0. Eine Vorbemerkung
Es geht auf diesem Kolloquium um die Zukunft Berlins. Umso bemerkenswerter finde ich, dass ausgerechnet mir der Part zugeschrieben wurde, etwas über die Vergangenheit zu sagen.
Aber eine oder einer muss es ja tun. Deshalb will ich gern episodenhaft in die Geschichte eintauchen. Allerdings nicht nur, wie im Programm suggeriert, bis 1989/90, sondern weiter zurück, bis ins Jahr 1948.
1. 1948 - 1989
1948 wurde die Bundesrepublik-alt konzipiert und damit die Teilung Deutschlands forciert. Das Grundgesetz wurde als provisorische Verfassung erarbeitet und in einem mehrstufigen Verfahren beschlossen.
Mit der Absicht, eine eigenständige Bundesregierung zu bilden, stellte sich für die BRD-alt auch die Hautstadtfrage. Politisch galt weiterhin Berlin als Hauptstadt, aber praktisch wurde eine andere Lösung gesucht.
Es gab vier Bewerber: Bonn, Frankfurt/M., Kassel und Stuttgart. Am 29. 11. 1949 entschied sich der Bundestag mit 200 gegen 176 Stimmen für Bonn als Hauptstadt, also mit knapper Mehrheit.
Aber auch im offiziellen Sprachgebrauch galt Bonn als provisorische Hauptstadt. Von der Bundeshauptstadt Bonn war erstmals 1973 in einer Regierungserklärung Willy Brandt die Rede.
Wie die Linken in Ost und West damals zur jeweiligen Hauptstadtfrage standen, kann ich hier nicht vertiefen. Es ist zu komplex. Aber die Hauptstadtfrage war damals immer ein Politikum mit hoher Symbolkraft.
2. 1990 bis 2001
Mit der so genannten Wende 1989/90 stellte sich die Hauptstadtfrage neu. So könnte man meinen. Praktisch aber warf niemand die Hauptstadtfrage ernsthaft auf. Jedenfalls ist mir keine entsprechende Debatte bekannt.
Im Einigungsvertrag, der im September 1990 beschlossen wurde, stand schlicht der Satz: Hauptstadt Deutschlands ist Berlin.... Das war eine Antwort ohne Frage. Sie galt als beschlossen, wenn auch nicht abschließend.
Die PDS hatte in der Volkskammer den Einigungsvertrag bekanntlich abgelehnt. Sie wollte keinen Beitritt nach Artikel 23 GG, sondern eine Vereinigung beider deutscher Staaten nach Artikel 146 GG.
Das PDS-Votum für Artikel 146 GG hatte verschiedene Fassetten. Eine war: Artikel 146 GG schrieb nach der Vereinigung eine neue Verfassung vor, die per Volksabstimmung in Kraft zu setzen wäre.
Das war nicht gewollt, vor allem von der CDU und der SPD nicht. Und so entfiel auch eine viel weitergehende Sinnfrage als die nach der Hauptstadt, nämlich die nach der grundsätzlichen Verfasstheit des neuen Deutschland.
Die ungeklärte Hauptstadtfrage kam mit der Debatte über den künftigen Parlaments- und Regierungssitz wieder auf. Die Alternative hieß Bonn oder Berlin. Sie ging wieder knapp aus, diesmal zugunsten Berlins.
In dieser Bundestags-Debatte am 20. Juni 1991 sprachen 103 Abgeordnete. Es gab viele Emotionen und keinen Fraktionszwang. Schließlich stimmten 338 Abgeordnete für Berlin und 320 für Bonn. Es war also wieder sehr knapp.
Gregor Gysi erinnert noch immer gerne daran, dass die entscheidenden Pro-Berlin-Stimmen damals von der PDS kamen. Das ist natürlich ein rhetorischer Trick. Aber zugegeben: ein legitimer.
Die Debatte ist nachlesbar. Ich empfehle es, gerade jetzt, mit historischem Abstand. Franz Müntefering plädierte übrigens für Bonn, weil dort eine produktive Routine herrsche, die man nicht verspielen dürfe.
Friedbert Pflüger, inzwischen Berliner CDU-Chef, argumentierte sinngemäß: Ein Regierungsumzug koste Geld und vor allem Zeit. So viel habe man nicht, um die Probleme der neuen Bundesländer lösen.
Angela Merkel warb für Berlin und fragte polemisch: Neben den Sachargumenten geht es auch darum: Wer in der Bundesrepublik ist an welcher Stelle zu wie vielen Änderungen bereit?
Und Gregor Gysi führte unter anderem ins Feld, dass es bundesweit nur eine Ost-West-Stadt gäbe, nämlich Berlin, und dass allein die nur dort spürbaren Probleme für einen Umzug vom Rhein an die Spree sprächen.
Ein Abgeordneter fragte, warum die Hauptstadt zugleich Sitz des Parlamentes und der Regierung sein müsse? Im Rückblick finde ich: Er war am nächsten an dem Problem dran, das uns nun noch immer bewegt.
Denn wer die ganze bewegte Debatte nachliest, die zum Parlaments- und Regierungsumzug führte, wird feststellen: Die große Frage, was eine Hauptstadt ausmacht, wurde damals zumeist auf eine kleine Standortfrage reduziert.
3. Berliner Crash
Die Berliner Politik, damals die Diepgen-CDU und die Staffelt-SPD, feierte die Bundestagsentscheidung im Schöneberger Rathaus mit Sekt und Häppchen. Sie fühlte sich vom Umzugsbeschluss beflügelt und sie hoben ab.
In dieser Zeit wurden Weichen gestellt, die Berlin zu einer europäischen Metropole ersten Ranges hieven sollten. Der Höhenflug endete in einer Bruchlandung, an der Berlin noch heute zu leiden hat.
In Stichworten: Berlin sollte Parlaments- und Regierungssitz werden. Berlin sollte auf 6 Millionen Einwohner wachsen. Man plante ein Luftdrehkreuz für 60 Millionen Passagiere jährlich. Und Wolkenkratzern sollten den Alex säumen.
Berlin bewarb sich um die Olympischen Spiele 2000. Die große Koalition gründete eine Bankgesellschaft, die es mit den großen Finanzmetropolen der Welt aufnehmen sollte. Es war die Zeit des bodenlosen Größenwahns.
Dies alles endete im politischen Desaster. Die Linke, damals die PDS, widersetzte sich übrigens nahezu in allen Punkten diesem Crash-Kurs der großen Koalition. Aber wir waren damals nur Opposition.
4. Strategische Lücken
Zugleich begannen wir ernsthafte politische Alternativen für ein zukunftsfähiges Berlin zu entwickeln. Die soziale Stadt, Berlin für alle oder Stadt des Wissens sind nur einige Slogans aus dieser Zeit.
Natürlich fühlten wir uns damit besser beraten, als die große Koalition mit ihren Crash-Plänen, die schließlich 2001 in einen bundesweit einmaligen Bankenskandal und in eine große politische Krise in Berlin mündeten.
Aber trotzdem hatte auch die Berliner PDS damals eine Fehlstelle, eine konzeptionelle Lücke, ähnlich wie sie die große Koalition hatte. Wir hatten beide keinen expliziten Bezug zur Bundesrepublik Deutschland.
Die Koalition hatte die Weltmacht im Sinn, die Linke die Stadt. Die große Koalition mehr den Westen. Die Linke mehr den Osten. Die Koalition die Schönen und Reichen. Die Linke die Armen, Schwachen und Bunten.
Und so entzog sich einem intensiven Dialog innerhalb der neuen Bundesrepublik und der Frage, was eine Hauptstadt wirklich auszeichnen sollte. Zugleich drückte sich die Bundesrepublik ihrerseits vor der Hauptstadtfrage.
Diese Lücke wirkt fort. Ich vermute: Das Bundesverfassungsgericht hätte nicht so geurteilt, wie es geurteilt hat. Es hat Berlin Entschuldungs-Hilfen verweigert, Schulden, die Berlin auch aus der Geschichte und ihrer Hauptstadtfunktion hat.
Es hat Berlin im Stich gelassen, frei nach dem Motto: Jeder ist seines Glückes Schmied oder was geht uns fremdes Elend an? Das war übrigens kein Berlin-Urteil. Es war ein Bundes-Urteil, denn es kann alle Bundesländer treffen.
Einer anerkannten Hauptstadt gegenüber hätte Karlsruhe vielleicht anders geurteilt. Aber es gibt praktisch noch keine anerkannte Hauptstadt. Es gibt nur eine Feststellung, wonach Berlin Hauptstadt der Bundesrepublik sei.
5. Neue Linke
Dieses Manko hatte die PDS, voran Gregor Gysi, zu einem zentralen Thema im außerordentlichen Berliner Wahlkampf 2001 gemacht. Seither ist die Hauptstadt ein linkes Thema. Es wird inzwischen sogar von der CDU kopiert.
Aber der Fortschritt ist eine Schnecke. Jeder Beitrag des Bundes zugunsten Berlins gilt noch immer als gönnerhaft und wird von anderen Bundesländern neidisch begleitet. Das ist auf Dauer anormal.
Der jüngste Schritt war die Föderalismus-Reform I. Berlin wurde als Hauptstadt im Grundgesetz verankert. Die Berliner LINKE hat dem zugestimmt und damit scheinbar der gesamten Reform, die sie, wie wir wissen, ablehnt.
Es war eine taktische und pragmatische Entscheidung. So was wird unter Linken zuweilen verdammt. Weil die Berliner Zustimmung mit der reinen Lehre kollidiert oder mit regionalen Auffassungen, denen man sich verbunden fühlt.
Ich kenne das aus der Fraktion DIE LINKE. Aber auch die neue LINKE muss sich den Fragen nähern: Wollen wir über den bloßen Namen hinaus eine Hauptstadt? Und wenn Ja, welche und was ist sie uns wert?
6. Hauptstadt-Ansätze
Zur jüngeren Geschichte gehört allerdings auch: Es gab in den 90er-Jahren etliche Konferenzen, Publikationen, selbst Forschungsprojekte, die sich mit der Frage befassten, was eine Hauptstadt auszeichnen müsste.
Es wurde allgemein debattiert, aber auch konkret mit Blick auf Berlin. Ich war mehrfach dabei. Eine Antwort bezog sich auf die historisch-geografischen Lage Berlins. Berlin wurde so als Scharnier zwischen Ost- und West-Europa gedacht.
Eine andere These meinte: Eine Hauptstadt müsse einen Überschuss an Kultur und Geist hervorbringen, von dem alle anderen Bundesländer Nutzen ziehen können und wollen. Auch hierfür hätte Berlin eine gute Basis.
Diese These zeigt übrigens auch, dass man eine Hauptstadt nicht auf seine Parlaments- und Regierungsfunktion reduzieren darf. Zumal beide sehr selten ein Hort überschüssigen Geistes und inspirierender Kultur sind.
Ich will auch das gerne illustrieren, und zwar anhand einer Auseinandersetzung, die sehr Symbol beladen war und zugleich Antworten über die Zukunft Berlins barg. Ich meine den Streit um die Spree-Insel und den Schloss-Platz.
Es war die Linke, die den Diskurs aus der Ostalgie-Ecke herausholte, auch aus einem verengten Streit Palast kontra Schloss. Wir haben versucht die Funktion dieses hauptstädtischen Areals neu zu beschreiben.
Wir wollten eine im besten Sinne Agora der Bürgerinnen und Bürger, eine Kultur- und Demokratie-Stätte mit europäischer Dimension, an der Geschichte aufgehoben und Zukunft sichtbar wird.
Wir wollten ein offenes, ein sich selbst und weiter entwickelndes Forum. Und zwar in gewollter Spannung zum Parlaments-Viertel als Symbol politischer Macht und zum Potsdamer Platz als Symbol der Wirtschaft.
Diese Chance wurde verschenkt. Sie wurde im Bundestag nicht einmal ernsthaft erwogen. Die Schloss-Entscheidung fiel nicht weitsichtig, kultur- und geistvoll, sondern leider borniert, ideologisch und kurzsichtig.
Ich habe dieses abschließende Beispiel nicht aus persönlicher Enttäuschung erwähnt. Sondern weil damit auch ein Zipfel Hauptstadt verschenkt wurde. Umso mehr stellt sich die Hauptstadt-Frage weiter.
Damit bin ich in der Gegenwart angekommen, bei der neuen Hauptstadtfrage. Mein Resümee: Eine moderne Hauptstadt muss ein linkes Projekt bleiben: nicht Berlin-egoistisch, auch nicht nationalistisch, sondern weltoffen und friedliebend.
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