1. |
Vor zehn Jahren, 1997 und 98, war ich häufig in Lübeck, manchmal im Wochentakt. Im Landgericht wurde der Fall Diesner verhandelt. Kai Diesner war Berliner. Er wähnte sich im Weißen Arischen Widerstand. Seine rechtsextremistische Karriere umfasste bereits einige Jahre. Er wurde zum Mörder. Das Gericht verurteilte ihn als Einzelkämpfer.
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2. |
In Berlin-Marzahn drang er in eine Geschäftstelle der PDS ein. Er schoss ohne Vorwarnung und verstümmelte Klaus Baltruschat, einen Buchhändler. Diesner floh. Tage später wurde eine Polizei-Streife auf ihn aufmerksam. Sie wollten seine Papiere überprüfen. Wieder schoss Diesner. Ein Polizist kam ums Leben, der zweite erlitt einen Schock.
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3. |
Der Fall Diesner lief damals bundesweit durch die Medien. Aber er war schon damals kein Einzelfall. Allein zwischen 1990 und 1999 wurden bundesweit Einhundert Menschen durch Rechtsextremisten ermordet. Statistisch waren das im Schnitt jährlich zehn - anders Aussehende, anders Denkende, anders Lebende, anders Liebende. Alles Menschen.
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4. |
Als ich allein mit Gesine Lötzsch im Bundestag saß, habe ich eine Langzeitstatistik der PDS fortgeführt. Monat für Monat fragen wir die Bundesregierung, wie viele rechtsextremistische Straf- und Gewalttaten sie registriert habe. Allein die offiziellen Zahlen sprechen Bände und sie steigen rapide, in Ost und West, in Nord und Süd.
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5. |
Wieder im statistischen Schnitt werden demnach stündlich mehr als zwei rechtsextremistische Straftaten und Tag für Tag fast vier Gewalttaten registriert. Eine Übersicht finden Sie auf meiner Web-Seite. Auch diese Zahlen belegen: Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus sind hierzulande längst wieder eine Gefahr für Leib und Leben.
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6. |
Soweit mein Eingangs-Befund. Zu ihm gehört auch: Es gibt darauf bisher keine angemessene Antwort, nicht in der Gesellschaft, nicht in den Medien, nicht in der Politik. Und ich will es gleich vorweg nehmen, weil ich hier ja als langjährige Expertin angekündigt wurde: Ich habe auch keine schlüssige Antwort, die man einpacken und mitnehmen könnte.
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7. |
Es gibt auch keine einfachen Antworten. Ich kenne den linken Slogan: Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen! Ich teile ihn nicht, denn er verkürzt das Problem und schiebt die Verantwortung dem Staat zu, letztlich an die Polizei und an die Justiz. Ich finde nicht, dass das eine kluge Position ist. Und eine linke Position ist es schon gar nicht.
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8. |
Deshalb sage ich auch vornweg: Ein NPD-Verbot löst wenig. Wir können in der Debatte gern auf dieses Thema zurückkommen. Aber ich möchte vermeiden, dass wir den Focus auf die NPD richten, so ekelhaft diese Partei auch ist und so unerträglich es ist, dass die NPD das Parteien-Privileg genießt und dafür auch noch Steuergelder kassiert.
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9. |
Aber das eigentliche Problem ist nicht die NPD. Überhaupt leidet der Kampf gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus daran, dass er abwechselnd als Rand-Problem, als Ost-Problem oder als Jugend-Phänomen behandelt wird. Das ist kurzsichtig und lenkt ab. Denn das wirkliche Problem lauert inmitten der Gesellschaft.
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Ich schlage einen Bogen zu einer historischen Erfahrung: Die Weimarer Republik ist nicht gescheitert, weil es zu viele Faschisten gab. Sie ging zu Bruch, weil es zu wenig Demokraten gab. Natürlich gab es auch noch andere Faktoren, zum Beispiel die Weltmacht-Gelüste der Konzerne. Aber entscheidend war: Es gab keine couragierte Zivilgesellschaft.
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11. |
Wahrscheinlich gab es damals noch nicht einmal diesen Begriff. Für mich ist er heute ein Schlüsselwort. Denn ich meine: Man muss alles befördern, was die Zivilgesellschaft stärkt, und alles unterbinden, was sie schwächt. Der Aufstand von Delmenhorst gegen ein geplantes Nazi-Schulungszentrum ist ein gutes Beispiel.
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12. |
Ähnliches habe ich kürzlich in einer 300-Seelen-Gemeinde in Nord-Brandenburg erlebt und im Dezember im Brandenburgischen Halbe. Dort wollten alte und neue Kameraden auf einem Friedhof die Wehrmacht feiern. Zehntausend Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus nah und fern haben dies mit einem Tag der Demokraten erfolgreich verhindert.
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13. |
Das sind unverzichtbare Symbole. Sie signalisieren: Das ist unsere Kneipe, das ist unsere Stadt, das ist unser Land. Wir sind weltoffen und tolerant und das lassen wir uns nicht durch alte und neue Kameraden kaputt machen. Aber mit Symbolik allein ist das Problem nicht zu lösen. Wir müssen zugleich die gesellschaftliche Entwicklung analysieren.
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Die politischen General-Linien heißen: Der Sozialstaat wird abgebaut und Bürgerrechte werden klein geschrieben. Das ist erfahrbar und hat tiefere Wirkungen, als jede NPD-Demo. Immer mehr Bürgerinnen und Bürger fühlen sich verunsichert und alleingelassen. Zukunftsängste nisten mitten in der Gesellschaft. Und genau das schwächt die Zivilgesellschaft.
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Drei Beispiele: Als es um die EU-Verfassung ging, konnten die Bürgerinnen und Bürger rundherum über den Entwurf abstimmen. Nur hierzulande nicht. Die Unions-Parteien waren immer gegen mehr direkte Demokratie und Rot-Grün erwies sich als Garant dafür, dass Deutschland in Fragen direkter Demokratie noch immer ein EU-Entwicklungsland ist.
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Ein gesetzlicher Mindestlohn und eine soziale Grundsicherung könnten dafür sorgen, dass sich niemand mehr im freien Fall wähnen muss. Andere Länder machen es vor, mit guten Ergebnissen. Denn soziale Verunsicherung ist Gift für die Gesellschaft. Sie demotiviert und unterspült wichtige Werte, wie Gemeinsinn und Solidarität.
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Voriges Jahr gab es eine absurde Debatte über Unterschichten und Prekariat. Schuld ist Rot-Grün, tönte die Union. Nein, Kanzler Schröder, meinte die SPD-Linke. Alles Quatsch, sagte Franz Müntefering, es gäbe gar keine Unterschicht. Damit war die Debatte beendet. Das Problem blieb. Genau das schafft Demokratie-Verdruss.
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Demokratie-Verdruss ist aber keine Grippe, sondern wirkt wie Aids. Demokratieverdruss schwächt das gesellschaftliche Immunsystem. Und genau das ist ein Einfallstor für Rechtsextremisten und ihre fatalen Parolen. Gegen Demokratie-Verdruss, auch das ist meine Überzeugung, hilft nur mehr Demokratie, mehr direkte Demokratie.
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Ich habe versucht, einige Fassetten zu beleuchten, die ich im Kampf gegen Rechtsextremismus für unterbelichtet halte. Zum Antisemitismus habe ich noch nicht mal was gesagt habe. Leider ist er auch unter Linken ein irrendes Problem. Denn ich lese immer wieder Artikel in vermeintlich linken Zeitungen, die antisemitistisch und damit rechts sind.
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Grundsätzlich meine ich: Uns hilft kein Aufstand der Anständigen mehr, wie anno 2000, dem alsbald die Zuständigen abhanden kommen. Wir brauchen einen Marathon der Demokraten. Wir brauchen ein partei- und ressort-übergreifendes Konzept mit Sach-Kompetenz. Und beides muss darauf zielen, das Engagement der Zivilgesellschaft zu stärken.
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21. |
Davon sind wir weit entfernt. Stattdessen werden unentwegt unsägliche Signale gesendet. Eines trägt die Überschrift "Deutsche Leitkultur". Mir konnte noch niemand erklären, was das wirklich sein soll. Na klar sollen Migrantinnen und Migranten Deutsch sprechen. Und selbstverständlich gilt auch für sie das Grundgesetz. Aber das ist ein Allgemeinplatz.
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22. |
Absurd wird es, wenn besondere Fragebögen erfunden werden, wie in Baden-Württemberg. Demnach soll es eine Muslima prima finden, wenn ihr Sohn schwul ist. Und ein Muselmane soll jubeln, wenn er endliche eine Frau zur Chefin hat. So etwas denken sich staatliche Behörden aus und verkaufen das auch noch als Integrations-Konzept.
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23. |
Seither frage ich mich, was die Schwaben gegen unseren Papst aus Bayern haben. Denn Benedikt XVI. würde nie eine Frau über sich dulden. Und über eine lesbische Tochter darf er sich auch nicht freuen. Mit Sach- und Fach-Politik hat das alles nichts zu tun. Aber es stiftet Unfrieden und es schürt Ängste vor anderen Religionen und Kulturen.
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24. |
Das offizielle Deutschland wehrt sich noch immer dagegen, ein Einwanderungsland zu sein. Die Bundesrepublik ist ein EU-Land mit unterentwickelter Demokratie. Deutschland ist ein schwindsüchtiger Sozialstaat. Und die alte Bundesrepublik schreibt sich ihre Geschichte
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25. |
Mein Ansatz bleibt: Man muss diese Einfalls-Tore schließen. Das ist wichtiger als der untaugliche Ruf, neue Nazis zu verbieten. Abschließend: Der Begriff Rechtsextremismus ist umstritten. Ich nutze ihn vorerst dennoch, wohl wissend: Er lenkt ab. Denn das eigentliche Problem liegt nicht im Extremen, sondern in der Mitte der Gesellschaft, also bei uns.
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