20 Jahre deutsche Einheit: Fluch oder Segen?
Petra Pau
Ein Segen mit verfluchten Fehlern.
Die sonst so kritische LINKE hält die deutsche Einheit für einen Segen?
Ich ja. Denn wir sollten bei allen Problemen nicht vergessen: 1989/90 geschahen zwei unerwartete Wunder: Bürgerinnen und Bürger schüttelten ein politisches System ab, das sie nicht mehr wollten. Und der kalte Krieg zwischen Ost und West, der die Welt an den Rand einer atomaren Katastrophe gebracht hatte, fand sein Ende. Das alles ohne einen einzigen Schuss. So etwas hat es in der Geschichte noch nicht gegeben.
Sie waren 1990 Mitglied der PDS, und die war damals gegen die Einheit, oder?
Das ist extrem verkürzt. Die PDS war für eine DDR, die wirklich sozialistisch wird. Dasselbe Ziel hatten damals übrigens auch die Bürgerbewegungen der DDR. Später, als klar war, alles läuft auf die deutsche Einheit zu, wollte die PDS eine wirkliche Vereinigung und keinen plumpen Beitritt. Auch dabei gab es Parallelen zu den Zielen vieler Bürgerrechtler.
Bei Hofe und im ZDF klingt das anders.
Es gibt Dokumente, zum Beispiel den Verfassungsentwurf des viel gerühmten Runden Tisches. Er sollte eine Mitgift des DDR-Aufbruchs für das neue Deutschland sein.
Er wurde von der Ost-CDU und von der Ost-SPD flugs unterwürfig begraben, weil die West-CDU und die West-SPD keine Verfassungsdebatte wollten.
Richtig, aber ich zitiere mal zwei Passagen aus dem Verfassungsentwurf. Im Artikel 8 hieß es: Ohne freiwillige und ausdrückliche Zustimmung des Berechtigten dürfen persönliche Daten nicht erhoben, gespeichert, verwendet, verarbeitet oder weitergegeben werden. Das ist doch angesichts zunehmender Datenskandale höchst aktuell. Oder nehmen wir einen Satz aus Artikel 43: Das Wappen des Staates ist die Darstellung des Mottos ‚Schwerter zu Pflugscharen’. Ein Abrüstungssymbol als Staatswappen? Das hätte doch was.
Die deutsche Einheit hat den Ostdeutschen endlich Freiheit gebracht, heißt es.
Das gehört zu den gern wiederholten Geschichtsfälschungen. Der Aufbruch zu Bürgerrechten, Demokratie und Freiheit war das Wende-Werk der Bürgerinnen und Bürger in der DDR, nicht der Einheit. Die Einheit hat ihnen die D-Mark und den Kapitalismus gebracht. Ich füge hinzu: von den meisten gewollt.
Aktuelle Umfragen belegen: Es wächst noch immer nicht zusammen, was zusammen gehört.
In der Frage steckt ein viel bemühtes Zitat, das Willi Brandt aber so nie gesagt hat. Im Gegenteil.
Klären Sie uns auf!
Willi Brandt mahnte im Zuge der staatlichen Einheit: Nur „mit Takt und Respekt vor dem Selbstwertgefühl der bisher von uns getrennten Landsleute wird es möglich sein, dass ohne entstellende Narben zusammen wächst, was zusammengehört.“ Offenbar kannte er seine Pappenheimer.
Gut, das lassen wir zum Nachdenken stehen. Was läuft noch schief?
Für die Super-Illu schrieb ich jüngst eine fiktive, aber realistische Geschichte: Der 3. Oktober 1990 begann mit einem Aufschrei, genauer mit Lebenszeichen. Zwei neue Bundesbürger erblickten das Licht im neuen Deutschland. Einer in Frankfurt am Main, der andere in Frankfurt/Oder. Die Eltern nannten sie euphorisch nach dem Einheits-Kanzler, Helmuth Westphal hie, Helmuth Ostborn da. Deren Leben verlief parallel wie das eineiiger Zwillinge. Schule, Studium und ein emsiges Arbeitsleben als gefragte Elektro-Ingenieure. Sie hatten Glück. Später wurden beide Rentner. Urplötzlich erinnert ein amtlicher Bescheid Helmuth Ostborn daran, was er war und blieb: Ein Ossi! Er musste für weniger Geld länger arbeiten als Helmuth Westphal und er bekommt deshalb auch weniger Rente. Und das noch im Jahr 67 nach der ‚deutschen Einheit’!
Aktuelle Umfragen meinen: Mehr Westdeutsche als Ostdeutsche wollen die Mauer wieder haben.
Die sich die Teilung zurück wünschen, sind eine klare Minderheit.
Trotzdem: Warum mehr Westdeutsche?
Das kann ich sogar nachvollziehen. Seit der Einheit wird allen eingebläut: Der Osten war die Hölle, der Westen ist das Paradies. Das ist Propaganda pur - lebensfremd. Die meisten Ostler finden sich in diesen Bildern weder als Höllenhunde damals, noch als Paradiesvögel heute wieder. Und viele Westler fragen sich nüchtern: Was hat uns die Einheit gebracht, außer Milliarden Kosten?
Das klingt, als seien Wessis Verlierer der Einheit?
Sie sind es. So lange die DDR existierte, gab es einen deutsch-deutschen Wettlauf. Wer ist sozialer, wer ist demokratischer, wer ist besser? Dieser äußere Druck auf die BRD-alt entfiel mit der Einheit. Seither wird die Bundesrepublik unsozialer, undemokratischer, schlechter.
Das war nun aber ein treffliches Argument gegen die deutsche Einheit.
Nein, wohl aber gegen die Art und Weise der Vereinigung. Das Resultat ist doch: Die Bundesrepublik Deutschland wurde größer, aber nicht besser. Vor der deutschen Einheit wurde ein sozial-gebändigter Rheinischer Kapitalismus gepflegt. Heute erleben wir alle einen enthemmten Turbo-Kapitalismus. Vor der deutschen Einheit hatte es die BRD-alt nie gewagt, die Bundeswehr in alle Welt zu schicken. Seither tut sie es.
Was folgt für Sie daraus?
Die Frage nach einer gerechten, friedliebenden und freiheitlichen Gesellschaft - für alle - ist nicht obsolet, sondern aktueller denn je.
In den Rückblickdebatten könnte man manchmal glauben, es gab zwei, drei oder mehr DDRen, so unterschiedlich sind die Ansichten.
Also noch eine Geschichte: Renft war eine DDR-Combo, die zu den Mitbegründern des Ost-Rocks zählte. Ost-Rock bedeutete: Die Bands in der DDR spielten nicht mehr einfach nur nach, was in den USA oder England Spitze war. Sie schufen eigene Titel mit eigenen Texten. Anfangs DDR-freundlich, später zunehmend system-kritisch.
Sie wurden zensiert.
Renft erhielt Berufsverbot und wurde in den Westen abgeschoben. Dort wurden die Bandmitglieder nach eigenen Aussagen allerdings nie heimisch. Sie kamen flugs in die DDR zurück, als dies in der Wendezeit möglich wurde.
Sie spielten 1994 sogar auf einer Wahl-Party der PDS.
Noch spannender fand ich ein Interview. Klaus Renft wurde gefragt, welches Bild er von der DDR nun, mit einigem Abstand, habe.
Und?
Er sagte: Ich hatte immer drei DDR-Bilder. Das eine wurde mir durch die SED-Propaganda aufgedrückt. Diese DDR kannte ich nicht. Das zweite beschrieb meine Erfahrungen. Diese DDR wollte ich nicht. Das dritte entsprang meinen Träumen. Aber diese DDR gab es nicht.
Schöne Geschichte, können wir aber abhaken.
Überhaupt nicht. Er beschrieb damit genau ein Gefühl, das aktuell wieder viele empfinden, nicht nur im Osten: drei Bilder über die Bundesrepublik Deutschland 2010 - das propagierte, das reale und das gewünschte. Ich finde: Das böte Stoff für eine wirklich spannende Rede über 20 Jahre deutsche Einheit.
Interview: Rainer Brandt
linksfraktion.de, 2. Oktober 2010
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