Arme Menschen im freien Markt - Soziale Sicherung ist notwendiger den je

NGG-Jahresversammlung in Erfurt, 8. April 2006,
Rede von Petra Pau

I. Grundsätzliches

1. 

Ich will mit einer Episode aus dem Bundestag beginnen. Als mein Kollege Wolfgang Neskovic seine Jungfernrede beendete, schloss er mit den Worten: „Ich danke für ihre Aufmerksamkeit und ihre Zwischenrufe!“
Und an Zwischenrufen war wahrlich kein Mangel. Sie reichten von „Quatsch“ über „Opportunist“ bis „Plattitüden“. Eine Plattitüde ist bekanntlich eine geistlose Bemerkung. Zur Debatte stand die Regierungserklärung des Merkel-Kabinetts.
Was hatte Wolfgang Nescovic - ein erprobter Richter - nun gesagt, was ihm bereits bei seiner ersten Rede so viel Schmährufe einbrachte?
•  Er hatte daran erinnert, dass der Rechtsstaat die Aufgabe hat, die Schwachen vor der Macht der Starken zu schützen.
•  Er hatte daran erinnert, dass der Sozialstaat im Grundgesetz unwiderruflich festgeschrieben wurde.
•  Und er hatte erklärt: Das Grundgesetz bildet geradezu eine Aufforderung zum demokratischen Sozialismus.
Mit diesen schlichten Grundsätzen hatte Wolfgang Nescovic eine bis dahin klein karierte Debatte gesprengt. Er stach in ein Wespennest. Er hatte die Rechtsexperten der anderen Fraktionen angeklagt und gesagt:
Wer den Sozialstaat - noch dazu von Amts wegen - in Frage stellt, der bricht mit dem Grundgesetz und der ist folglich ein Verfassungsfeind.

2. 

Nun muss man kein Rechtsgelehrter sein, um zu spüren: Der Sozialstaat wird seit Jahren in Frage gestellt - mal schleichend, mal frontal.
Er sei nicht mehr bezahlbar, sagen die einen (Grüne). Er sei überbordend, sagen andere (FDP). Er lähme die Eigeninitiative, sagen dritte (Union und SPD). Die Argumente gegen den Sozialstaat nehmen zu.
Sie werden deshalb nicht besser. Denn der Sozialstaat ist keine Wohltat für gute Zeiten. Seine entscheidende Funktion ist: Er muss die Gesellschaft zusammenhalten, für Gerechtigkeit und Ausgleich sorgen und verhindern, dass die Zentrifugalkräfte zwischen Arm und Reich oder zwischen stark und schwach, überhand nehmen. Er muss das leisten, was der freie Markt nicht will und nicht kann.
Denn der freie Markt funktioniert ausschließlich nach ökonomischen Gesetzen. Moral und Ethik sind ihm fremd. Werte, wie Solidarität der Gerechtigkeit kennt er nicht. Und auch die Umwelt ist für den freien Markt kein hohes Gut, sondern lediglich Rohstoff für Profit. Deshalb verteidige ich den Sozialstaat ganz prinzipiell. Nicht nur, weil er im Grundgesetz per Ewigkeits-Prinzip verankert wurde, sondern eben weil er für das Gemeinwesen unverzichtbar ist.

3. 

Vor einem Jahr kam ein Buch in den Handel. Es hatte mich überrascht. Sein Autor heißt Heribert Prantl. Er ist bei der Süddeutschen Zeitung Ressort-Chef und für seine innenpolitischen Kommentare berühmt und gefürchtet. Also hatte ich ein Buch erwartet, das mit dem permanenten Abbau von Bürgerrechten abrechnet. Aber es beschreibt „Die Zerstörung der sozialen Gerechtigkeit!“ Nicht irgendwo, sondern hier in Deutschland.
Und es ist ein klares Bekenntnis. Ich will das gern mit einem Zitat belegen: „Der Sozialstaat ist Heimat. Beschimpfen kann ihn nur der, der keine Heimat braucht. Und den Abriß wird nur der verlangen, der in seiner eigenen Villa wohnt. Ob er sich dort noch sehr lange wohl fühlen würde, ist aber fraglich.“
Soweit Heribert Prantl. Und als ob es dafür eines Beleges bedurft hätte, er wurde uns allen frei Haus geliefert. Mit Fernsehbildern über die tagelangen sozialen Krawalle in Paris. Vor allem Jugendliche, hoffnungslose, klagten an: Sie haben bei sich zuhause, in ihrem Land, keine Heimat mehr. Der Sozialstaat ist für sie nicht mehr erfahrbar.
Ich erinnere daran, weil wir auch hierzulande eine schiefe Debatte führen. Wir brauchen endlich eine „deutsche Leitkultur“, heißt es. Migranten sollen das Grundgesetz büffeln und darauf einen Eid leisten. Deutsche Werte sollen endlich wieder durchgesetzt werden, notfalls mit Sozialentzug und staatlicher Gewalt. Ich halte das alles für kreuz-gefährlich. Ich halte das für untaugliche Ersatzhandlungen und es trifft zudem die Ärmsten, jene, die eine Heimat suchen und brauchen.
 

II. Aktuelles

4. 

Nun zu einigen aktuellen Themen. Ich habe mich grundsätzlich für den Sozialstaat ausgesprochen Und das meine ich nicht nur national und schon gar nicht nationalistisch. Auch die Europäische Union muss sich daran messen lassen, was sie sozial bewirkt. Und nach diesem Maßstab ist meine These: Wir haben nicht zu viel EU, sondern zuwenig soziale EU.
Jüngstes Beispiel: Die so genannte Bolkestein- Richtlinie. Diese EU- Dienstleistungsrichtline ist zu Recht in Verruf gekommen und mit ihr die EU insgesamt. Sie soll Dienstleistungen EU-weit de-regulieren, also entregeln, enthemmen. Was in der Folge bedeuten würde, dass Lohn-, Umwelt- und Sozialstandards im freien Spiel der Marktkräfte auf das EU-weit unterste Niveau gedrückt würden.
Dagegen regt sich weiterhin Protest. Überhaupt empfehle ich stets genau hinzuhören, wenn De- Regulierung als Tugend verkauft wird. In zwei von drei Fällen handelt es sich dabei um den puren Abbau wichtiger Standards, die häufig schwer genug erkämpft wurden. Mit einem weiteren Nebeneffekt: Es ist Aufgabe der Politik sinnvolle Standards zu setzen und so einen entfesselten Markt zu binden. Wer das Gegenteil macht, entmachtet die Politik und braucht sich dann auch nicht über einen zunehmenden Parteien- und Wahlverdruss wundern.

5. 

Zu den aktuellen Themen gehört die Debatte über einen gesetzlichen Mindestlohn. Meine Partei fordert dies seit längerem und wurde stets dafür belächelt. Inzwischen haben alle Parteien irgendeinen normierten Mindestlohn in ihr Repertoire aufgenommen. Das ist ein Fortschritt, aber natürlich noch kein Durchbruch.
Ich werbe vor allem aus zwei Gründen für einen gesetzlichen Mindestlohn, aus einem sozialen und aus einem ökonomischen Grund. Sie kennen den Slogan: „Sozial ist, was Arbeit schafft!“ Ich teile ihn nicht. Denn damit lässt sich alles begründen: niedrige Löhne, weniger Kündigungsschutz, längere Arbeitszeiten usw.
Mein Widerspruch heißt: „Von Arbeit muss man leben können und zwar in Würde.“ Von durchaus üblichen Stundenlöhnen um die vier Euro kann man aber nicht in Würde leben, sie sind unsozial. Deshalb will ich einen Mindestlohn von acht, besser 8,50 Euro die Stunde.
 
Nun zum ökonomischen Grund. Deutschland ist Export-Weltmeister. Das spricht für eine große Wirtschaftskraft. Zugleich hat der Binnenmarkt Schwindsucht. Das spricht unter anderem für eine verfehlte Lohnpolitik. Deutschland ist das einzige Land mit einer negativen Lohnentwicklung. Im selben Zehnjahres-Zeitraum stiegen die Löhne und Gehälter in den USA, in Frankreich und in England zwischen zehn und 25 Prozent.
Geringe Löhne senken die Kaufkraft. Eine sinkende Kaufkraft schwächt den Binnenmarkt. Ein schwacher Binnenmarkt entzieht insbesondere dem Klein- und Mittelstand Aufträge. Und ohne Aufträge müssen die entsprechenden Unternehmen Personal entlassen, und zwar in die ohnehin viel zu hohe Arbeitslosigkeit.
Das ist ein ökonomischer Teufelskreis. Er lässt sich durchbrechen, zum Beispiel durch Mindestlöhne. Man kann ihn allerdings auch anheizen, zum Beispiel durch die Anhebung der Mehrwertsteuer um drei Prozent. Ich bin keine Gegnerin von Steuern. Mein Thema ist Steuergerechtigkeit. Und ich werbe dafür, dass Steuern nicht nur fiskalisch verstanden werden, sondern endlich auch wieder politisch, als Mittel zum Steuern.

6. 

Über die grundlegende Bedeutung des Sozialstaates habe ich eingangs gesprochen. Das sagt natürlich noch nichts darüber, wie er konkret ausgestaltet wird oder werden kann. Deshalb will ich genauso klar anmerken: Ich halte kein Plädoyer für pure Besitzstandswahrung. Das wäre rückwärtsgewandt und das wäre zum Scheitern verurteilt.
Wir brauchen Veränderungen. Zumal vieles, was wir als sozialstaatliche Errungenschaften hochhalten, auf Bedingungen des 19. und 20. Jahrhunderts fußen, die es so nicht mehr gibt. Nahezu alle Sozialsysteme sind wie zu Bismarcks Zeiten an den Faktor Arbeit gekoppelt. Dabei weiß jeder: Klassische Vollbeschäftigung - wie etwa in den 1960er Jahren - wird es nie mehr geben. Als muss sich auch der Bezugspunkt für die sozialen Systeme ändern.
 
Eine wiederkehrende Idee hierfür heißt Wertschöpfungsabgabe. Was in Kurzfassung hieße: Unternehmen leisten ihre Beiträge nicht mehr nach der Anzahl ihrer Mitarbeiter und nach der Höhe ihrer Löhne. Das neue Maß wäre die Wertschöpfung, als letztlich der Gewinn. Wer mit wenigen Beschäftigten viel gewinnt, zahlt mehr. Wer viele beschäftigt und branchenüblich dennoch wenig profitiert, zahlt auch weniger.
Ich will die Idee hier nur andeuten, obwohl sie radikal ist. Es ist ja Mode geworden, die Senkung der Lohnnebenkosten zu fordern. Dabei wird gern verschwiegen: Lohnnebenkosten sind Beiträge der Unternehmer für den Sozialstaat, damit Kranke gesund werden können, damit Arbeitslose nicht ins Bodenlose fallen, damit Alte nicht verarmen. Wer daher ständig die Lohnnebenkosten verteufelt, stellt sich unter den Generalverdacht, den Sozialstaat abschaffen zu wollen.

7. 

Es gibt aber nicht nur die Attacke, sondern auch eine Politik der kleinen Schritte. Wir erleben sie als so genannte Gesundheits-Reform. Ein guter Bekannter von mir geht pünktlich zum Quartals-Beginn zu seiner Hausärztin. Er legt beim Empfang einen Schein auf den Thresen und sagt:
„Hier ist mein Schmidt-Zehnt!“ Das ist eine Anspielung auf die alte und neue Gesundheits-Ministerin. Er will nicht, dass das politische Problem mit der falschen Bezeichnung „Praxis-Gebühr“ kaschiert wird. Das politische Problem ist: Die Unternehmen werden Stück für Stück aus der solidarischen Verantwortung entlassen. Und die Gesundheitskosten werden Stück für Stück bei den Kranken abgeladen. Die Rezeptgebühr wirkt in dieselbe Richtung. Es gibt weitere Beispiele. Jedes Einzel-Beispiel scheint verkraftbar und genau so wird es auch kommuniziert.
Aber summiert und von den politischen Worthülsen befreit, zeigt sich die Tendenz. Und die heißt: Das Solidarprinzip wird aufgekündigt, der Sozialstaat wird verabschiedet. Das will ich nicht. Ich will das nicht, weil ich das Grundgesetz verteidige. Und ich will das nicht, weil ich in meinem politischen Alltag immer wieder leidvoll erfahre, was das für die Betroffenen heißt.
 

III. Zusammenhänge

8. 

Ich habe mit zwei Beispielen begonnen: Mit der Rede von Wolfgang Neskovic und mit einem Buch von Heribert Prantl. Beide sind gelernte Juristen. Beide sorgen sich um den Sozial- und Rechtsstaat Bundesrepublik Deutschland. Und beide weisen daraufhin: Der Sozialstaat und der Rechtsstaat hängen untrennbar zusammen.
Weil ich diese Auffassung teile, will ich das noch mit zwei aktuellen Beispielen illustrieren. Beide betreffen die „Hartz“- Gesetze. Sie wurden 2002 und 2003 beschlossen. Sie haben 2004 und 2005 für Aufruhr gesorgt. Aber sie gelten natürlich 2006 weiterhin fort.

9. 

Versprochen wurde, dass sich mit diesen Gesetzen die Arbeitslosigkeit zumindest halbieren wird. Das konnte man glauben. Man musste es nicht. Ich habe es nie getan. Darüber kann man streiten. „Das Kriterium der Wahrheit ist die Praxis“, meinte ein Klassiker. Die Praxis - nämlich fünf Millionen Arbeitslose - spricht gegen die „Reform“.
Eingetreten ist etwas anderes. Und wer je mit ALG- II- Empfängern zu tun hatte, weiß, wovon ich spreche. Wer das Arbeitslosengeld II begehrt, muss ca. hundert persönliche Daten über sich und sein familäres Umfeld angeben. Die werden gespeichert, verarbeitet und abgeglichen. In Kurzfassung: Wer arm dran ist, verliert obendrein seine Bürgerrechte. Denn das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ist im Grundgesetz verankert. Es gilt, aber nur noch für die Schönen und Reichen.

10. 

Immer mehr Jugendliche haben Probleme, eine Lehrstelle zu finden. Dafür gibt es viele Gründe. Aber der entscheidende bleibt: Es gibt zuwenig Lehrstellen. Und selbst wenn Jugendliche erfolgreich eine Lehre absolviert haben, dann droht ihnen immer noch massenhaft die Arbeitslosigkeit. Sie werden ALG-II-Empfänger.
Mit einer zusätzlichen Besonderheit: Wer noch keine 25 Jahre alt ist, wird ins „Hotel Mama“ verbannt. Der oder sie darf keine eigene Wohnung beanspruchen. Durch diese „Sozial-Regelung“ der neuen großen Koalition werden Volljährige zu Minderjährigen beschlossen. Ich rede jetzt nicht davon, was ich aus sozialer, aus emanzipatorischer oder aus jugendpolitischer Sicht davon halte.
Meine erste Botschaft ist: Der Rechtsstaat und der Sozialstaat sind zwei unverzichtbare Säulen unserer Gesellschaft. Sie sind im Zeitalter der Globalisierung nicht überholt, sondern unverzichtbarer denn je.
Meine zweite Botschaft ist: Wer an einer Säule rüttelt, vergreift sich zugleich an der zweiten. Soziale und Bürgerrechte gehören zusammen. Sie müssen auch genau so verteidigt und erneuert werden. Das ist meine Erfahrung und dafür werbe ich.
 

 

 

8.4.2006
www.petra-pau.de

 

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