Aktuelle Notiz: Gleiche Lebensverhältnisse?

von Petra Pau
Berlin, 13. September 2004

1. 

Am Anfang stand ein Wort, das des Bundespräsidenten. Er heißt seit kurzem Horst Köhler. Und er wirbt dafür, „das Ziel gleicher Lebensverhältnisse in ganz Deutschland aufzugeben“, melden die Agenturen. „Man müsse sich mit unterschiedlichen Lebensverhältnissen abfinden“, soll Köhler gesagt haben und er hat dies auch nach zweitägiger Aufregung nicht dementiert. Also nehme ich an: Die Ansage gilt.

2. 

Immerhin: Der Bundespräsident hat erreicht, dass man über ihn spricht. Er hat provoziert, ein Thema gesetzt, Kontroversen entfacht. Wie weiland Richard von Weizsäcker, 1985, mit einer denkwürdigen Rede zum 8. Mai, zum 40. Jahrestag der Kapitulation des Hitler-Regimes, dem Ende des 2. Weltkrieges in Europa, der Befreiung vom Faschismus.

3. 

Ist Köhlers Interview im „Focus“ von ähnlicher Güte? „Warum die Überlegungen des Bundespräsidenten Köhler schädlich sind und das Land spalten“, beschreibt Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung. „Köhler spricht - hoheitliches Geschwätz“, meint Bettina Gaus in der Tageszeitung. Ich glaube, so einfach ist es nicht. Horst Köhler hat bei seiner Antrittsrede bewiesen, dass er Worte überlegt zu setzen weiß. Warum also sollte er diesmal geschwätzt haben?

4. 

Seit Samstag oder Sonnabend, je nach Geschmack, schwellen die Statements zum Köhler-Interview und die Interpreten seiner Gedanken an. „Er habe die aktuelle Situation in Deutschland richtig beschrieben“, meint Bundeswirtschaftsminister Clement (SPD). Es sollte wohl ein Lob sein. Edmund Stoiber (CSU) ging weiter. Köhler habe unterschiedliche Lebensverhältnisse als belebend für den Wettbewerb bezeichnet. Das sei zukunftsweisend.

5. 

Wechselseitig werfen sich die medialen Kontrahenten vor, weder gelesen, noch verstanden zu haben, was der Bundespräsident wirklich gesagt habe. Also das Original-Zitat: Es „gibt nun mal überall in der Republik große Unterschiede in den Lebensverhältnissen… Wer sie einebnen will, zementiert den Subventionsstaat und legt der jungen Generation eine untragbare Schuldenlast auf.“

6. 

Das ist der Satz, der Gedanke, das Programm, wogegen auch ich sofort protestiert habe. Er zielt ins Mark des Grundgesetzes, er schreibt den Soziastaat noch kleiner und er pflegt einen unredlichen Generationskonflikt. Wörter, wie „einebnen“ oder „zementieren“, erhärten nur die Botschaft: Sie lautet: Der Anspruch auf gleiche Lebensverhältnisse ist altmodisch und falsch. Gerechtigkeit und Solidarität adé!

7. 

Dass dies in Ostdeutschland sofort aufgegriffen und als Bedrohung empfunden wurde, ist nahe liegend. Er werde sich nie mit einem Gefälle abfinden, wie mit der Arbeitslosigkeit West mit 5 - 10 Prozent und der Arbeitslosigkeit Ost mit 20 - 25 Prozent, sagte Brandenburgs Ministerpräsident Platzeck (SPD). Richtig so. Außerdem ist Wahlkampf. Auch Edmund Stoiber (CSU) müsste sich ähnlich empören, würde er kritisch nach Franken und nicht nur narzistisch in den Spiegel gucken.

8. 

Nein, Köhlers Interview war kein Zufall und schon gar kein „törichtes Gerede“, gegen die Würde des eigenen, des vielleicht hoheitlichen, das Amt des Bundespräsidenten, wie die taz kommentiert. Im Gegenteil: Der neue Präsi nutzt es geschickt. Das hat er versprochen, in seinem Sinne und auch deshalb habe ich ihn nicht gewählt.
 

 

 

13.9.2004
www.petra-pau.de

 

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