Best of und Schlimmeres kurz vor dem Jahreswechsel

Ein Rück- und Ausblick aus dem Bundestag

von Petra Pau,
„Disput“, Januar 2004

Sobald der Dezember naht, blicken die Medien zurück. „Best of“ und andere Rückblicke werden wie Sauerbier angeboten. Dabei geschah auch zum Kehraus 2003 noch Bemerkenswertes, selbst im Bundestag.

Am 10. Dezember war eine „Aktuelle Stunde“ angesetzt. Es ging um den umstrittenen Export der Plutonium-Anlage von Hanau in die Volksrepublik China. Die CDU war dafür und warb grundsätzlich für die Atom-Energie. Die FDP meinte, Geschäft sei Geschäft und nicht Sache der Politik. Die SPD fand, der Export sei nicht verboten und folglich erlaubt. Die Grünen versuchten, ihr Gesicht zu wahren. Es war nicht ihre Stunde.

Ich hatte drei Minuten Zeit, unser Nein zu begründen und mich über die Grünen zu wundern: „Am spannendsten fand ich die Warnung von Angelika Beer. So einfach gehe das mit dem China-Geschäft nicht, meint sie. Auch die NATO und die USA hätten noch ein Wörtchen mitzureden. Das ist für wahr ein Novum: Die Grünen drohen der SPD mit der NATO.“

Kaum hatte ich fertig geredet, klingelte das Telefon. Angelika Beer beschwerte sich bei meinem Mitarbeiter. Sie habe im Zusammenhang mit dem Hanau-Export nie über die NATO gesprochen. In der Büro-Runde waren wir uns zwar sicher, aber wir recherchierten nochmals, wer wann was wirklich gesagt hat.

Schließlich korrigierten wir den beanstandeten Passus. Er heißt nun: „Am spannendsten fand ich die Warnungen von Bärbel Höhn und Angelika Beer. So einfach gehe das mit dem China-Geschäft nicht, meinten beide. Auch die NATO, so Höhn, und die USA, so Beer, hätten da noch ein Wörtchen mitzureden. Das ist für wahr ein Novum: Die Grünen drohen der SPD mit der NATO und mit den USA.“ So ward, Dank Angelika Beer, das grüne Wunder komplett beschrieben.

In derselben Woche stand ein ebenso ernstes Thema auf der Tagesordnung - der Antisemitismus in Deutschland. Anlass bot der Abgeordnete Hohmann. Die CDU/CSU hatte ihn nach längerem Zögern aus der Fraktion ausgeschlossen, weil Hohmanns Antisemitismus offenbar geworden war und die Medien drängten. Hohmann galt als rufschädigend, für die Partei, für den Bundestag, für die Bundesrepublik.

Also beschloss der Bundestag am 11. Dezember einhellig eine Resolution gegen jedweden Antisemitismus. Aber auch dazwischen lauert eine Episode. Mitte November hatten mich nämlich Kollegen der SPD und der Grünen angesprochen: „Wir wollen einen Antrag gegen Antisemitismus erarbeiten. Sie machen doch mit, Frau Pau.“

Und so gab es mehrere Treffen, in denen Vertreter aus allen Parteien an Formulierungen feilten. In der letzten Runde fiel der CDU auf, dass die PDS mit am Tisch saß. Sie intervenierte - erfolgreich. Der gemeinsam erarbeitete Antrag wurde daraufhin als „Fraktionsantrag“, betitelt. Damit war die PDS im Bundestag - weil keine Fraktion - ausgegrenzt. Wir haben der Erklärung dennoch zugestimmt. Der Kampf gegen den Antisemitismus wiegt schwerer, als die Arroganz der Intoleranz.

Gravierend, weil für Millionen Betroffene einschneidend, war die Sitzung am 19. Dezember. Sehr grob umrissen ging es um so genannte Reformen des Arbeitsmarktes und des Steuersystems. Bis kurz vor Ultimo hatten SPD und Grüne sowie CDU/CSU und FDP im Vermittlungsausschuss um Kompromisse gerungen. Am letzten Freitag vor Weihnachten sollte nun das „Volksbeglückungs-Paket“, wie die TAZ schrieb, per Gesetz gekrönt werden. Die Zeremonie dauerte kaum eine Stunde, dann wurde abgestimmt.

Wir haben die Anträge als "ungerecht und asozial" abgelehnt und vorab versucht, den Bundestag an seine eigene Ordnung zu erinnern. Denn nach gutem Brauch müssen Gesetz-Entwürfe allen Abgeordneten mindestens 48 Stunden vor ihrer Behandlung vorliegen. Die letzten Texte aber wurden uns erst knapp 12 Stunden vor der Plenardebatte zugestellt. Dabei ging es um hunderte Seiten. Also verlangte ich, wenigstens drei der beschleunigten Entscheidungen zu verschieben - vergebens. Protokolliert blieb ein Zwischenruf von Dr. Ramsauer (CSU). Er nannte uns "gottlos", weil mein Antrag seine Weihnachts-Ruhe gefährde.

Ein Bonner Unternehmen war noch schneller. Es warb mit einer Rund-Mail, Überschrift: „So kündigen Sie rechtssicher!“ Das Kündigungsrecht wird geändert, hieß es darin und weiter: Immer mehr „Arbeitnehmer kämpfen stärker um ihren Arbeitsplatz, da sie spüren, dass auf dem Arbeitsmarkt nichts mehr zu holen ist“. Deshalb sei es „für Sie als Arbeitgeber, Chef und Vorgesetzter jetzt umso wichtiger, dass Sie bei Ihren Kündigungen rechtssicher handeln. Denn selbst der kleinste Formfehler kann Sie in der momentan wirtschaftlich schwierigen Phase vor das Arbeitsgericht bringen“. Diese Einladung zu einer Weiterbildung für Unternehmer erreichte mich am 17. Dezember, also zwei Tage bevor im Bundestag über die Lockerung des Kündigungsschutzes entschieden wurde. Zu dieser Zeit hatten wir noch nicht einmal die entsprechenden Beschlussvorlagen.

Seit 1991 wird alljährlich ein „Unwort des Jahres“ bestimmt. Das vorjährige hieß „Ich-AG“, das von 1999 „Kollateralschaden“. Die Liste der Unwörter beschreibt längst Geschichte. Sie fokussiert mehr als verbale Entgleisungen. Die Wortwahl trifft eine unabhängige Jury. Vorschläge können alle unterbreiten, die es wollen. Diesmal habe ich mich beteiligt. Mein Unwort des Jahres 2003 heißt „Reform“. Denn kein anderes Wort wurde so inflationär und so ins Gegenteil verkehrt verbraucht, wie dieses. Reform kommt von „reformare“ (lat.) und das bedeutete ursprünglich „verbessern“ oder „zurückgeben“. Neudeutsch umschreibt es „verschlechtern“ oder „wegnehmen“. Streunt die Bundeswehr durch die Welt, dann wird das Reform-Werk als Friedenspolitik verkauft. Werden Renten gekappt, so spricht man von einer Reform der Sozialpolitik. Und weht ein Darmwind des Kanzlers übers Land, dann gilt dies als Klima-Reform.

Gelegentlich kommen nach Bundestags-Debatten SPD-Abgeordnete oder auch Grüne zu uns. „Wenigstens Ihr sagt, was wir meinen“, flüstern sie. Manchmal sagt es sogar mal jemand etwas lauter, wie der folgende Zwischenruf nach meiner Rede zum Export der Hanauer Atomanlage zeigt. Im Protokoll des Bundestages ist dazu festgehalten: „Zuruf von der SPD: Kein Beifall? - Gegenruf von der SPD: Die Rede war trotzdem gut, auch wenn niemand geklatscht hat!“

Nahezu unbemerkt ging ein 20-jähriges Jubiläum über die Bühne. Dabei hätte es Aufmerksamkeit verdient. Denn am 15. Dezember 1983 sprach das Bundesverfassungsgericht ein bemerkenswertes Urteil. Seinerzeit hatten Bürgerrechtler gegen eine „Volkszählung“ in der Alt-BRD geklagt und sie bekamen Recht. Die Richter stärkten den Datenschutz und sie setzten Maßstäbe, die noch immer gelten - theoretisch. Die Praxis ist längst eine andere. Der jüngste, offenbar gewordene Coup ist eine Vereinbarung zwischen der EU und den USA. Demnach sollen Fluggesellschaften verpflichtet werden, mehr als 30 persönliche Daten ihrer Passagiere an die „Dienste“ der USA zu übergeben. Anderenfalls drohen deftige Strafen oder Einreiseverbote. Das ist natürlich grundgesetzwidrig und hat überhaupt nichts mit Bürgerrechten zu tun. Ob Telefon- oder Videoüberwachung: 20 Jahre nach dem Datenschutz-Urteil rückt die totale Überwachung immer näher, und immer weniger wehren sich dagegen. Die jüngsten Beispiele für den Überprüfungs-Wahn lieferten die „Freistaaten“. In Thüringen wurden Fahrzeuge prophylaktisch erfasst, die auf Autobahnen fahren. In Sachsen sollten Mitarbeiter von Parteien überprüft werden, ob sie nicht potentielle Terroristen sind. Und Bayerns Innenminister Beckstein wirbt für ein „Sicherheits-Paket III“, inklusive Bundeswehreinsatz im Inland und erweiterte Geheimdienstbefugnisse im Ausland.

Zum wöchentlichen Programm der PDS im Bundestag gehören zahlreiche Besuchsgruppen. Sie wollen den Reichstag besichtigen und mit uns reden. Kürzlich empfing ich 73 Mädchen und Jungen aus der Ost-Prignitz zugleich. Wir sprachen über dies und das. Dann kam die Frage, die allen auf der Seele lag: „Wer darf eigentlich über die Zukunft des Bombodroms bei uns zu Hause entscheiden?“ Tage später fuhr ich zur Wochenend-Klausur. Das Netzwerk Reformlinke der PDS tagte auf der „Bioland Ranch“ in Zempow, ebenfalls Prignitz. Am Ortseingang stand das übliche gelbe Schild mit schwarzer Schrift. Darauf war allerdings zu lesen: „Für eine Freie Heide - gemeinsam Bombodrom verhindern!“ Ich war in den zurückliegenden Jahren häufig in der Prignitz, um die dortigen Bürgerinitiativen zu unterstützen. Überhaupt gehörte der Kampf gegen das geplante Übungsareal der Bundeswehr und der NATO zu den zentralen Projekten der PDS. Umso mehr freute ich mich, dass die Carl-von-Ossietzky-Medaille 2003 der Internationalen Liga für Menschenrechte unter anderem an die Bürgerinitiative „Freie Heide“ verliehen wurde. Den Mädchen und Jungen aus der Ost-Prignitz hatte ich natürlich geantwortet, wer welche Rechte hat und wer nicht. Vor allem aber riet ich ihnen: „Verlasst euch nicht auf andere. Es ist eure Prignitz.“

Auch über die Feiertage erhielt ich Tag für Tag rund einhundert Mails, Briefe, Faxe. Tendenz steigend, und alle Absender erwarten eine Antwort, möglichst umgehend. Ein Arbeitsloser aus Berlin-West beschwerte sich bitter. Er könne mein „Gegreine“ über den Osten, der angeblich benachteiligt würde, nicht mehr hören. Ich möge, schrieb er weiter, endlich zur Kenntnis nehmen, dass es im Westteil der Stadt weit mehr Arbeitslose gäbe, als im Osten. Ich habe ihm geantwortet, dass dies seit 1995 so ist, dass ich dass sehr wohl wisse und dass nichts falscher wäre, als die Sozialschwachen-Ost gegen die Sozialschwachen-West auszuspielen. Schließlich sei es egal, ob Arbeitslosen in Sachsen oder in Bremerhaven die Hilfe gestrichen wird. Beide verlieren dabei Geld und Würde.

Sein Brief war nicht typisch. Zumeist überwiegen Zustimmungen zu dem, was wir treiben, oder Anregungen, was wir noch bessern sollten. Aber sie allesamt belegen: Die PDS im Bundestag wird wahrgenommen und sei es nur via „Phönix“. Denn allzu hold sind uns die anderen Medien nicht. Und wir spüren immer wieder, wie sorgfältig und zugleich prägnant wir mit der kurzen Redezeit im Plenum umgehen müssen, die wir haben. Darin bestärkte mich auch die „Neue Ruhr Zeitung“ vom 20. Dezember 2003. Sie kommentierte das Bundestagsgeschehen vom Vortag: „Den Anfang der Debatte hätte sich Loriot kaum besser ausdenken können. Zunächst streiten die Abgeordneten über die Geschäftsordnung (...). Schließlich stellt die fraktionslose Gesine Lötzsch eine Zwischenfrage an die fraktionslose Petra Pau. Das liegt daran, dass Antworten nicht von ihrer Redezeit abgezogen werden. Die beiden PDS-Frauen spielen ein abgekartertes Spiel.“
 

 

 

26.1.2004
www.petra-pau.de

 

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