Anti-Faschismus muss immer auch Pro sein

Gedenken und Mahnung gegen das Vergessen, Matinee im Rathaus Treptow
12. November 2006
Rede von Petra Pau, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages

1. 

Der Zufall setzt Fragezeichen. Ein Fragezeichen steht hinter dem 9. November. Das Datum bündelt historische Ereignisse, wie kein zweites in der deutschen Geschichte: 1918 - November-Revolution, 1923 - Hitler-Putsch, 1938 - Reichs-Pogromnacht, 1989 - Öffnung der Berliner Mauer.
Jedes Ereignis hat ein eigenes politisches Gewicht. Wie schwer es wirklich wiegt, mögen Historiker klären. Dort ist die Geschichte ohnehin besser aufgehoben, als bei Politikern. Aber eines dürfen wir gemeinsam nicht zulassen: Nämlich, dass der 9. November 1938 als „Schicksalstag“ verharmlost wird.
Auch nicht als „Reichs-Kristall-Nacht“. Welcher Nachgeborene oder Jugendliche soll sich unter dieser Bezeichnung vorstellen, dass es um das größte Verbrechen in der jüngeren Menschheits-Geschichte ging: um die systematische Vernichtung eines Volkes, einer Kultur, von Millionen Jüdinnen und Juden.

2. 

Einer meiner Mitstreiter war vor 14 Tagen mit der S-Bahn unterwegs. Am Alex zogen die so genannten Fans von Dynamo Dresden vorbei. Sie skandierten: „Juden, Juden, Juden!“ Zur selben Zeit wurde jüdischen Kickern in Berlin-Treptow angesagt: „Hier regiert die NPD, nicht der DFB!“
„Sind wir schon wieder soweit?“, titelte die „Jüdische Allgemeine“ in ihrer jüngsten Ausgabe. Ich sage: Nein! Es gibt gravierende Unterschiede zwischen 1938 und 2006. Aber missverstehen Sie das bitte nicht als Entwarnung. Denn längst geht es für viele wieder um Leib und Leben. Angst hausiert.
1938 wurden die Wohnungen und Geschäfte deutscher Jüdinnen und Juden kurz und klein geschlagen - von Staats wegen. Heute müssen die Synagogen und Kinder-Gärten deutscher Jüdinnen und Juden mit Pollern und Wasserwerfern geschützt werden - wieder von Staats wegen. Das ist ein Unterschied.
Aber das entschärft nicht die Bedrohung. Es ist übrigens nicht nur eine Bedrohung für Jüdinnen und Juden. Auch nicht nur für Migrantinnen und Migranten. Es ist eine Bedrohung für uns alle, weil sie Werte, wie „die Würde des Menschen“ oder „Solidarität“, entsorgt. Es geht ums Eingemachte.

3. 

Im November 1938 ging es noch nicht um die Endlösung der so genannten Judenfrage. Die wurde von den Nazis offiziell erst im Juli 1941 verkündet. Aber die Diskriminierungen, die Drangsalierungen, die Vertreibung und Ermordung von Jüdinnen und Juden hatte lange vor dem November 1938 begonnen.
Und sie fanden nicht nur in Deutschland und in deutschen Konzentrationslagern statt. Ich habe als Vizepräsidentin des Bundestages am 26. September die Bundesrepublik Deutschland in Kiew vertreten. Dort wurde am 65. Jahrestag internationaler der „Tragödie von Babij Jar“ gedacht.
Tragödie ist ein harmloses Wort. Völkermord trifft es besser. Denn dort, in der Ukraine, wurden 1941 binnen weniger Tage 33.771 Frauen und Männer, Kinder und Greise, von deutschen Einheiten zusammengetrieben und kaltblütig erschossen. Was hatten sie getan? Nichts, sie waren Jüdinnen und Juden!
Das schien für viele am 9. November 1938 noch unvorstellbar. Aber es gibt eine Verbindung zwischen dem November 1938 in Deutschland und dem September 1941 in der Sowjetunion. 1938 war für die Nazi-Führung ein wichtiger Test, ob das deutsche Volk ihr bedingungslos folgt. Und es folgte mit großer Mehrheit.

4. 

Gestern eröffnete die neofaschistische NPD in Berlin-Reinickendorf ihren Bundesparteitag. Sie hatten sich durch die Instanzen geklagt und das „Fontane-Haus“ als Versammlungsort erstritten. Sie wollte unbedingt in Berlin tagen, weil Berlin für sie die Reichshauptstadt war und dies auch wieder werden soll.
Wir haben dagegen protestiert. Alle Parteien aus dem Berliner Abgeordnetenhaus hatten dazu aufgerufen. Die Gewerkschaften waren auf der Kundgebung präsent, auch die Jüdische Gemeinde. Ich sprach für die Linkspartei.PDS. Alle Redner bekamen Beifall, von rund 400 Teilnehmern.
Auf dem NPD-Parteitag waren doppelt so viele. Und im Konsum-Tempel drum herum suchten - unberührt von der NPD-Provokation - zehn Mal so viele Berlinerinnen und Berliner ihr Einkaufsglück. Berlin hat 3,5 Millionen Einwohner. 400 haben sich zum Protest versammelt, ich kannte sie fast alle.
Das war - machen wir uns nichts vor - ein propagandistischer Sieg für die NPD. Sie wird sich bestärkt fühlen, wie 1938 die NSDAP. Das Problem dabei ist nicht das Gerichtsurteil, sondern die demonstrative Apathie der Berlinerinnen und Berliner, die bunt statt braun wollen und vom Staat fordern.
Ich sage dies auch mit Blick auf die neue NPD-Verbotsdebatte. Ich habe das gescheiterte, weil verfahrene Verfahren, in allen Phasen miterlebt. Daraus resultiert meine Skepsis an einer unveränderten Neuauflage. Aber viel wichtiger ist: Gegen Rechtsextremismus hilft letztlich nur gesellschaftliche Zivilcourage.

5. 

Vor wenigen Wochen erlebten wir eine skuriele Debatte. Die Friedrich-Ebert-Stiftung hatte eine Studie vorgelegt in der angeblich das Wort „Unterschicht“ vorkam. Die Medien sprangen drauf und setzten das Wort in schlagende Zeilen. Talkshows nahmen sich des Themas an und Politiker eiferten um die Wette.
Das Wort verbiete sich, meinten die einen, es diskriminiere. Es sei überflüssig, meinte der nächste, denn es gäbe gar keine Unterschicht. Ältere hatten eine ganz andere Assoziation. Sie hörten plötzlich wieder die schneidenden Stimmen aus ihrer Jugend, die von Untermenschen und Unterrassen sprachen.
Nein, so war die flüchtige Debatte nicht gemeint. Ich behaupte, sie war überhaupt nicht ernst gemeint. Denn niemand sprach ernsthaft über die Ursachen dafür, warum sich immer mehr Menschen hoffnungslos wähnen und chancenlos und auch nicht darüber, was mögliche Folgen sein könnten.

6. 

Dabei scheint eine Folge greifbar. Wer chancenlos ist und die Hoffnung verliert, greift nach dem letzten Strohhalm, selbst wenn dieser tiefbraun trieft. Wir haben es gerade zu den Wahlen in Mecklenburg-Vorpommern erlebt und nicht nur da. Und wir erleben es zunehmend bei jungen Menschen.
Es hat zu allen Zeiten nach 1945 verbohrte Ewiggestrige gegeben, die ihren Nazi-Ungeist nur schwerlich versteckten. Manche von ihnen kamen nahezu bruchlos in neue Ämter und hohe Würden. Ich spreche vor allem über die Bundesrepublik-Alt. Aber um die geht es inzwischen nur noch nebenbei.
Die neue Rechte hat die alte Linke erfolgreich kopiert und sie hat Gramcsi verstanden. Sie kämpft um die kulturelle Hegemonie, sie lockt mit sozialer Fürsorge, sie bietet Gemeinsinn mit Schutz und Trutz. Trutz gegen das herrschende System und Schutz vor allem, was undeutsch sei.

7. 

Dieser Strategie der NPD ist allein durch den Verweis auf die wahnwitzige Geschichte des Faschismus nicht beizukommen. Er gehört dazu, wieder und wieder. Deshalb wünsche ich der aktuellen Ausstellung in Berlin - „Anne Frank. hier & heute„ - in der Rosenthaler Straße auch jeden Zuspruch.
Aber das reicht nicht. Es reicht auch kein „Aufstand der Anständigen“ mehr, dem die Zuständigen abhanden kommen, sobald die Kameras und Mikrofone auf den nächsten Skandal gerichtet werden. Wir brauchen einen „Marathon der Demokraten“, davon bin ich überzeugt und dafür werbe ich.
Und wir brauchen schlüssige Analysen und tragfähige Strategien. Ich habe vorhin eine Brücke zwischen der „Unterschicht“ und Rechtsextrem geschlagen. Sie trägt nicht weit. Sie kann sogar brechen, wenn man glaubt, da Unten und ganz Rechts läge das Problem. Es liegt inmitten der Gesellschaft.

8. 

Deshalb bleibe ich bei meinem Ansatz: Wer Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus bekämpfen will, muss um die Mitte der Gesellschaft kämpfen. Denn die Gleichung - arm plus hoffnungslos gleich rechtsextrem - ist kurzschlüssig. Das belegen zahlreiche ernstzunehmende Untersuchungen.
Und vergessen wir bitte nicht, die leichtfertigen oder wohl kalkulierenden Stichwortgeber. Wer Migrantinnen und Migranten vornehmlich in nützlich und schädlich einteilt und sie immer wieder als potentielle Terroristen darstellt, hat sich den Beifall der NPD redlich verdient, aber keine gesellschaftliche Duldung.
Wenn ich mich recht erinnere, war es Max Reimann, der seinerzeit für die KPD im Bundestag erklärte - sinngemäß: Wir stimmen gegen das Grundgesetz, aber ich prophezeie, wie werden die ersten und letzten sein, die es verteidigen müssen. Dieses Erbe hat die Fraktion DIE LINKE überzeugt übernommen.

9. 

Das betrifft natürlich Artikel I: „Die Würde des Menschen ist unantastbar!“ Aller Menschen, nicht nur die der Deutschen oder der Deutschstämmigen. Dazu gehört das Asylrecht ebenso, wie das Antidiskriminierungsgebot. Natürlich das Sozialstaatsgebot und, dass Eigentum dem Gemeinwohl dienen soll.
Ich sage aber auch: Verfassungs-Diskurse sind wichtige, aber abstrakte Debatten. Das Leben und der Alltag sind konkret. Wer durch "Hartz IV" diskriminiert wird oder sich entwürdigt fühlt, greift nicht nach dem Grundgesetz. Er sucht Hilfe und Alternativen oder er resigniert.
Und deswegen komme ich zu einer meiner Grundthesen: Der Unterschied zwischen Links und Rechts liegt nicht im NEIN. „Hartz IV muss weg!“, haben beide plakatiert. Der Unterschied liegt im Ja, in den jeweiligen Alternativen. Die sind fundamental und die müssen genauso kenntlich werden.

10. 

Die sind umstritten. „Mit Staatsknete wird Multikulti, Gendermainstreaming und die schwule Subkultur gefördert, während die Proleten auf Hartz IV gesetzt werden (...) Muß man sich wundern, daß die Opfer dieser Politik diesen Betrügern ihre Stimme nicht gegeben haben?“ Das meinte ein Kommentator, der sich selbst als unanfechtbar Links und antfaschistisch preist.
Noch immer Zitat: „Mit dem NPD-Spuk wäre es dagegen schnell vorbei, wenn die Linkspartei endlich eine Linkspartei wäre...“, als „Fundamentalopposition gegen die Hartz-Politik.“
Ich bin gegen Hartz IV. Aber was empfiehlt der junge-Welt-Autor Elsässer wirklich? Er will Klassenkampf für Hetero-Deutsche. Und da widerspreche ich heftig: Das ist nicht links, das ist nicht antifaschistisch, das ist originär rechts.

11. 

Es bleibt ein fundamentaler Unterschied, ob von rechts „Ausländer raus“ und „Arbeit für Deutsche“, oder ob von links eine sozial-orientierte EU und Mindestlöhne für alle gefordert werden - und ein öffentlich geförderter Beschäftigungssektor, als Alternative zum allgemeinen Sozialabbau.
Es ist ein fundamentaler Unterschied, ob die Linke „Krieg als Fortsetzung der Politik“ ablehnt, oder ob die Rechte „kein deutsches Blut für US-Öl“ fordert. Und es ist ein fundamentaler Unterschied, wenn die Rechte für die Würde „ordentlicher Deutscher“ und die Linke für die unantastbare Würde aller kämpft.
Daher mein Schluss-Gedanke: Antifaschismus ist wichtig und hoch aktuell. Aber wir gewinnen die Mitte der Gesellschaft nicht allein mit „Anti“. Wir brauchen zum berechtigten Kontra das gewinnende Pro. Das ist die große Herausforderung, am historischen 9. November und jeden Tag.

 

 

12.11.2006
www.petra-pau.de

 

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