180 Sekunden und mehr gegen „Hartz“

PDS im Bundestag - heute von Petra Pau

Beitrag in „Disput“, August 2004

In der letzten Woche vor der parlamentarischen Sommerpause kommt es meist ganz dicke. Alle umkämpften Hängepartien sollen noch aufgelöst werden. So war es auch dieses Jahr. Zwei Beschlüsse treffen Millionen: das Zuwanderungsgesetz und Hartz IV. Sie zielen sogar ins Mark der Republik. Die Schachuhr des Bundestages wurde dennoch nach jeweils 60 Debatten-Minuten angehalten. Das ist nicht viel Bedenkzeit für weit reichende Züge.

Beide Male hatte ich für die PDS drei Minuten Rederecht. Überhaupt mussten wir als Einzelabgeordnete lernen, knapp und zugleich verständlich zu reden. Das schult. Manchmal, wenn Angela Merkel oder Joseph Fischer groß ausholen, dann denke ich: Soviel Palaverzeit müssten wir auch mal haben. Wir hätten vieles und häufig noch mehr zu sagen. Wenn ich aber danach in mein Büro komme und die ersten E-Mail lese „Das war kurz, bündig und gut - Danke“, dann bin ich mit unseren 180 Sekunden wieder versöhnt.

Vor einigen Jahren hatte ich eine prägende Erfahrung bei der „Körber-Stiftung“. Wir waren ein widersprüchlicher Haufen, aus vielen Parteien und Verbänden. Zwei Tage lang diskutierten wir über ein modernes Einwanderungsrecht. Dabei gab es eine strenge Ordnung. Wessen Thesen vorab schriftlich verbreitet wurden, durfte sie fünf Minuten begründen, aber ja nicht wiederholen. Denn lesen können die anderen auch. Wer erstmals sprach, hatte ebenfalls fünf Minuten Zeit, die zweite Wortmeldung war auf drei Minuten begrenzt. Das war spannend. Niemand konnte schwafeln und keiner sich inszenieren.

Mir fiel diese Episode ein, als ich wieder einmal in das „PDS-Forum“ geriet. Das ist ein Debatten-Club im Internet, erreichbar unter www.sozialisten.de. Ich empfehle ihn nicht, aber er gibt mir das Beispiel. Dort war nämlich zu lesen: „Wie stark das Engagement der PDS im Kampf gegen den Sozialabbau wirklich ist, beweisen die Bundestagsabgeordneten der PDS.“ Dann wird auf eine Presseerklärung von mir verwiesen und abwertend kommentiert, sie bestehe „nur - aus 6 (sechs) Sätzen. Immerhin etwas.“

Sechs Sätze sind mehr als etwas. Wir agieren in einer Mediengesellschaft. Was im Fernsehen, im Rundfunk, in den Zeitungen nicht vorkommt, das hat es de facto nicht gegeben, weil es niemand wahrnimmt, wahrnehmen kann. Natürlich gibt es tägliche Gespräche vieler PDS-Leute mit noch mehr Nachbarn. Hinzu kommen Infostände auf Marktplätzen und hunderte Papiere, die wir gemeinsam verbreiten. Aber ein Auftritt in einer Talkshow, eine bundesweit verbreitete Agenturmeldung, wiegt millionenfach schwerer. Sie erreichen mehr.

Deshalb denken wir scharf nach, wenn wir Presseerklärungen formulieren oder unsere Minireden vorbereiten. Die im PDS-Forum monierte Presseerklärung war mit „Widersinnig und ausbeutend“ überschrieben. Im „Berliner Kurier“ stand danach: „Am schärfsten sagt es PDS-MdB Petra Pau: Es ist ausbeutend, trotz steigender Produktivität die Löhne zu senken.“ Und bundesweit war zu lesen: „Die PDS-Abgeordnete Pau konterte: Man kann nicht die lahmende Binnenkonjunktur beklagen und zugleich die Kaufkraft schmälern. Es ist widersinnig, bei wachsender Arbeitslosigkeit die Arbeitszeiten zu verlängern.“ Ich habe Daumen mal Pi hochgerechnet: Das dürften zirka 20 Millionen Leserinnen und Leser vernommen haben.

Zwei Wetten

Bevor ich in den Urlaub fuhr, schloss ich zwei Wetten ab: Der Streit um eine Volksabstimmung über die EU-Verfassung wird zum Sommerloch-Hit. Und die Hartz-Gesetze von Rot-Grün werden für anschwellende Empörung sorgen. Endlich! Beide, das verweigerte Referendum und das beschlossene „Armutsgesetz“, greifen tief in die Verfasstheit der Bundesrepublik Deutschland ein. Und ins Leben vieler Betroffener, sehr vieler.

Nach England hatte auch Frankreich ein EU-Referendum angekündigt. Der Abstimmungsring um Deutschland wird enger und enger. SPD und Grüne aber haben fünf Jahre lang gepokert. Sie predigten mehr Demokratie und sie lehnten zugleich jeden ernsthaften Antrag dafür ab. Lange waren CDU und CSU ihr Alibi. Denn für Volksabstimmungen auf Bundesebene muss das Grundgesetz geändert werden. Dazu braucht man im Bundestag auch Stimmen aus den C-Parteien. Doch plötzlich plädieren selbst CSU-Politiker für ein Referendum. Das stinkt zwar nach taktischem Kalkül. Aber zugleich haben sie Schröder (SPD) und Fischer (Grüne) entblößt. Die „Könige der Demokratie“ sind nackt.

Das Internet gibt schnelle Kunde, welche Erklärungen wo gedruckt oder wann gesendet wurden. Suchmaschinen verraten es. Im Juli hatte ich mehrfach den 8. Mai 2005 als Termin für ein EU-Referendum vorgeschlagen. Eine EU-weite Abstimmung an diesem Tage wäre ein symbolisches Versprechen: „Nie wieder Faschismus - nie wieder Krieg!“ Unsere Anregung war mehrfach nachlesbar - in Österreich. Die deutschen Medien blenden PDS-Meinungen noch immer aus, obwohl Umfragen meine Partei seit Monaten zwischen fünf und sieben Prozent handeln. Eine Topmeldung indes war: Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) befürworte ein EU-Referendum. Vielleicht will er das im tiefsten Inneren wirklich. Aber drei Mal hat er im Bundestag brav dagegen gestimmt.

Dieselbe Ignoranz erlebe ich übrigens bei vielen, die sich aktuell als links und alternativ gründen. Sie eint der Widerstandswille gegen den allgemeinen Sozialabbau. Das ist überfällig, zumal viele Gewerkschaften bislang höchst reserviert agieren. Seit Monaten streiten Gesine Lötzsch und ich im Bundestag gegen die Agenda 2010. Namens der PDS und als einzige Partei im „hohen Haus“. Also schrieb ich an einen der Sprecher der „Wahl-Alternative“:

„Ich verfolge mit Interesse alle Initiativen - sofern sie nicht vom rechten Rand kommen -, die sich und die Betroffenen gegen die ›Agenda 2010‹ aktivieren. Es geht um Millionen und um viel mehr. Ich finde: ›Hartz IV‹ ist der Gegenentwurf zu einem demokratischen und sozialen Deutschland. Das habe ich mehrfach im Bundestag betont und das ist auf meinem Internet-Angebot unter www.petrapau.de nachlesbar.

Nun habe ich den Medien entnommen, was Ihre Grundkritik an der vorherrschenden Politik ist und was Ihre Alternativen sein könnten. Vieles davon teile ich. Das hat mich zu diesem Brief animiert und das nährt die Frage: Warum sollten wir nicht unsere - noch zu schwachen, aber wohl ambitionierten - Vorhaben koordinieren?

Seit zwei Jahren agieren Gesine Lötzsch und ich als ›PDS im Bundestag‹. Bei nahezu allen großen Entscheidungen sind wir allein auf weiter Flur. Das ist bei den ›Hartz‹-Gesetzen so. Das trifft auf die ›Friedens-Frage‹ zu. Und das stimmt fast immer, wenn es um die neuen Bundesländer geht.

Wir halten das aus und wir lassen uns auch nicht ermüden. Aber es geht nicht um uns, sondern um einen Politikwechsel, der 1998 versprochen und bis heute nicht eingelöst wurde. Deshalb biete ich eine konstruktive Zusammenarbeit an und freue mich auf Ihre Antwort.“

Eine Antwort erhielt ich bislang nicht, und so erlaube ich mir Zweifel an der Redlichkeit oder Verlässlichkeit des alternativen „Unternehmens“. In Berlin sammeln sie Unterschriften gegen die rot-rote Landesregierung. Dabei haben sie auch die rechtspopulistischen „Republikaner“ im Boot.

Prophet Fischer

Es gibt ein Bundestags-Info-Mobil, einen Bus, der durch die Lande tourt, Gespräche und viel Bedrucktes anbietet. Das Team will über das Parlament aufklären und für Demokratie werben. Drei Tage lang waren sie in „meinem“ Wahlkreis, in Marzahn-Hellersdorf. Ich war jeweils dabei. Es wurden auf- und anregende Sprechstunden vor Ort. Nahezu niemand interessierte sich dafür, wie der Bundestag funktioniert oder wie Gesetze entstehen. „Ob 600 oder 700 Abgeordnete, das ist mir egal. Einen Job bekomme ich deshalb immer noch nicht!“ Der zitierte Hellersdorfer war wütend, und er hat Recht. Eine Marzahnerin baute mich auf: „Ihr zwei Frauen müsst unseren Fehler von 2002 ausbaden“, sagte sie. „Haltet bloß durch. 2006 wählen wir besser, wieder PDS.“

Eine andere Reaktion auf die zunehmende Parteienverdrossenheit boten die jüngsten Wahlen in Sachsen. Die NPD, eine rechtsextreme und neofaschistische Partei, fuhr regional zweistellige Ergebnisse ein. Das erinnert mich an einen Bundeskongress der Grünen anno 1994. Damals legte Joseph Fischer die rot-grüne Version auf. Zugleich warnte er: „Geht sie schief, dann werden die Rechten marschieren.“ Seine Prophezeiung droht sich zu erfüllen. Und er trägt dazu bei, innen- und außenpolitisch. Die Grünen forcieren den Sozialabbau. Und sie haben die Anti-Kriegs-Bewegung verlassen. Selbst ihr Vorzeige-Linker, Christian Ströbele - die Bundestagsprotokolle belegen es. Gleichwohl legen sie in Umfragen zu. Dieses Phänomen schreit nach guten Analysen.

Ich war im Urlaub, wieder im Allgäu. Dort, wo sich Berge recken, wo Kühe grasen und Touris kuren. Als ich erstmals dort auftauchte, gab es eine heiße Diskussion in der Kirche: „Kommunisten sind unter uns - dürfen die das?!“ Diesmal lud mich der SPD-Ortsverein ein. Wir diskutierten über Hartz IV und die aktuelle Bundespolitik. Die regionale Presse berichtete über mein Treffen mit dem Kur-Direktor von Oberstaufen. Auch seine Erfahrung besagt: Das Hartz-Konzept bringt nichts außer Verluste, selbst im gut situierten Bayern. Gäste bleiben aus oder kürzer. Das Geld wird zusammengehalten. Niemand weiß, was noch kommt, und vielen schwant Schlimmes. Schlechte Zeiten.

In den neuen Bundesländern, aber auch im Saarland oder Bremen, wirken die Hartz-Pläne direkter. Und verheerender. In sechsstelliger Zahl werden Arbeitslose verarmt, ihre Angehörigen abkassiert, ihre Kinder abgestempelt. So nimmt ein Generalplan der CDU/CSU aus den 90er Jahren Gestalt an. Er hieß „Zukunftsbericht der Freistaaten Bayern und Sachsen“, und er enthielt nahezu alle Maßnahmen, die Bundeskanzler Schröder derzeit als „moderne Agenda 2010“ verkauft. Entsprechend heuchlerisch sind folglich auch die aktuellen Krokodilstränen „sozial-besorgter“ CDU- oder FDP-Politiker. Zumal Gesine und ich im Bundestag allein gegen alle standen, als es um „Hartz“ und das „Arbeitslosengeld II“ ging.

Inzwischen wird peu à peu bekannt, was Hartz IV praktisch bedeutet. Unmut greift um sich und Angst. In den ersten Großstädten formiert sich Widerstand. „Wir sind das Volk“, hieß es in Magdeburg Anfang August. Es gibt wieder Montagsdemos, wie damals, am Ende der DDR. Doch Vorsicht: In Sachsen-Anhalt rühmen sich rechtsextreme Parteien, Tausende auf die Straße gebracht und hinter sich versammelt zu haben. In einschlägigen Pamphleten mixen sie aus Hartz-Wut, Ausländerhass und Demokratiefrust eine tiefbraune Soße. Ganz so, wie es Joseph Fischer dereinst voraussah.

Grüne Demut

Das so genannte Zuwanderungsgesetz wurde vorerst final debattiert und beschlossen. Es wurde ein Schatten alter Ankündigungen. Und so geriet die Abschlussstunde im Bundestag zu einer großen Demütigung der Grünen. Das war angemessen. Selbst ihr Koalitions-Innenminister, Otto Schily, höhnte. Ich kritisierte von links. Schließlich kam es zum Schwur. Ich hatte gut im Blick, wie Joseph Fischer fast körperlich dafür sorgte, dass ja kein Abgeordneter der Grünen desertiert. So beschloss Rot-Grün, was die CDU/CSU-Fraktion wollte: Deutschland bleibt kein Einwanderungsland, und die Erde ist eine Scheibe.

Wir haben gegen das Gesetz gestimmt. Und ich hatte vordem erklärt: „Besser kein neues Gesetz, als dieses!“. Eine Agentur hatte es verbreitet, und viele Zeitungen haben es gedruckt. Sehr zum Verdruss von Otto Schily. Er empörte sich darüber, dass „die Pau“ sich wieder einmal „ungefragt eingemischt hat“. Und er sorgte auch im Sommerloch für Schlagzeilen. Im Juli hatte die "Cap Anamur" afrikanische Flüchtlinge im Mittelmeer vor dem Ertrinken gerettet und nach Italien gebracht. Hernach wurde in den Medien gestritten, ob das eine „humanitäre Aktion“ oder eine „inszenierte PR-Aktion“ war. Absurdistan!

Otto Schily, immer noch SPD, setzte noch eins drauf. Im Norden Afrikas, so der Innenminister, sollten EU-Lager - für oder gegen Flüchtlinge - eingerichtet werden. Ich habe mich dagegen gewandt, weil mit Lagern oder Mauern keinerlei Probleme gelöst werden können. Zumal: „Südliche“ Armut hat wesentlich „westlichen“ Ursprung. UN-Emissär Klaus Töpfer (CDU) brachte es mal so auf den Punkt: In Afrika müssen viele Menschen von zwei Euro und weniger pro Tag leben. Mit derselben Summe werden in Deutschland Schweine und Kühe subventioniert. Es gibt CDU-Politiker mit weitem Blick. Leider trifft auf sie fast immer zu: Entweder sind sie außer Dienst oder sie sind außer Landes.

Heribert Prantl leitet das Ressort Innenpolitik bei der "Süddeutschen Zeitung". Er gilt als Instanz. Wohl deshalb konnte sich auch Innenminister Schily einem Interview nicht schadlos entziehen. Es war aufschlussreich, denn Otto Schily ließ die Katze aus dem Sack. Zusammengefasst klang das so: EU-Lager in Afrika hätten den Vorteil, dass sie außerirdisch wären. Sie unterlägen weder dem europäischen Asylrecht, noch dem deutschen Grundgesetz. Zur Erinnerung: Die „Schöpfer“ des Grundgesetzes wussten wohl, wie überlebenswichtig Asyl sein kann. Das deutsche Asylrecht wurde in den 90er Jahren gekappt. Nun soll es - ginge es nach Schily - EU-weit entrechtet werden. Und ausgerechnet Oscar Lafontaine findet das auch noch gut. Ich bleibe dabei: Otto bleibt ein Fall für den Verfassungsschutz. Wobei: Beide sind fehl am Platz.
 

 

 

31.8.2004
www.petra-pau.de

 

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