Ein- und Ausblicke - zwischen Statistik und Besucherandrang

PDS im Bundestag - heute von Petra Pau
Beitrag in „Disput“, Oktober 2004

„Rechtsextreme Gewalt: Sachsen unrühmlicher Spitzenreiter“. Das titelte der Focus Anfang Oktober. Zahlreiche Zeitungen - bundesweit - trugen die Meldung weiter und beriefen sich dabei auf mich, zu Recht. Seit Anfang der 90er Jahre fragt die PDS im Bundestag das Bundesinnenministerium, wie viele rechtsextreme Straf- und Gewalttaten registriert wurden, Monat für Monat. Im August 2004 waren es im Bundesschnitt wieder stündlich eine „politisch rechts motivierte Straftat“ und täglich 11/2 entsprechende Gewalttaten.

Die Statistik des Bundesinnenministeriums ist nicht unumstritten. In ihr werden die gemeldeten Zahlen der 16 Bundesländer summiert. Die wiederum legten lange Zeit sehr unterschiedliche Maßstäbe dafür an, ob eine gemeldete Straftat rechtsextremistisch, ausländerfeindlich bzw. antisemitisch motiviert ist oder nicht. Dieses Dilemma wurde 2001 leidlich behoben. Gleichwohl ist die Zahl tatsächlicher Straftaten erheblich höher, als die offiziell angegebene.

Darauf verweise ich immer, zwölf Mal im Jahr, wenn ich die aktuelle Statistik den Medien mitteile. Die Resonanz auf meine Presseerklärungen liegt zumeist Nahe Null. Der Tagesspiegel berichtet. Ab und an findet sich auch im Neuen Deutschland ein Hinweis. Aber Schlagzeilen von der Insel Rügen bis zum Bodensee, das ist neu. Ich begrüße sie und sage zugleich: Vorsicht! Zuletzt sorgte ein Anschlag auf jüdische Aussiedler für mediale Aufregung. Das war anno 2000. Danach waren Rechtsextreme wieder ein Selten-Thema.

Das rächt sich nun. Die NPD erfuhr in Sachsen kräftigen Zuspruch. Die DVU wurde in Brandenburg wieder gewählt. Beide Parteien einigten sich zudem - erfolgstrunken -, fürderhin kooperativ zu agieren, bis zur Bundestagswahl. Und sie werden forscher denn je. Das Holocaust-Denkmal in Berlin werde ein gutes Fundament für die künftige Reichskanzlei abgeben, tönte ein führender Funktionär. Zugleich wolle sich die NPD weiter für schlagkräftige Neonazis öffnen. Die Hüllen fallen, die Fratzen grinsen.

Diese neue Qualität am rechten Rand wäre eine dringende Debatte im Bundestag wert. Stattdessen wollte die CDU mit Straßenaktionen Unterschriften gegen einen EU-Beitritt der Türkei sammeln - das treibt gegeneinander, auch hierzulande. SPD- und Grünen-Politiker setzten die PDS mit der NPD gleich - das normalisiert die Rechtsextremen. Und Bundesinnenminister Schily tadelte das Bundesverfassungsgericht ob des vermasselten NPD-Verbots - das spricht für Altersstarrsinn.

Denn es gab einen Hauptverantwortlichen dafür, dass das Verbotsverfahren gegen die NPD eingestellt wurde, ehe es richtig begann. Und der heißt Schily. Am Anfang stand eine eher mäßige Klageschrift. Ihr folgte ein V-Mann-Skandal dem anderen und der begründete Verdacht, dass die NPD maßgeblich vom Verfassungsschutz profitiert hat. Schließlich war die Alternative übersichtlich. Entweder werden die V-Leute in der NPD gedeckt, dann droht das Gerichtsverfahren zu scheitern. Oder man will das Verbot. Dann muss das Agieren der V-Leute vor Gericht belegt werden.

Bundesinnenminister Otto Schily und seine Kollegen in Bayern und Brandenburg, also Beckstein (CSU) und Schönbohm (CDU), entschieden sich damals für die V-Leute und damit gegen das NPD-Verbot. Als Partei genießt die NPD Privilegien. Ebenso richtig ist: Gäbe es die NPD als Partei nicht, dann hätte sie auch nicht in den sächsischen Landtag gewählt werden können. Aber um das zu erkennen, erwiderte ich Otto Schily in einer aktuellen Stunde des Bundestages, muss man nicht Minister werden.

Vielleicht hätte ich damals, vor drei, vier Jahren, ein Büchlein, und sei es ein Tagebuch, schreiben sollen, wie das NPD-Verbot vergeigt wurde - fahrlässig oder vorsätzlich. Die PDS-Fraktion hatte namens des Bundestages mitgeklagt. Für die Detailarbeit waren Ulla Jelpke und ich zuständig. Unsere Zweifel und unser Frust wuchsen schnell. Es wurde verharmlost und getrickst, bis zu dem Punkt, wo das Bundesverfassungsgericht aufgab, aufgeben musste.

Aber so ärgerlich das stimmte, es war ein Nebenschauplatz. Entscheidend bleibt: Der NPD und den anderen rechtsextremen Parteien, Kameradschaften und Verbindungen müssen der Nährboden und die Gefolgschaft entzogen werden. Das ist die eigentliche demokratische Herausforderung an eine couragierte Zivilgesellschaft. Wer hoch gewählt wird, wie die beiden rechtsextremen Ausleger, hat hunderttausendfachen Zuspruch. Der lässt sich nicht verbieten, er muss engagiert abgebaut werden, überzeugend, mit politischen Alternativen.

Ein- und Ausblicke

Ich gestehe: Wir hatten Spaß - trotz „Wolle Thierse“ oder dank. Er hatte uns bescheinigt, dass sich die PDS im Bundestag zu den "offenen Türen" nicht gleichberechtigt präsentieren dürfe. Tausende strömten in den Reichstag, um die versprochenen „Ein- und Ausblicke“ mitzunehmen. Alle Fraktionen hatten sich, ihre Promis und ihr Papier unter der Bundestagskuppel aufgebaut. Wir durften dies nicht, beschied der Präsident des Bundestages. Wir haben es schriftlich.

Das war gut so. Es brachte uns erneut in die Medien und gut ins Gespräch. Auch mit vielen, die wegen der „Bundestags-Einblicke“ Wartegemeinschaften bildeten, bis sie eingelassen wurden. „Sau-Staat“, meinte ein erregter Bayer, „respektiert nicht mal seine Abgeordneten!“ Wir diskutierten out-door, wie es neudeutsch heißt. Und so trugen viele Besucherinnen und Besucher unsere „PDS im Bundestag“-Plastetüten ins Haus, lange bevor sie über CDU- oder SPD-Tische stolpern konnten.

Gleichwohl hat diese Bundestags-Gaudi eine ernste Seite, einen bösen Schatten, einen schlimmen Defekt. Auch darüber stritt ich vor dem Reichstag und fand dabei viel Zuspruch. Einige Berliner kamen eigens zum Reichstag, um uns Mut zuzusprechen. Natürlich gab es auch Besucher, die uns lästig und unseren Protest falsch fanden. „Sie sind keine Fraktion, sehen Sie das endlich ein und hetzen Sie nicht weiter rum!“, empörte sich eine Frau lauthals. Andere guckten bewusst in die Ferne, wenn wir nahten. Das ist so.

Die Zeit ist schnelllebig, Manches vergisst sich und überhaupt. Deshalb schreibe ich zuweilen „Aktuelle Notizen“. Sie sind eine Selbstverständigung, aber nicht nur. Ich stelle sie auf oder in meine Web-Seite, lesbar unter www.petrapau.de, und somit zur Diskussion. Als wir nun dümmlich bei den „Tagen der Ein- und Ausblicke“ im Bundestag ausgeschlossen wurden, da notierte ich unter anderem: „Artikel 38 (1) Grundgesetz besagt: ›Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages... sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen verpflichtet.‹ Wir aber werden an Weisungen konkurrierender Parteien gebunden, die unsere Rechte per Ältestenrat beschneiden. Und der Präsident des Bundestages beruft sich auf genau diese Lesart. Er agiert auf der Kippe.

Zum rechtlichen Problem gesellen sich politische. Die ›Tage der Ein- und Ausblicke‹ sollen anschaulich für den Bundestag und für die parlamentarische Demokratie werben. Was aber ist das für eine Werbung, wenn der Bundestag die eigenen Abgeordneten ausgrenzt und sich damit selbst als undemokratisch präsentiert?

Dabei geht es nicht nur um Gesine Lötzsch und mich. Wir wurden direkt und von insgesamt rund 110.000 Bürgerinnen und Bürgern in Berlin-Lichtenberg und Marzahn-Hellersdorf gewählt. Auch diese werden düpiert. Und nicht nur sie, sondern alle, die uns als PDS im Bundestag wahrnehmen und politische Erwartungen in unser Agieren setzen.

Bei vielen Großthemen, die im Bundestag verhandelt werden, steht es 2:4 - zwei Frauen gegen vier Fraktionen. Das ist bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr so, das trifft auf die Agenda 2010 zu. Nun haben die anderen vier beschlossen: Die zwei opponierenden PDS-Frauen dürfen sich an den ›Tagen der Ein- und Aussichten‹ nicht präsentieren. Schöne Aussichten, blamierte Demokratie!“

Vier Wochen später gab einen lustigen Nachschlag. Ich erhielt Post aus dem Stolpe-Ministerium, das auch fürs Wohnen zuständig ist. Der Brief war an die „PDS-Fraktion im Bundestag“ adressiert. Der Berliner Tagesspiegel fragte nach, und ich habe kommentiert: „Stolpe kommt entweder zu spät, wie bei der Autobahn-Maut. Oder er kommt zu früh, denn die PDS wird erst 2006 wieder als Fraktion im Bundestag sein.“

Daten ohne Schutz

Die Autobahn-Maut für Lkw gehörte vor Jahresfrist zu den Medien-Rennern. Das Großprojekt von Toll Collekt, einem Konsortium von Telecom und Daimler-Chrysler, wollte einfach nicht funktionieren. Zwei „Welt-Firmen“ blamierten sich und die Bundesregierung. Milliarden Euro gingen dem Fiskus verloren. Und junge Tüftler reisten mit eigenen Maut-Projekten durch die Talk-Shows, die simpler und billiger schienen. Sie hatten Fun, aber keinen Erfolg. Warum, das deutete der Berliner Datenschutzbeauftragte, Prof. Garstka, auf der ersten Datenschutz-Konferenz der PDS an.

Sie fand am 2. Oktober im Haus der Demokratie in Berlin statt. Sie war überfällig, und sie war prominent besetzt. Der Bundesbeauftragte für Datenschutz, Dr. Schaar, forderte ein neues, modernes Gesetz, um Persönlichkeits-Rechte - denn um die geht es beim Datenschutz - besser wahren zu können. Seine Argumenten und weitere Beiträge werden demnächst unter www.pds-datenschutz.de nachvollziehbar sein. Unbestritten war: Die Sammelgier und die Möglichkeiten, Intimes zu erspähen, zu vermarkten, zu missbrauchen, sind gefährlich gewachsen. Neue Technik macht's möglich.

„Man braucht nur einen Schalter umzulegen“, illustrierte der Landes-Datenschutzbeauftragte von Berlin seine Befürchtung, „und aus dem Maut-System für Lkw wird eine Total-Überwachung aller Autobahnnutzer“. Bewegungsprofile erstellen, heißt das Böswort. In Thüringen wurde es schon mal getestet. Ähnliches wird im Einzelhandel forciert. RFID-Chips gelten als Clou moderner Logistik. Sie schaffen zugleich gläserne Kunden. In den USA werden derweil alle Passagiere erfasst, wie Kriminelle. Und demnächst soll eine „Gesundheits-Card“ in Deutschland persönliche Daten bergen, die höchst sensibel sind. Vorsicht ist geboten.

Auch Hartz IV wurde auf der Konferenz kritisiert. Wer künftig Arbeitslosengeld (ALG II) begehrt, muss einen 16-seitigen Fragebogen ausfüllen und 60 bis 100 Fragen beantworten, je nachdem, wie viele Partner bzw. Angehörige die Bedürftigen haben. So entsteht die größte Sozial-Datei in der Geschichte der Bundesrepublik. Datenschützer haben die Formulare moniert. Sie werden dennoch verteilt und verarbeitet. Wer ALG II beansprucht, muss sie ausfüllen. Das ist die Logik der Praxis. Anwältin Dr. Evelyn Kenzler fasste sie in das Fazit: Wer arm dran ist, verliert obendrein sein Grundrecht auf Datenschutz. Ein Unrecht zieht das nächste nach sich.

Wir haben mit den professionellen Datenschützern über Auswege diskutiert. Ihre Antwort war überraschend, so als kämen sie aus dem PDS-Programm. Sie hieß: Das Sozialsystem müsse grundlegend vereinfacht werden. Am besten in Form einer Grundsicherung für alle, die Existenz sichernd ist. Sie wäre gerechter als die bestehenden Notprogramme. Obendrein entfiele alles überzogene Datensammeln. Da war sie also wieder, die Brücke zwischen den Bürger- und den sozialen Rechten. Genau die wollten wir kenntlich machen und schlagen. Es war eine gute Konferenz.

Nein reicht nicht

Hartz IV war das Thema der letzten Monate. Hunderttausende gingen auf die Straßen. Sie demonstrierten gegen Sozialabbau per Gesetz. Viele protestierten montags. Das war zuviel, zum Beispiel für Vera Lengsfeld. Sie meldete sich prompt zu Wort. Zu DDR-Endzeiten galt sie als Bürgerrechtlerin. Später konvertierte sie zur Bundes-CDU. Nun reklamiert sie für sich ein historisches Patent - auf „Montags-Demos“. Ich kenne sie nun aus sechs Jahren gemeinsamer Bundestagszeit und weiß daher: Sie ist, wie sie ist, und sie bleibt sich treu. Man sollte sie also nicht noch wichtig schelten. Aber es meldeten sich noch weitere Bürgerrechtler zu Wort. Sie hatten anderes im Sinn. Sie riefen auf: gegen Sozialraub und für Solidarität, gegen falsche Ost-West-Querelen und für mehr Demokratie. Das unterscheidet die einstigen Bürgerrechtsgefährten: Die einen rühmen sich, die anderen rühren sich.

Wochenlang gab es Proteste gegen Hartz IV, bundesweit in über 250 Städten, Ost und West. Ich war in Berlin dabei und anderswo als Rednerin gefragt: in Halle, Haldensleben, Neuruppin und Wittstock. Gesine Lötzsch war ebenfalls unterwegs und verkündete wie ich: Es gibt Alternativen zur Agenda 2010. Eine heißt Agenda sozial, ein Angebot der PDS. Das hat eine strategische Dimension, übrigens auch gegen Rechtsextremisten. Denn im Nein zu Hartz IV mag es Ähnlichkeiten geben. Beim Ja zu Alternativen aber scheiden sich die Geister, grundsätzlich.

Umso fassungsloser war ich ob der Nachricht, in Nordrhein-Westfalen habe ein Abgeordneter der PDS mit der NPD eine „technische Koalition“ gebildet. „So naiv kann niemand sein“, beantwortete ich eine E-Mail, „nicht so blöd, auch nicht so unverschämt. PDS und NPD sind wie Feuer und Wasser. Sie schließen sich aus. Sie lassen sich weder politisch, noch >technisch< verbinden, im Gegenteil!“

Der Störfall wurde umgehend klar gestellt, aber aus der Welt ist er nicht. Ich ahne schon die Zwischenrufe, die uns im Bundestag treffen sollen, wenn wir das nächste Mal über die NPD und andere Rassisten sprechen.

Im September beschloss der Bundestag Änderungen am Hartz IV-Gesetz. Es ging um Details, wir haben zugestimmt. Der Bundesrat zog Mitte Oktober nach. Unter anderem ging es um die so genannten Kinderfreibeträge, die nicht auf das ALG II anzurechnen sind. Sie wurden erweitert. Das hilft den Betroffenen, ändert aber nichts an der falschen Hartz-Philosophie. Die so genannte Arbeitsmarktreform schafft nicht weniger Arbeitslose, sondern mehr arme Arbeitslose, nebst Angehörigen. Das geht auf die Kappe von Rot-Grün.

CDU und CSU gaben noch eins drauf. Das bescherte uns eine aktuelle Stunde im Bundestag. SPD und Grüne hatten sie genüsslich beantragt, um die Opposition zur Rechten vorzuführen. Die will den Kündigungsschutz lockern, die Arbeitszeit verlängern und die Löhne senken. Ich habe namens der PDS die Agenda 2010 des Kanzlers als „Gegenentwurf zu einem demokratischen Sozialstaat“ abgelehnt und bekräftigt: Das ist schlimm! Doch die „Christ-Parteien sind schlimmer: Sie leisten dem Sozialstaat vorsätzlich Sterbehilfe.“

Zwei Mal 100

Jüngst schrieb die WAZ, die Westdeutsche Allgemeine Zeitung, über uns. Sie kritisierte die Borniertheit, die uns im Bundestag beschränken will. Es war ein erstaunlich freundlicher Artikel, finde ich. Kurz zuvor hatten wir eine achtseitige Beilage im ND gekauft und unsere Halbzeit im Bundestag bilanziert. Der Zufall wollte es: Zur selben Zeit hielten Gesine und ich jeweils unsere hundertste Rede seit der Wahl im Oktober 2002. Medien-Zöglinge, wie Angela Merkel (CDU) oder Joseph Fischer (Grüne), rangieren zwischen 20 und 30 Parlamentsauftritten. Wichtiger ist: Nach jeder Rede erhalten wir viele Mails und Briefe, zunehmend aus den alten Bundesländern. Auch das macht uns Mut.

Die „Hellersdorfer“, eine Zeitung in meinem Wahlkreis, löste sogar einen regelrechten Run aus. Sie bot einen Reichstagsbesuch an, nebst Führung und einem Gespräch mit mir. Kaum war der Artikel erschienen, klingelten sich die Redaktionstelefone heiß. Drei größere Gruppen haben mich ob der „Hellersdorfer“ Aktion bereits besucht, die nächsten folgen im November. Der Andrang ist groß. Und zusätzlich, denn nahezu in jeder Woche empfangen Gesine und ich Neugierige aus allen Himmelsrichtungen. Das gehört zum Alltag der „PDS im Bundestag“.
 

 

 

27.10.2004
www.petra-pau.de

 

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