„Agenda 2010 - die Busen beben“

Beitrag von Petra Pau, PDS im Bundestag
in „Disput“, April 2004

Ich wusste gar nicht, dass es sie noch gab, die „Ostsee-Friedens-Konferenz“. Aber die nordische PDS hält die Tradition aus DDR-Zeiten wach. Sie lud Friedensbewegte aus Wissenschaft und Wirtschaft, aus dem In- und Ausland, aus Parlamenten und Initiativen ein. Über 100 Interessierte kamen, der Saal war voll. Zur selben Zeit, am 27. März 2004, protestierten in Neuruppin Tausende gegen das „Bombodrom“. Lothar Bisky (PDS) sprach, und erstmals warb auch Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD) für eine zivile Nutzung des Areals. In Brandenburg wird bald gewählt und so sind die heimischen Sozialdemokraten wieder mal ins Friedenslager geschwenkt. Zumeist bin ich dabei, wenn es um die Zukunft der Prignitz-Ruppiner Heide geht, seit Jahren. Diesmal entschied ich mich dennoch für die Rostocker Tagung, zumal ich über Militär und Politik im Bundestag reden sollte. Es gab anregende Beiträge, mitnehmende Kontroversen und ein bleibender Anspruch: „Die Ostsee muss ein Meer des Friedens werden!“ Das fand auch die Vertreterin der B7. Das ist ein agiles Netzwerk von sieben Ostsee-Inseln aus fünf Staaten.

Im Bundestag wird inzwischen weiter an der Militärschraube gedreht. Aktuell geht es um zwei Vorstöße, wobei vor allem die CDU und die CSU vorpreschen: Die Bundeswehr soll im Innern eingesetzt werden. Das sei gut gegen den Terror und hilfreich für die Wehrpflicht, heißt es. Außerdem wird an einem Entsende-Gesetz gebastelt. Mit ihm soll die Bundeswehr schneller, notfalls auch am Plenum des Bundestages vorbei in Marsch gesetzt werden. Wir, also Gesine und ich, sind natürlich dagegen. Deshalb habe ich aus Anlass der Regierungserklärung von Bundeskanzler Schröder am 25. März 2004 nochmals klargestellt: „Es gibt keinen Grund, das Grundgesetz zu ändern und die Bundeswehr im Innern einzusetzen. Es gibt keinen Grund, die überholte Wehrpflicht durch andere Zwangsdienste zu ersetzen. Und es gibt keinen Grund, durch ein Entsendegesetz am Bundestag vorbei Kriegsseinsätze zu beschleunigen.“

Ein Fall für den Verfassungsschutz

Manche Episoden kommen erst später zur Pointe. Im Herbst vergangenen Jahres bat mich Verteidigungsminister Struck (SPD) auf ein Wort. Ich hatte ihn des Verfassungsbruchs bezichtigt, und er schien darob empört. Anlass war ein Vorauskommando der Bundeswehr. Es wurde nach Afghanistan geschickt, ohne Mandat des Bundestages. „Das ist wider das Grundgesetz“, hatte ich im Plenum gesagt. Inzwischen konnte ich die rot-grüne Begründung für ein Entsende-Gesetz lesen. Der Entwurf schlägt unter anderem „ein vereinfachtes Verfahren“ für „Einsätze von geringer Intensität und Tragweise“ vor. Sie sollen künftig von der Bundesregierung angeordnet werden, der Bundestag hätte ein Widerrufsrecht. Das wäre neu, deshalb soll es ja auch Gesetz werden. Damit habe ich es aber auch Schwarz auf Weiß: Der Verteidigungsminister war ein Fall für den Verfassungsschutz. Denn noch hat der Bundestag das Sagen und nicht die Exekutive, zumindest theoretisch.

Immer, wenn Joseph Fischer im Plenum ist, habe ich einen aufmerksamen Zuhörer mehr. Zuweilen setzt sich der Außenminister extra in die grünen Abgeordnetenreihen, denn von der Regierungsbank darf er nicht pöbeln. So aber kommt zusätzlich Stimmung auf und - Fischer sei Dank - auch manche Wahrheit ins Protokoll. Besonders gern ruft er dazwischen, wenn ich über soziale Schieflagen rede: „Und was macht Rot-Rot in Berlin, Frau Pau?!“ Ich musste ihm sagen: Die Berliner PDS kämpft mit einem Erbe, das schlimm ist, und mit neuen Lasten, die nicht besser sind. Allein die Steuerreform der rot-grünen Bundesregierung kostet die gebeutelte Hauptstadt mehr, als der unsägliche Bankenskandal. Das hört der Joschka dann doch nicht so gern. Neulich aber stimmte er mir ausdrücklich zu. Es ging um die Europäische Union. Ich wiederholte: „Sie kennen meine grundsätzliche Kritik an der zunehmenden Militarisierung der Politik. In der künftigen EU-Verfassung wurde sie sogar als Pflicht festgeschrieben.“ - Zwischenruf des Abg. Joseph Fischer (Bündnis 90/Die Grünen): „So ist es!“ Nun ist es also amtlich.

Der März war dicht gepackt. Drei Bundestagswochen standen im Kalender, die vierte streckte sich über den Monatswechsel. Mein vorläufiger Plenar-Höhepunkt war wohl am 1. April. Allein vier Mal hatte ich zu reden, zu vier verschiedenen Themen: Kinderwahlrecht, Datenhandel, EU-Verfassung und Ausbildungsumlage. Außerdem erklärten Gesine und ich, warum wir die aktuelle Agrarreform ablehnen. Diese kompakte Vielfalt ist von uns nur zu meistern, wenn gute Geister helfen. Dazu gehören einige Ehemalige aus Fraktionszeiten, aber zuweilen auch Experten, die der PDS nahe stehen, ohne drin zu sein. Letztere kommen oft aus den alten Bundesländern, wie auch die Post, die uns ereilt. Ebenso zugenommen haben die Zugriffe auf unser Internetangebot. Immer mehr Neugierige informieren sich direkt und wollen sofort wissen, was wir treiben.

Sagen Sie denen in Berlin

So oft es unsere Zeit zulässt, nehmen wir Einladungen in die alten Länder an. Natürlich können Gesine und ich nicht ausgleichen, was zu Fraktionszeiten rund 200 Leute geleistet haben. Aber unsere Westliste wird zunehmend stattlicher: Bonn, Bremen, Duisburg, Essen, Goslar, Hamburg, Hannover, Kassel, Mainz, Offenbach, Pirmasens, Saarlouis, Saarbrücken, Worms. In Pirmasens sprach ich mit dem Bürgermeister. „Sagen Sie denen in Berlin, so geht das nicht, Frau Pau“, drängte mich der CDU-Politiker. Ich löste mein Versprechen ein. Der Bundestag diskutierte wieder einmal über die "Hartz"-Gesetze. Sie gelten als Herzstück der rot-grünen Arbeitsmarktreform. Damals, als die Euphorie noch Blasen schlug, sollte sie sogar Hunderttausende Arbeitsplätze schaffen. Doch das ist lange her, über ein Jahr. Nun zeigen sich die Macken, massiv. „Ich habe vorige Woche unter anderem die Job-Börse in Pirmasens besucht. Nach allem, was mir berichtet wurde, arbeitet sie durchaus mit Erfolg. Es gibt eine gute Vermittlungsquote, es gibt gute Kontakte zur einheimischen Wirtschaft, es gibt gute Mitarbeiter. Zwei Tage später lese ich, die Job-Börse sei in Gefahr, weil die Bundesagentur für Arbeit sie nicht mehr wie bisher unterstützt. Das ist die Wirkung ihrer Reformen. Sie bekämpfen nicht die Arbeitslosigkeit, sondern die Arbeitslosen.“ Die Damen und Herren der Regierungskoalition lächelte sehr finster, und die regionale Presse berichtete flugs, die Abgeordnete Pau habe sich im Bundestag für Pirmasens engagiert. Die PDS vor Ort fand's hilfreich.

Inzwischen liegen die Aprilzahlen vor, jedenfalls die offiziellen. Die Arbeitslosigkeit bleibt hoch, zu hoch im Westen und extrem hoch im Osten. Wichtige Leute kommen vor Kameras zu überraschenden Schlüssen: Die Binnennachfrage lahme. Donnerwetter. Wir predigen das im Bundestag seit langem. Auch in der Debatte zum Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung erinnerte ich daran: „Deutschland hat auch 2003 wieder einen erheblichen Export-Überschuss erwirtschaftet. Das Haupt-Dilemma - alle wissen es - spielt sich also auf dem Binnenmarkt ab. Gerade da aber wirkt Ihre Agenda 2010 negativ. Das zusätzliche Geld, das Sie mit der Steuerreform versprachen, ziehen sie den Menschen durch höhere Gebühren und Abzüge schneller aus den Taschen, als es hineinkommt. Die Kommunen, die investieren sollten, können es nicht, weil sie pleite sind. Und ganze Regionen werden ihrem Schicksal überlassen. Stattdessen liefern Sie sich mit der CDU/CSU einen fatalen Wettlauf um die geringsten Steuern. Die Crux ist aber nicht deren Höhe. Da bewegt sich Deutschland international in guter Gesellschaft. Das eigentliche Problem ist, dass unser Steuersystem ungerecht ist und immer ungerechter wird. Und weil das so ist, bleibt die PDS auch bei ihrer Forderung nach einer Vermögensteuer.“

„Sie reden engagiert, Frau Pau, aber wen interessiert das schon?“ Das hätte die Journalistin von der Stuttgarter Zeitung nicht fragen sollen. Jedenfalls nicht im Beisein von Fabian. Er kommt aus Münster, hatte gerade ein Praktikum bei mir und wollte nun zeigen, was er gelernt und gerade auf der Zuschauertribüne erlebt hatte. „Manche wollten sogar klatschen“, meinte Fabian, „dürfen aber nicht!“ Noch immer sind wir zwei Exotinnen den einen oder anderen Artikel wert. Obwohl der Bundestag uns seit Anfang des Jahres großzügig zwei Beistelltischchen spendiert hat und damit wenigstens dieser Dauerbrenner für die Medien gelöscht schien. Aber hie und da reizt wohl die Konstellation, die bei allen großen Fragen wiederkehrt: zwei PDS-Frauen gegen vier Fraktionen. Das ist beim Sozialabbau so, das stimmt fast immer, wenn es um die Bundeswehr geht. Und so begleiten uns des öfteren Journalisten, mal einen Tag lang, zuweilen auch eine ganze Woche. Ein Statement für die Zeit, eine Kolumne fürs ND, ein Porträt für die Zitty, ein Essay für chrismon, ein Interview für die Washington Post, eine Einladung zur Talkshow - dieser Tage wurde ich exklusiv um einen Kommentar gebeten. Kurz und bündig soll er sein, zum Thema „Reformen“, für das Sex-Magazin „Pral;ine“. Was schreibt man da? „Der Kanzler ist nackt!“ oder „Gib Hartz keine Chance!“ oder „Agenda 2010 - die Busen beben!“

Der Markt ist sozial blind

dpa zitierte mich mit den Worten, das wäre „nur recht und billig“. AP verbreitete; Petra Pau sprach von einem „Gebot der Vernunft und Moral“. Mehr nicht, aber immerhin konnte so die Leserschaft zwischen der Küste und der Alm vernehmen, dass die PDS für eine Ausbildungsumlage ist. Wichtiger ist die Misere viel zu vieler Jugendlicher, die einen Ausbildungsplatz suchen, aber keinen finden. Die rot-grüne Regierung spricht aktuell von ca. 35.000. Die Gewerkschaftsstatistik verweist auf mindestens 200.000 Jugendliche. Das dürfte realistischer sein. Umso mehr haben wir begrüßt, dass der Bundestag endlich eine Gesetzesvorlage mit dem drögen Namen „Berufsausbildungssicherungsgesetz“ diskutiert hat. Versprochen hatte es Rot-Grün bereits 1998. Seither ist die Lage auf dem „Ausbildungsmarkt“ nicht besser geworden. Der Sinn des Gesetzes ist übersichtlich: Unternehmen, die nicht ausbilden, obwohl sie es könnten, sollen sich wenigstens finanziell an der Ausbildung beteiligen. Und wer ausbildet, obwohl es ihm schwer fällt, soll finanziell entlastet werden. Natürlich greift diese Regel von Staats wegen in das vermeintlich freie Spiel der Kräfte ein. Das muss sie auch, denn „der Markt“ ist sozial blind. Er braucht Gehhilfen. Ein Gebot, das vom Bundesverfassungsgericht sogar in ein Urteil gegossen wurde - anno 1980.

Einmal im Monat bekomme ich Post aus dem Bundes-Innenministerium. Sie enthält die Statistik über rechtsextreme Straftaten. Im Februar 2004 wurden wieder fast 600 „politisch rechts motivierte Straftaten“ registriert oder anders gesagt: nahezu stündlich eine. Darunter waren 25 Gewalttaten. Wobei Kenner wissen, dass ohnehin nur ein Teil erfasst wird. Die aktuellen Anschläge auf mein Wahlkreisbüro in Marzahn-Hellersdorf gehörten offenbar nicht dazu. Jüngst hatte ich Besuch vom Deutschen Anwaltsverein. Wir haben eine engere Zusammenarbeit vereinbart. Der DAV unterhält eine „Stiftung contra Rechtsextremismus und Gewalt“ und hilft Opfern politisch motivierter Gewalt in Rechtsfragen und bei Gerichtsverfahren. Die Stiftung ist wichtig, und sie bittet zugleich um Spenden. Auch die Anwälte erfahren immer wieder, dass der Rechtsextremismus in Sonntagsreden zuweilen ernst genommen, im politischen Alltag jedoch allzu häufig unterschätzt wird.
 

 

 

4.5.2004
www.petra-pau.de

 

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