Die Frage drängt: Wie wollen wir künftig leben?

Konferenz: „Kinderarmut - Soziale Frage in Pirmasens“,
Rede von Petra Pau, Vizepräsidentin des Bundestages
Pirmasens, 16. April 2009

1. 

1997, also vor 12 Jahren, stellten der Freistaat Bayern und der Freistaat Sachsen einen gemeinsamen Zukunfts-Bericht vor. Unterzeichnet war er von den damaligen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber und Kurt Biedenkopf. Die Quintessenz des Dokumentes lautete: Wenn Deutschland im weltweiten Wettbewerb zukunftsfähig bleiben will, so müsse ein Drittel der Bevölkerung systematisch verarmt werden.
 
Sie werden das Papier im Internet kaum noch finden. Es erwies sich offenbar als zu brisant. Aber das damit verbundene politische Programm ist mitnichten vom Tisch. Es lebt weiter unter anderen Namen, zum Beispiel als „Agenda 2010“. Und es zeigt Wirkung. Die Reichen werden immer reicher und die Armen werden immer zahlreicher. Der schlimmste Ausdruck dessen ist die grassierende Kinderarmut in einem reichen Land.

2. 

Begriffe ändern zuweilen ihre Bedeutung. Als ich noch Kind war, da wurden mit „Kinderarmut“ Frauen oder Familien beschrieben, weil sie nur ein oder kein Kind hatten. Heute bedeutet „Kinderarmut“, dass Kinder arm dran sind, weil ihre Mütter oder Eltern am Existenzminimum leben. Sie kennen das in Pirmasens. Ich kenne das auch aus Marzahn-Hellersdorf. Die zunehmende Armut ist greifbar, sichtbar, erlebbar
 
Kinderarmut ist weder ein Ost-, noch ein Westproblem, sondern ein gesellschaftliches Problem. Sie ist ein unübersehbares Zeichen dafür: Es ist etwas faul im Staate Deutschland. Sie werden heute darüber diskutieren, was man machen kann, wie man lindern kann, wie man helfen kann. Ich versuche den Bogen etwas weiter zu spannen - in gebotener Kürze. Deshalb kann ich nur Stichpunkte anreißen.

3. 

Vor drei Wochen fanden zwei bundesweite Demonstrationen unter dem Mott statt: „Wir zahlen nicht für eure Krise!“ Das Motto hält nur nicht, was es verspricht. Viele werden für die Krise sogar zweimal zur Kasse gebeten. Erst, indem sie in Niedriglöhne gezwungen wurden. Nun, indem sie mit ihren Mini-Steuern das bezahlen müssen, was als milliardenschwere Rettungspakete beschlossen wird.
 
Niedriglöhne mindern die Kaufkraft. Abnehmende Kaufkraft schwächt den Binnenmarkt. Ein schwacher Binnenmarkt presst den Klein- und Mittelstand. Das wiederum führt zu Insolvenzen und mehrt die Arbeitslosigkeit. Die lang gepredigte Antwort darauf lautete: Die Löhne sind zu hoch, die Lohnnebenkosten ebenso. Und so bekam der Teufelskreis eine neue Abwärtsspirale verordnet.

4. 

Dem Weltmarkt wiederum wurde mit Argumenten aus derselben „Schule“ gehuldigt. Die Abgaben und Steuern für Unternehmen müssten gesenkt werden. Der Sozialstaat wurde als Ballast verteufelt. Oben wiederum spielte der angehäufte Reichtum Hasard. Er konnte das und er durfte das. Sein Absturz war legal programmiert. Und was macht die herrschende Politik? Sie pokert mit Abwrackprämien.
 
Die eigentliche Lehre aus dem Debakel aber wurde bislang nicht gezogen: Die Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von unten nach oben muss endlich umgekehrt werden. Das ist sozial geboten und obendrein wirtschaftlich vernünftig. Deshalb ist mein Krisen-Fazit: Wir brauchen einen politischen Neuanfang. Bislang wird die Krise beschirmt. Wir brauchen aber einen Schutzschirm für die Menschen.

5. 

In alledem steckt eine weitere Frage. Es mangelt ja nicht an Skandalen - Abhörskandale, Datenskandale, Überwachungsskandale. Sie alle widersprechen verbrieften Bürger- und Freiheitsrechten. Sie alle führen immerhin noch zu öffentlicher Empörung. Sie landen häufig auch beim Bundesverfassungsgericht, das dann zuweilen ein vernehmbares Stopp-Zeichen setzt. Ich sage: Gott sei Dank.
 
Aber was ist mit der „Kinderarmut“? Ist sie kein Skandal? Ist sie kein Verstoß gegen das Grundgesetz? Ich finde Ja. Aber das entspricht nicht der öffentlichen Meinung und schon gar nicht der veröffentlichten Meinung. Dabei wurde die Bundesrepublik Deutschland per Grundgesetz als Sozialstaat definiert. Und auch diese soziale Bestimmung unterliegt dem Ewigkeits-Schutz.

6. 

Ein Grund für das Missverhältnis könnte sein, dass die Bürger- und Freiheitsrechte sehr konkret definiert wurden. Dadurch wird jeder Verstoß gegen sie sehr schnell als grundgesetzwidrig kenntlich. Die sozialen Grundrechte hingegen wurden sehr vage formuliert. Das macht sie angreifbar. Wir haben daher offenbar auch ein rechtliches Manko. Daran arbeitet derzeit eine Arbeitsgruppe der Fraktion DIE LINKE.
 
Sie will, dass soziale Rechte konkreter verbrieft werden und dass sie individuell einklagbar werden. Das wäre ein Novum, aber ein nötiges. „Freiheit ohne Gleichheit ist Ausbeutung - Gleichheit ohne Freiheit ist Unterdrückung!“ Allein dieses Thema wäre einen weiteren Diskussionsabend wert. Denn der Frage - wie wollen wir künftig leben - der sollte wir uns endlich grundsätzlicher stellen.

7. 

Der große Schub in Richtung zunehmender Kinderarmut kam mit „Hartz IV“. Wissenschaftliche Studien stützen diese These. Ich teile sie. Was also liegt näher, als „Hatz IV“ zu überwinden? Schrittweise oder radikal, darüber streitet sich auch DIE LINKE. Aber eines unterscheidet DIE LINKE von allen anderen Parteien: Ich wollte „Hartz IV“ nie und wir wollen auch kein „Hartz IV“ light.
 
Es gibt aber noch weitere politische Übel, die Armut verstärken und Zukunft verbauen. Dazu gehört das dreigliedrige Schulsystem. Aus sozialer Sicht gehört es zu den schlechtesten. Auch die Bildungs-Erfolge sind wenig berauschend. Im Land Berlin ist man auf gutem Wege, diesen Starrsinn aufzubrechen. Der Praxisversuch Gemeinschaftsschule läuft und er findet Zuspruch. Auch das ist ein Mosaikstein gegen Kinderarmut.

8. 

Mein letzter Gedanke gilt jenen, die sich Tag für Tag mühen. Die sich selbstlos engagieren, um den armen Kindern das Nötigste zu geben: warmes Essen und wärmenden Zuspruch. Auch das kenne ich aus meinem Wahlkreis und ich erlebe es überall, wenn ich in der Deutschland unterwegs bin. Ohne Sie, die selbstlosen Helferinnen und Helfer, wäre die Kinderarmut längst zu einer nationalen Katastrophe entartet.

Ihr Einsatz für die Kinder aber verdient nicht nur Dank und Anerkennung. Die Politik hat eine Bringe-Schuld. Der Spruch, die Kinder seien unsere Zukunft, ist wohlfeil. Er enttarnt sich aber gründlich, wenn Kinder keine Zukunft haben, jedenfalls keine als geachtete und gleichberechtigte Bürgerinnen und Bürger. Auch deshalb engagiere ich mich für Utopia. Versuchen wir es gemeinsam.
 

 

 

16.4.2009
www.petra-pau.de

 

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