Stand der Deutschen Einheit

Bundestag, 16. Januar 2003, Debatte zum Jahresbericht 2002 der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit
Rede von Petra Pau

0. Wir diskutieren über die Lage in den sogenannten neuen Bundesländern.
Dazu liegt ein über 100-seitiger Bericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit vor.

Ich greife zwei Sätze aus dem Material heraus:

1. Zitat 1: „Die nach der Wiedervereinigung weit verbreitete Annahme eines schnellen Aufbaus in den neuen Ländern hat sich als Illusion erwiesen.“

Das stimmt. Schlimmer noch: Wie zur Aus-Zeit der DDR suchen viele, viel zu viele Jugendliche Zukunft in der Ferne. Sie verlassen die neuen Länder.

Der Berliner Schriftsteller Wolfgang Engler fasste seinen Befund so:
„Weil der Hoffnung die Arbeit fehlte, kam die Arbeit an der Hoffnung zum Erliegen.“

2. Die Arbeitslosigkeit in den neuen Ländern ist längst mehr als ein massenhaftes Schicksal. Sie führt zum nachhaltigen Aderlass.

Vor diesem Hintergrund komme ich zum zweiten angekündigten Zitat aus dem Bericht der Bundesregierung:

„Als eine Fehlorientierung erwies sich die Vorstellung, der Aufbau Ost sei durch das bloße Übertragen westdeutscher Erfolgsmuster (…) zu bewältigen.“

Natürlich ist dies ein rot-grüner Seitenhieb auf die Kohl-Ära.
Aber es stimmt. Zumal: Es wurden nicht nur Erfolgsmuster, sondern auch Miss-Erfolgsmuster übertragen - koste es, was es wolle.

Wir könnten das jetzt durchgehen, im Bildungs- oder Gesundheitswesen, im Steuerrecht, in der Umwelt- und Verkehrspolitik…

3. Allerdings, liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün:

Wer ein Hartz-Konzept heiligt und es - ohne Rücksicht auf Verluste - auch noch 1 : 1 auf die neuen Bundesländer überträgt, der ist kein Deut klüger und kein Deut besser, der betreibt die Fortsetzung einer falschen Politik mit neuen Mitteln!

4. Zwei weitere Beispiele, ebenfalls aktuell:

Sie verweigern die Wiedereinführung einer Vermögenssteuer und befürworten statt dessen einen Ablass-Handel für Steuer-Flüchtlinge.

Das ist fatal. Nicht nur weil schon Luther - ein Ossi - den erkauften Ablass als unmoralisch geächtet hat.

Vor allem verweigern sie damit jenen Entlastung, die finanziell am meisten gebeutelt sind: den Ländern und Kommunen, allemal im Osten.

5. Ähnlich verhält es sich mit den jüngsten Tarif-Vereinbarungen im öffentlichen Dienst. Man mag das Ergebnis ja so und so bewerten.

Nur eines ist auffällig: Hintenraus wurde die Angleichung des Ostens an den Westen um zwei weitere Jahre verschoben.

Das halte ich mitnichten nur Innenminister Schily vor. Es ist offensichtlich auch ver.di-Politik.

Aber es straft halt die rot-grüne Regierung Lügen, die anderes versprochen hatte.

6. Nun wurde ich von Journalisten gefragt, warum ich so garstig zu Ost-Minister Stolpe sei. Das bin ich mitnichten.

Aber ich bin kritisch und skeptisch.

Persönlich gesagt: Als Hoffnungs-Minister sind Sie nicht gestartet. Und ich will nicht - weder für Sie, noch für die neuen Bundesländer - dass ein roter Adler als graue Maus endet.

7. Übrigens war es der Kollege Schulz von Bündnis 90/Die Grünen, der öffentlich bedauert hat, dass drängende Ost-Themen im Bundestag kaum noch eine Rolle spielen, seit die PDS nicht mehr als Fraktion vertreten ist.

Das bedauere ich natürlich auch.

Nur: Es gibt zuweilen so etwas, wie eine Delegierungs-Kultur. Ich kenne das aus meiner eigenen Partei.

Das Thema „neue Bundesländer“ können sie aber nicht delegieren.
Rot-Grün steht in der Verantwortung. Und sie können die nur teilen, wenn sie nicht von Oben, sondern mit den Betroffenen regieren.

8. Abschließend gebe ich Rot-Grün noch einen Tip:

Bisher war der Osten der Osten, für viele von ihnen gar der ferne Osten.
Mit der EU-Osterweiterung verschieben sich die Koordinaten. Die neuen Bundesländer werden zur „neuen Mitte“. Wenigstens das sollte die SPD anspornen, den Osten Deutschlands endlich neu zu begreifen und ernster zu nehmen.
 

[download] Stenographischer Bericht, rtf-Datei

 

 

16.1.2003
www.petra-pau.de

 

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