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Die Frage, ob ich heute mit ihnen sprechen könnte, erreichte mich in Tokio. Ich war mit Bundeskanzlerin Merkel sowie einer Regierungs- und Parlamentsdelegation in der VR China und in Japan. Ich habe zugesagt, wohl wissend, dass mir wenig Zeit für die Vorbereitung auf unser Gespräch bleibt. Aber sie wollten meine Sicht kennen lernen und ich möchte ihre Sicht kennen lernen. Deshalb vielen Dank für die Einladung.
Nun gibt es schönere Themen als Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus in Deutschland. Aber sie gehören zum Alltag. Wir haben es dieser Tage gerade in der sächsischen Kleinstadt Mügeln erlebt. Vielleicht haben sie die aktuelle Geschichte verfolgt. Bei einem Volksfest gab es plötzlich eine Hatz auf acht Inder. Ich werde auf diesen ausländerfeindlichen Vorfall noch mal zurück kommen.
Sie werden von mir einen sehr kritischen Befund hören. Gerade deshalb sage ich eingangs genauso klar: Die Verhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland anno 2007 sind aus meiner Sicht nicht gleichzusetzen mit den Verhältnissen in der Weimarer Republik anno 1932/33 - nicht politisch, nicht wirtschaftlich, nicht gesellschaftlich. Mit Ausnahme einer Frage: Wie stabil und belastbar sind die Demokratie und die Verfassung?
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Ich möchte Ihnen vorab eine Episode schildern, eine Episode mit Nachschlag. Anfang dieses Jahres wurde in Berlin eine jüdische Schule nebst Kindergarten besudelt. Juden raus war danach an der Fassade des Gebäudes zu lesen. SS-Runen waren auf Kinderspielzeug geschmiert worden. Als wir uns danach in der Synagoge zum solidarischen Gebet sammelten, fragte ein Rabbiner: Wie soll ich das den Kindern erklären?
Ich habe den Umgang mit Kindern erlernt, studiert und als Lehrerin praktiziert. Aber auf diese einfache Frage hatte auch ich keine Antwort. Ich war ratlos. Diese Geschichte schilderte ich später genauso, als ich vom Moses-Mendelssohn-Zentrum eingeladen war. Danach las ich in der Jüdischen Allgemeinen ein Kommentar. Sinngemäß hieß es da: So weit sind wir gekommen. Selbst Politiker drücken sich vor Antworten.
Diese Episode mit Nachschlag habe ich vorangestellt, weil ich wirklich keine fertigen Antworten habe. Und weil ich finde: Auch Politiker haben zuweilen ein Recht, sprachlos zu sein. Aber in einem irrt die Autorin des Kommentars: Ich weiche dem Problem nicht aus. Und selbst, wenn ich keinen Königsweg als Lösung anbieten kann, so kann ich doch zumindest beschreiben, was keine Lösungen sind. Und das ist mehr als nichts.
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Seit Jahren frage ich Monat für Monat die Bundesregierung: Wie viele Straf- und Gewalttaten mit rechtsextremistischen Hintergrund wurden registriert. Der Befund ist schlimm. Im bundesweiten Schnitt werden stündlich 2 ½ Straftaten und Tag für Tag 2 ½ Gewalttaten registriert. Die Zahlen sind vorläufig. Und sie stapeln tief. Quervergleiche belegen, dass die realen Zahlen zwei bis drei Mal höher liegen.
Entsprechend größer ist die Zahl der Opfer, die von rechtsextremistischer Gewalt betroffen sind. Das heißt: Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus sind hierzulande längst wieder eine Gefahr für Leib und Leben. Nachgewiesen ist, dass allein in den zehn Jahren zwischen 1990 und 2000 mindestens 100 Menschen zu Tode kamen. Die aktuelle Liste dürfte umfangreicher sein. Nur: Es gibt sie nicht, jedenfalls nicht offiziell.
Damit komme ich zu meiner ersten These: Die Gefahren, die von Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus ausgehen, werden noch immer unterschätzt und heruntergespielt. So lange ich Mitglied des Bundestages bin, gab es dazu keine wirklich ernstzunehmende Debatte mit tatsächlichen Konsequenzen. Es gab Appelle, es gab Demonstrationen, es gab Programme. Aber es mangelt schon an einer gründlichen Analyse.
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Mit dieser Kritik meine ich die große Politik, auch etliche relevanten Medien, nicht aber zahlreiche Initiativen der Zivilgesellschaft, auch nicht engagierte Wissenschaftler. Es gibt viele Umfragen, soziologische Untersuchungen und fundierte Meinungen, die als Politik-Beratung eingestuft werden könnten und ernst zu nehmen sind. Aber sie fallen bislang zumeist auf unfruchtbaren Boden - ein gefährlicher Leichtsinn.
Damit bin ich bei meiner zweiten These: Rechtsextremismus wird vorwiegend als Thema der Innenpolitik oder der Justiz behandelt. Das ist kurzsichtig. Kurzsichtig, weil es auf Repression, statt auf Prävention setzt. Kurzsichtig, weil es alle Fragen ausblendet, die rechtsextreme Einstellungen und Taten begünstigen. Und kurzsichtig, weil es die Gesellschaft und die Individuen aus der Verantwortung entlässt.
Der oft gepriesene starke Staat ist keine Antwort auf den latenten Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus. Auch, weil der so genannte starke Staat immer weniger als demokratischer, sozialer und gerechter Staat wahrgenommen wird. Die Menschen spüren das. Demokratieverdruss grassiert. Genau das aber ist ein Einfallstor für rechtsextreme Kameraden mit ihren nationalistischen Parolen.
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Wir erleben diesen Einfall derzeit besonders in den neuen Bundesländern. Das liegt an den Hinterlassenschaften der DDR, lautet die bevorzugte Erklärung. Ja, das auch. Aber auch das ist eine oberflächliche Erklärung. Und die Antworten, die folgen, sind es ebenso. Etwa: Der Osten habe ein Toleranz-Defizit. Oder: Es mangele den neuen Bundesländern an einer couragierten Zivilgesellschaft. Mein Befund ist viel schlimmer.
Zunehmend schwindet in den neuen Bundesländern die Zivilgesellschaft überhaupt, insbesondere in ländlichen Regionen. Sie veröden, es gibt keine Arbeit und mithin für viele auch keine Zukunft. Wer kann, der flieht in den Westen. Zurück bleiben Alte und minder Qualifizierte. Meine Beschreibung ist holzschnittartig. Aber sie beschreibt ein reales Problem, das weder durch die Polizei, noch durch die Justiz gelöst werden kann.
Viele Menschen fühlen sich entwürdigt, zunehmend auch in westlichen Regionen. Sie fühlen sich machtlos gegenüber den Verhältnissen. Sie wollen sich erheben. Und sie erheben sich gegen andere, indem sie diese erniedrigen. Das ist keine Rechtfertigung. Aber das ist eine offene Andockstelle, die zum Beispiel von der NPD oder von rechtsextremistischen Kameradschaften offensiv genutzt wird.
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Nun komme ich noch mal auf den aktuellen Vorfall in Mügeln zurück. Er ist nämlich durchaus typisch und das auf zwei Ebenen. Ich beginne mit der lokalen Ebene. Der Bürgermeister wiegelte sofort ab. Rechtsextremismus gebe es in Mügeln nicht, schon gar keinen organisierten, auch keine Ausländerfeindlichkeit. Zur Erinnerung: 50 Teilnehmer eines Volksfestes hatten plötzlich acht Inder gejagt.
Ich kannte Mügeln bis dahin nicht. Also machte ich mich kundig. Nach einer halben Stunde wusste ich: Vor wenigen Jahren gab es in Mügeln einen Jugendclub, den Rechtsextreme für sich als national-befreite Zone reklamiert hatten. Die NPD wurde zuletzt von fast zehn Prozent aller Wähler gewählt. Und im Ort ist noch immer ein Versandhandel registriert, der unter anderem CD's mit fremdenfeindlicher Hass-Musik vertreibt.
Ein Bürgermeister, der das nicht wahrhaben will, ist wirklich auf dem rechten Auge blind. Aber das Problem liegt wiederum tiefer. Offensichtlich gibt es wirklich keine organisierte rechtsextreme Szene, die das Pogrom von Mügeln vorbereitet hat. Die nationale Volksseele hatte sich unorganisiert Luft gemacht. Das ist viel schlimmer. Und der örtliche Bürgermeister findet noch immer, er und sein Mügeln würden diffamiert.
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Nun zur zweiten Ebene, die Bundespolitik. Sie reagierte nicht besser, sondern nach erprobtem Muster. Erst schwappte die Empörung hoch. Dann folgten wechselseitig parteipolitische Schuldzuweisungen. Wie zu erwarten wurde debattiert, ob das Thema Rechtsextremismus besser beim Familienministerium oder beim Innenressort aufgehoben sei. Und dann folgte der Seitwärtsschritt: Nun müsse die NPD endlich verboten werden.
Die Bundesebene reagierte also kein Deut besser, als die Politik vor Ort. Auch die Medien agierten wie gewohnt. Sie wallten auf und nach einer Woche war alles wieder weg, raus aus den Schlagzeilen und raus aus dem Sinn. Damit bin ich bei meiner dritten These: Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus werden noch immer vorwiegend als Vorfall behandelt, nicht aber als permanente Herausforderung.
Wieder nehme ich alle Initiativen, Bündnisse und Organisationen aus dieser Kritik heraus, die sich alltäglich rechtsextremistischen Strategien und Praktiken widersetzen und für Toleranz und Demokratie werben. Nur: Sie stehen leider nicht hoch im Kurs. Mit dem jüngsten Bundes-Programm wurden sie ausgebootet. Der Kampf gegen Rechts wurde verstaatlicht und in die Hände von Bürgermeistern wie in Mügeln gelegt.
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Mügeln habe ich als aktuelles Beispiel angesprochen und damit zugleich indirekt ein Klischee bedient, das Ost-Klischee. Denn wenn hierzulande allgemein über Rechtsextremismus die Rede ist, dann wird es vorwiegend als Rand-, Jugend- oder Ostproblem behandelt. Das ist falsch. Wir haben es mit einem bundesweiten Problem zu tun, das inmitten der Gesellschaft zu Hause ist, in Ost wie West, stets abrufbar und das alltäglich.
Vor Jahren gab es den Versuch, in Deutschland endlich eine doppelte Staatsbürgerschaft einzuführen. Die Grünen wollten es, die SPD schien geneigt und meine Partei hielt das ohnehin für überfällig. Dann ging die Union auf die Straße, im Westen. Sie sammelte Unterschriften und sehr viele kamen und fragten. Kann man hier endlich gegen Ausländer unterschreiben? Solche Motive und Vorbehalte sind bundesweit verbrieft.
Ein ähnliches Beispiel: Bundeskanzler Schröder wollte Computer-Spezialisten aus Indien anwerben. Die CDU konterte mit dem rassistischen Slogan: Kinder statt Inder!. Nun wurden in Mügeln Inder gejagt. Es gibt keinen direkten Zusammenhang. Aber dieselben Politiker, die sich nach so genannten Vorfällen wundern, dass es brennt, legen häufig selbst die Lunte an einen latent aktivierbaren Rassismus.
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Meine erste These war: Die Gefahren, die von Rechtsextremismus und Rassismus ausgehen, werden noch immer unterschätzt. Das ist gefährlich. Meine zweite These hieß: Rechtsextremismus wird vorwiegend als Thema der Innenpolitik oder der Justiz behandelt. Das ist kurzsichtig. Meine dritte These lautet: Rechtsextremismus wird in aller Regel als Störfall behandelt. Das widerspricht aber den alltäglichen Tatsachen.
Es gibt übrigens noch einen weiteren Debatten-Pfad. Der meint: Rechtsextremismus und Rassismus gibt es in allen großen EU-Ländern, in Österreich ebenso wie in Frankreich, Italien oder Spanien. Eine stabile Demokratie müsse das bis zu einem bestimmten Grad verkraften. Ich halte diese Auffassung für zynisch. Denn bevor Rechtsextremisten eine Gefahr für die Demokratie werden, sind sie eine Gefahr für Menschen.
In dieser Argumentation steckt zugleich eine Unterschätzung des Rechtsextremismus. Wir wissen von der NPD, dass sie eine klare Strategie verfolgt und zwar durchaus mit Erfolg. Sie will an die Macht: erst im Kiez, dann im Land, schließlich, wie sie sagt, im IV. deutschen Reich. Das darf man nicht als mitteleuropäische Normalität hinnehmen und akzeptieren. Das muss als unnormal geächtet werden.
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Nun habe ich beschrieben, wie man das Problem aus meiner Sicht nicht in den Griff bekommt. Meine vierte These ist daher: Wir brauchen endlich eine ressortübergreifende Strategie, die sich auf Sachkompetenz stützt und auf die Stärkung der Zivilgesellschaft zielt. Ich weiß, das klingt wie eine übliche Politiker-Floskel. Deshalb will ich die dröge Formel mit einigen praktischen politischen Vorschlägen illustrieren.
Wir, und damit meine ich DIE LINKE, fordern seit langem für die Bundesrepublik Deutschland eine unabhängige Beobachtungsstelle für Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus nach EU-Vorbild. Sie könnte stimmige Analysen erarbeiten. Das wäre wichtig. Denn ohne stimmige Analysen kann es auch keine klugen Strategien gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus geben.
Ich sprach eingangs über Zahlen, die tiefstapeln. Zwei Gründe dafür will ich nennen. Vielfach wird bei den Ermittlungen vor Ort der rechtsextremistische Hintergrund einer Tat nicht erkannt. Oder er wird bewusst geleugnet, weil Politiker Sorge um das Image oder um den Wirtschafts-Standort ihrer Stadt oder des Landes haben. Eine unabhängige Beobachtungsstelle hätte diese Blockaden nicht.
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Noch ein zweiter Vorschlag leitet sich aus meiner vierten These ab, also der nach einem ressortübergreifenden Ansatz. Ich habe vorgeschlagen, eine Beauftragte des Bundestages für Demokratie und Toleranz einzusetzen, die im Bundeskanzleramt alle Aktivitäten gegen Rechtsextremismus und Rassismus und koordiniert. Auch, um damit von der verengten Zuständigkeit der Innenpolitik und der Justiz wegkommen.
Denn ich finde: Alle politischen Ressorts haben eine Verantwortung dafür, dass Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus zurückgedrängt werden: die Bildungspolitik, die Kommunalpolitik, die EU-Politik, die Kulturpolitik, die Sozialpolitik, die Sportpolitik, die Finanzpolitik und so weiter und so fort. Deshalb brauchen wir auch einen neuen strukturellen Ansatz, der sich diesem umfassenden Anspruch öffnet.
Beide Vorschläge korrespondieren übrigens durchaus mit einem aktuellen Anliegen des Moses-Mendelssohn-Zentrums und zahlreicher Nichtregierungs-Organisationen. Sie regen einen Jahresbericht der Bundesregierung über antisemitische Aktivitäten an. Beide, die unabhängige Beobachtungsstelle und eine Bundesbeauftragte für Demokratie und Toleranz, könnten dafür hilfreich sein.
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Nun will ich auf zwei weitere Vorschläge eingehen, die im Gespräch sind. Der erste zielt auf ein erneutes Verbotsverfahren gegen die NPD. Ich bin da - aus Erfahrung - sehr skeptisch. Das erste Verfahren war gescheitert, weil das Verfassungsgericht nicht mehr unterscheiden konnte, welches Verbotsargument originär von der NPD stammte und welches von V-Leuten der Polizei und Geheimdienste. Dieses Problem besteht fort.
Der zweite Vorschlag zielt auf einen Demokratie-Gipfel, an dem von der Politik über die Kirchen bis zu den Gewerkschaften alle gesellschaftlich relevanten Gruppen teilnehmen. Einen solchen Gipfel kann man einberufen. Aber er wird nichts lösen. Er kann bestenfalls eine Initialzündung sein und signalisieren, dass man gemeinsam die Herausforderung Rechtsextremismus ernst- und annehmen will.
Mehr nicht, womit ich bei meiner fünften These wäre: Im Kampf gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus hilft uns kein Aufstand der Anständigen mehr, dem alsbald die Zuständigen abhanden kommen - wie im Jahr 2000 nach den Anschlägen auf Jüdinnen und Juden in Düsseldorf. Wir brauchen vielmehr einen Marathon aller Demokratinnen und Demokraten und das mit langem Atem.
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Im letzten Teil meines Beitrages möchte ich explizit noch etwas zum Antisemitismus sagen. Wir hatten dieser Tage ja zwei herausragende Ereignisse in Berlin: erst in Berlin-Prenzlauer Berg die Wiedereröffnung der größten Synagoge in Deutschland und dann die feierliche Einweihung des Chabad-Lubawitsch-Zentrums in Berlin-Wilmersdorf. Beide wurden zu Recht als Zeichen deutscher Zukunft im neuen Berlin gewürdigt.
Aber es gibt auch andere Zeichen. Man braucht sich nur den Alltag ansehen: Synagogen werden mit Pollern bewährt. Jüdische Kindergärten müssen von Polizisten bewacht werden. Bei Jüdischen Fest- oder Gedenkveranstaltungen gilt die höchste Sicherheitsstufe. Und Gideon Joffe hat allen Berlinerinnen und Berlinern als Härtetest empfohlen, sie sollten nur mal einen Tag mit einer Kippa durch die Stadt gehen.
Es gibt keine Normalität für Jüdinnen und Juden in Deutschland. Und die Normalität, die es gibt, ist alles andere, als beruhigend. Berlin definiert sich selbst als eine weltoffene, tolerante Metropole. Verschiedene Kulturen und Religionen gelten als Bereicherung und Chance. Das ist offizielle Senats-Politik. Das wird von Millionen Berlinern so gelebt. Aber der Alltag ist kein Karneval der Kulturen. Er ist widersprüchlicher.
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Es gibt zahlreiche Umfragen, Untersuchungen und Forschungsarbeiten zum Thema Antisemitismus. Auch das American-Jewisch-Komittee hat ja eigene in Auftrag gegeben. Ich brauche hier also keine Zahlen zitieren. Sie weichen zuweilen auch voneinander ab. Und manche Methoden oder Definitionen, nach denen Antisemitismus messbar gemacht werden soll, sind umstritten. Das alles will ich hier nicht beurteilen.
Aber eines belegen alle Erhebungen: Es gibt einen latenten Antisemitismus, der sich aus verschiedenen Quellen speist und der jederzeit aktivierbar ist, bis hin zu Gewalttaten. Wieder gilt das für Ost und West gleichermaßen. Und wieder gilt: So, wie es Ausländer-Feindlichkeit ohne Ausländer gibt, so gibt es auch Antisemitismus ohne Jüdinnen und Juden. Sie führen offenbar ein Eigenleben im Deutschsein.
Nun weiß ich auch, dass es sich nicht um ein deutsches Phänomen handelt, sondern um ein weltweit anzutreffendes. Aber Antisemitismus in Deutschland hat noch immer einen einmalig-bitteren Beigeschmack. Deshalb habe ich mich übrigens seit Anfang der 90er Jahre für das Mahnmal für die ermordeten Jüdinnen und Juden eingesetzt. Und ich freue mich, welchen Zuspruch es seit seiner Eröffnung findet.
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Gleichwohl haben wir es beim Antisemitismus mit einer besonderen Form des Fremden-Hasses zu tun. Antisemitismus ist keine Einstellung, die sich vorwiegend im rechten Spektrum findet. Man findet sie massiv in islamistisch geprägten Milieus. Man findet sie am linken Rand. Und man findet sie selbst in Parteien, die sich ausgesprochen liberal sehen und sich selbst für die eigentliche Partei der Mitte halten. Ich meine die FDP.
Ich habe noch gut in Erinnerung, wie der FDP-Politiker Jürgen W. Möllemann mit seinem Projekt 18 auf Stimmenfang ging und dabei auch antisemitische Vorurteile bediente. Am Projekt 18 hat mich übrigens schon die Bezeichnung erregt. Denn 18 ist bekanntlich ein Code alter und neuer Nazis. Es steht für den ersten und den achten Buchstaben im deutschen Alphabet, für A und H, für Adolf Hitler.
Was bei Möllemann möglicherweise Absicht war, ist bei anderen vielleicht pure Unwissenheit. Ich werde jedenfalls immer hellhörig, wenn selbst in öffentlich-rechtlichen Nachrichten von Mauscheleien die Rede ist, nachdem in der Wirtschaft oder in der Politik ein Korruptionsfall publik wurde. Ich bin keine Verfechterin von Pflicht-Literatur. Aber Victor Klemperers LTI sollte schon wieder etwas bekannter werden.
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Fakt ist, dass sich zuweilen eigenartige Allianzen finden. Linke marschieren auf Pro-Hisbolla-Demonstrationen mit. Extrem-Rechte verbünden sich mit Muslimen, die Gewalt verherrlichen. Durchaus berechtigte Kritik an der Politik Israels - ich habe sie auch - vermischt sich so mit blankem Juden-Hass. Ich habe es in Berlin selbst gesehen. Scheinbare politische Lager werden fließend, unberechenbar, gefährlich.
Vor kurzen war ich in Berlin-Neukölln bei Sozialarbeitern. Sie haben sich zu einem Verein zusammen geschlossen. Sie engagieren sich gegen Gewalt und Fremdenfeindlichkeit. Sie sind im Kiez aktiv. Dort, wo verschiedene Nationalitäten leben, wo ihre Kinder zur Schule gehen und wo die Eltern - wenn sie nicht arbeitslos sind - als Gemüsehändler, als Apotheker, als Lehrer, als Putzfrau oder als Gastwirt arbeiten.
Sie schilderten mir plausibel und aus eigenem Erleben, wie sich die großen Welt-Konflikte bei der Jugend im Kiez spiegeln. Dass sich dort Gangs bilden, die sich entweder Pro-Israel oder Pro-Palästina definieren. Dass sie sich zunehmend bewaffnen. Dass sie sich des Nachts belauern und übereinander herfallen. Es geht um 12- bis 16-Jährige, um die kommende Generation. Es geht um Berlin, das weltoffene und tolerante.
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Schluss-Satz:
Auch darauf habe ich noch keine brauchbare Antwort. Aber auch dieses Beispiel belegt: Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus sind keine Störfall aus der Vergangenheit, sondern eine politische und vor allem gesellschaftliche Herausforderung für die Gegenwart und die Zukunft.
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