällenden Entscheidung: Was bedeutet sie für die siebte Generation nach uns?

Ich wünschte mir im Bundestag und überhaupt solche Debatten mit indianischer Weitsicht: Was bedeutet eigentlich ein Castor-Transport 2010 für die Bürgerinnen und Bürger im Jahr 2185?

Sie merken: Ich mag die aktuelle Debatte über „Multikulti“ kontra „deutsche Leitkultur“ nicht. Ich lehne sie ab. Sie ist flach, sie ist kulturlos, sie ist gefährlich. Sie führt nicht zusammen, sie trennt. Sie hilft nicht, sie lenkt ab.

8.
Eingangs hatte ich gesagt: Ich komme nicht gern zum „Gleis 17“. Man wird dort mit der Hölle konfrontiert. Und je mehr man sich auf die Geschichte einlässt, umso mehr kann man den Glauben an das Gute im Menschen verlieren.

Man kann aber auch Kraft schöpfen, Entschlossenheit. Wohl wissend, niemand von uns Nachgeborenen trifft Schuld an den Verbrechen der Nazi-Zeit. Aber wir alle tragen Verantwortung für die Zukunft. Und für die Gegenwart.

Keine Gedenkstätte macht Geschichte. Und niemandem ist geholfen, wenn historischen Daten pflichtvoll gehuldigt wird. Nein: Es geht darum, dass wir einen Moment innehalten und nachdenken, gemeinsam und jeder für sich.

9.
Vor drei Wochen war ich erneut in der Gedenkstätte „Ravensbrück“, dort, wo dereinst das Frauen-KZ war, wo pflichtbewusste Deutsche Zig-Tausend Frauen und Mädchen aus ganz Europa erniedrigt, ausgebeutet, vergast hatten.

Ich fuhr hin, weil zur selben Zeit Jugendliche aus Berlin-Brandenburg da waren. Sie alle engagieren sich in so genannten helfenden Verbänden, im THW, bei den Samaritern, in der Feuerwehr, bei den Maltesern, beim Roten Kreuz.

Sie konfrontieren sich dort - freiwillig - mit dieser deutschen Geschichte. Und sie legen praktisch Hand an, um die Gedenkstätte zu pflegen. Oder wie die Jugendlichen selbst sagten: „Es darf kein Gras über diese Geschichte wachsen.“
 

 

 

9.11.2010
www.petra-pau.de

 

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