Alte Kurzschlüsse und neue Linke

Die Systemfrage, das Grundgesetz, die SPD und die PDS

Beitrag von Petra Pau in „Disput“ Oktober 1998

Ende Juli antworteten Lothar Bisky sowie weitere Genossinnen und Genossen auf Fragen an die PDS, die Ex-Bundespräsident Richard von Weizsäcker am 14. Mai 1998 in der Süddeutschen Zeitung aufgeworfen hatte. Die PDS möge sich, so von Weizsäcker, „erstens zur DDR-Vergangenheit und zweitens zu ihren eigenen Gegenwarts- und Zukunftserwartungen in Richtung auf die deutsche Einheit“ bekennen. Dies würde den Anspruch auf politische Beteiligung der PDS legitimieren, was wiederum „in einem allgemeinen demokratischen Interesse“ läge. Der Antwortbrief der PDS ist bekannt, weil veröffentlicht.

Mindestens gleichsam bemerkenswert sind die - keineswegs unerwarteten - Reaktionen darauf.

SPD-Vize Wolfgang Thierse meinte im Berliner Tagesspiegel: „Wenn die PDS mit Konsequenz Ja sagt zur parlamentarischen Demokratie, zur sozialen Marktwirtschaft, zur pluralistischen Ordnung und zum Rechtsstaat, dann ist sie eine (zweite) sozialdemokratische Partei“ und damit überflüssig. Außerdem hätten die PDS-Spitzenpolitiker im „Weizsäcker-Brief“ behauptet, so Thierse, daß sie die Systemfrage nicht mehr stellen, „zugleich wollen sie aber nicht zugeben, daß sie sie nicht mehr stellen“.

Angela Marquardt (PDS) distanzierte sich via TAZ, der Brief an von Weizsäcker sei ein „einziger Blick nach rechts“.

Ein gern spekulierender Journalist legte in „Die Woche“ Lothar Bisky in den Mund, die PDS brauche eine Programmdebatte, woraufhin die „jW“ den „Weizsäcker-Brief“ und die vermeintliche „Programm“-Revision zu einem „Vorschlaghammer“ einte, den die „Gysi-Group“ auf „genau markierte Sollbruchstellen“ der PDS geschleudert habe.

Alle angeführten Wortmeldungen, meine ich, die Polemik Thierses, der Rechtsvorwurf und die vordergründige Verknüpfung mit der PDS-Programmatik sind allzu kurzschlüssig und verdienen gerade deshalb eine Erwiderung. Denn erstens macht ein Bekenntnis zum Grundgesetz aus einer demokratischen Sozialistin noch lange keinen Sozialdemokraten. Und zweitens hat der „Weizsäcker-Brief“ vergleichsweise wenig mit einem neuen PDS-Programm zu tun. Eine weiterführende Programm-Debatte läuft längst, und das aus guten Gründen.

Systemfrage und Grundgesetz
Nehmen wir die Reaktion von Wolfgang Thierse. Demnach müßte die PDS, sobald sie Demokratie, Pluralismus, Rechtsstaatlichkeit usw. prinzipiell anerkenne, entweder sozialdemokratisch und systemfixiert oder aber schlitzohrig sein.

Richtig ist, daß die PDS das Grundgerüst der Verfassung, nämlich Gewaltenteilung, Parlamentarismus, universelle Menschenrechte und Pluralismus anerkennt. Was übrigens überhaupt nichts Neues ist.

Viel interessanter als ein Bekenntnis zum Grundgesetz ist aber der Umgang mit dem Grundgesetz. Und wenn der Umgang mit dem Grundgesetz etwas über die PDS aussagen kann, dann muß dieser Maßstab natürlich für alle Parteien gelten, insbesondere auch für jene, die sich selbst gern auf den Richterstuhl setzen.

Bürgerliche Grundrechte, die wesentlich politische Schutz- und Abwehrrechte der Bürgerinnen und Bürger gegen den Staat sind, werden insbesondere durch die CDU Stück für Stück auf dem Altar "innerer Sicherheit" geopfert. Kronprinz Schäuble (CDU) klagte am 13. 9. 1996 unter dem Titel „Weniger Demokratie wagen?“ öffentlich, daß die „Verfassung immer weniger das Gehege“ sei, „in dem sich demokratisch legitimierte Politik frei entfalten könne“.

Auch die SPD muß sich nach ihrem Umgang mit dem Grundgesetz fragen lassen. Und hat nicht auch Wolfgang Thierse dem großen Lauschangriff ebenso zugestimmt, wie einem diskriminierenden Asylbewerberleistungsgesetz, das sozialen Menschenrechten Hohn spricht? Zumal das Grundgesetz ausdrücklich vom „sozialen Rechtsstaat“ (Art. 28,1) spricht und somit das Gemeinwesen zur Förderung sozialer Gerechtigkeit als Staatsziel verpflichtet.

Richtig ist aber auch: Das Grundgesetz besteht nicht nur aus den oben beschriebenen Säulen, es birgt Vorstellungen einer bestimmten Zeit, auch politische Kompromisse. So stellt das Grundgesetz der BRD (Art. 14,1) Eigentum unter einen herausgehobenen Schutz. Zugleich wird "Eigentum" durch Artikel 14,2 verpflichtet, der Allgemeinheit zu dienen. Artikel 15 läßt sogar die Vergesellschaftung von Grund und Boden, Naturschätzen und Produktionsmitteln zu. Dies zeigt, welche politischen Spannbreiten im Grundgesetz impliziert sind. Ebenso liegen politische Welten zwischen Versuchen, das Grundgesetz von rechts oder von links zu „modernisieren“. Gerade in der Verfassungsfrage knüpft die PDS an die Erfahrungen der Bürgerrechtsbewegung an, die 1990 in einen Verfassungsentwurf des Runden Tisches mündeten und bereits nach den Wahlen am 18. März 1990 in der Noch-DDR von der CDU/SPD-Volkskammer-Mehrheit ignoriert wurden.

Wolfgang Thierse lobt, daß die Autoren des PDS-Briefes an von Weizsäcker die „Systemfrage“ nicht mehr stellen würden - sofern ihr Ja zum Grundgesetz denn ehrlich sei. Auch hier polemisiert er am Problem vorbei. Bereits der „Club of Rome“ hat in seinem Bericht von 1991 über die globale Revolution die Lösungskompetenz der herrschenden Systeme in Frage gestellt. Vor allem blendet Thierse offenbar ein wesentliches Teil des Systems aus, nämlich das kapitalistische. „Da die Wirtschaft (aber) das bestimmende Teil in der Gesellschaft ist, ist der Profit auch in den meisten nicht-ökonomischen Sphären in letzter Instanz das zugrunde liegende Maß. Natürlich haben in ausdifferenzierten, modernen westlichen Gesellschaften Politik, Recht, Wissenschaft, Kultur, Moral und Religion ihre eigenen Rationalitätsmaßstäbe und besitzen eine relative Autonomie gegenüber der Wirtschaft. Doch nicht nur in der Wirtschaft zwingt die Konkurrenz die Unternehmen dazu, ihr Kapitaleigentum mit möglichst hohen Rentabilitätsraten zu Lasten der Lohnabhängigen, der Natur und schwächeren Konkurrenten zu verwerten.“ Soweit Prof. Dieter Klein (PDS), dem ich mich an dieser Stelle gern anschließe. Denn aus eben jenem Grund stellt sich für mich die Systemfrage, die Wolfgang Thierse offenbar mit einem Bekenntnis zum Grundgesetz erledigt sehen möchte.

Zauber des Kapitalismus
Die soziale Lage in der Bundesrepublik hat sich nicht erst seit der deutschen Einheit grundlegend verändert. Massenarbeitslosigkeit, Deindustrialisierung und wachsende Armut entwickelten sich schon in den 80er Jahren zu Dauerproblemen, denen die konservativ-liberale Regierung kaum entgegenwirkte - im Gegenteil.

Die dritte technologische Revolution und das neoliberale „Modernisierungs“-Projekt der CDU/CSU/FDP-Koalition haben in der Gesellschaft gravierende ökonomische und soziale Differenzierungsprozesse eingeleitet. Immer weniger Menschen werden benötigt, um die gleiche Menge gesellschaftlichen Reichtums zu produzieren. Noch mal Prof. Dieter Klein: „Die Wegwerfgesellschaft wirft ihre Menschen weg.“ Eine Prognose, die übrigens bereits bei Karl Marx nachzulesen ist, wenn er über „neue Quellen des Reichtums“ schrieb, die sich „durch einen seltsamen Zauberbann zu Quellen der Not“ verwandeln werden. „Dieser Antagonismus zwischen moderner Industrie und Wissenschaft auf der einen Seite und modernem Elend und Verfall auf der anderen Seite, dieser Antagonismus zwischen den Produktivkräften und den gesellschaftlichen Beziehungen unserer Epoche ist eine handgreifliche, überwältigende und unbestreitbare Tatsache“ (Karl Marx, MEW, Bd. 12, 3-4).

Und eine Herausforderung für die Politik. Dabei ist der eklatante Widerspruch, der fürwahr global ist und sich unter anderem in zunehmenden gesellschaftlichem Reichtum bei gleichzeitig massenhafter Armut und Ausgrenzung zeigt, im reichen Deutschland bislang erst in Ansätzen erlebbar. Aber der Problemhaushalt, wie er nicht zuletzt vom Clube of Rome, von Ernst Ulrich von Weizsäcker oder Fidel Castro beschrieben wird - Naturzerstörung, Massenarbeitslosigkeit, soziale Verelendung, etc. - sind nachweislich nicht mit dem kapitalistischen System, schon gar nicht mit einem neoliberal entfesselten, zu lösen. Das heißt aber auch: Wer die Sozialstaatsbindung des Grundgesetzes für sich als politischen Leitfaden in Anspruch nimmt, kommt um die Systemfrage nicht herum.

Aktuelle Untersuchungen (Vgl. Stöss/Niemayer) sprechen davon, daß bis zu 50 Prozent aller Bundesbürger "systemverdrossen" seien, in den neuen Bundesländern mehr als in der Alt-BRD. In den Medien wird dies zumeist als Unzufriedenheit mit dem Grundgesetz übersetzt - eine schlüssige oder doch eher kurzschlüssige, weil verengende Interpretation, auf Spiegelungen einer tiefgreifenden Krise? Eine repräsentative Befragung (isda/FOCUS) ergab 1996 folgenden Befund: 72,8 Prozent der Ostdeutschen und 48,7 Prozent der Westdeutschen halten „den Kapitalismus eher nicht oder gar nicht für eine dem Menschen angemessene Gesellschaft“.

Das neoliberale Projekt, wie es in der Bundesrepublik Deutschland von Schäuble (CDU) oder von den Unternehmerpräsidenten Henckel und Hundt verfolgt wird, ist eine politische Antwort auf die akute und weltweite Modernisierungskrise. Eine Antwort, mit der die „Risiken und Nebenwirkungen des Systems“ nicht nur in Kauf genommen, sondern skrupellos verschärft werden. Und so heißt es folgerichtig im dritten Teilbericht der Kommission für Zukunftsfragen der Freistaaten Sachsen und Bayern: Im angestrebten Übergang von der „arbeitnehmerzentrierten Industriegesellschaft“ zur „unternehmerischen Wissensgesellschaft“ können Armutsviertel entstehen, der Gesundheitszustand und die Lebenserwartung von Bevölkerungsgruppen können sinken, die Kriminalität kann steigen. Am Ende dieses beschriebenen Weges steht auf jeden Fall eine andere Gesellschaft. Deren Grundlagen finden sich in der vorherrschenden CDU/CSU-Strategie und -Politik wieder: Konzentration auf Eliten, Abbau sozialer Bindungen und Leistungen, Privatisierung persönlicher wie gesundheitlicher Risiken, Ausbau von law-and-order-Instrumenten. Maß aller Dinge des neoliberalen Projektes sind die Verwertungsbedingungen des Kapitals.

Anders, nicht besser
Die eigentliche Botschaft, die Thierse im Tagesspiegel unterbrachte, sollte ohnehin sagen: Zwischen zwei konkurrierenden Alternativen, der CDU einerseits und der SPD andererseits, sei die sozialdemokratische die bessere zur „Lösung der substantiellen politischen und menschlichen Probleme“. Ist sie das wirklich und inwiefern ist sie alternativ?

Bald-Kanzler Gerhard Schröder verkündete auf dem Leipziger Wahlparteitag der SPD, er wolle „nicht alles anders, aber besser“ als die CDU/CSU/FDP-Regierung machen. Alternativen zum neoliberalen Gesellschaftsentwurf bestehen aber nicht im „Bessermachen“, sondern müssen eine andere Entwicklungslogik aufweisen. Statt dessen vermittelt die SPD den Eindruck, daß sie sich in zentralen Punkten ihrer Politik längst in einer informellen Koalition mit der Union befindet, daß sie eigene politische Optionen gleichsam den Verwertungsbedingungen des Kapitals unterordnet. Dafür spricht der designierte Innenminster Schily, dafür spricht der voraussichtliche Wirtschaftsminister Jost Stollmann und dafür steht die gesamte Außen- und Sicherheitspolitik der SPD, die, wie Rudolf Scharping gern betont, sich grundsätzlich nicht vom Herangehen der Union unterscheidet. Insofern ist es eben kein Gegenentwurf und kein Lösungsangebot für die „substantiellen politischen und menschlichen Probleme“. Daher, und nicht aus vorgeblich wahl-arithmetischen Gründen, erklärte sich auch die lange offengehaltene Option einer großen CDU-SPD-CSU-Koalition.

Dabei reklamiert Schröder eine „neue Mitte“ als Zielgruppe seiner Politik, die es - verglichen mit der fordistischen Epoche - in der Tat gibt. Die traditionell-produzierende „Arbeiterklasse“ wird immer weniger das Rückrat moderner Produktion sein. Was nicht nur Probleme für die Gewerkschaften, sondern auch für „die neue Linke“ aufwirft, sobald sie um neue Mehrheiten für Alternativen zur neoliberalen Strategie ringt.

Politisch-konzeptionell stellt sich die Frage nach anderen Antworten auf die weltweite Modernisierungskrise, jenseits des neoliberalen Projektes. Das Modell Staatssozialismus hat sich als Sackgasse erwiesen. Warum, ist von zahlreichen Autorinnen und Autoren gerade auch in und bei der PDS analysiert worden. Die staatssozialistischen Vorstellungen der klassischen Sozialdemokratie fußen - bis heute - auf Wachstumsideologien einer vorwiegend industriellen Produktionsweise. Auch ihnen entzieht sich objektiv der Boden, was, als „Sachzwang“ aufgegriffen, zu Rückzugsgefechten führt und obendrein das weitverbreitete Gefühl der Alternativlosigkeit befördert. Zwei Beispiele mögen dies illustrieren: Alle Demokratisierungs-Appelle der SPD, sofern es sie noch gibt, lassen die Wirtschaftssphäre inzwischen rechts liegen. Und in der (Berliner) Debatte um die Zukunft öffentlicher Betriebe gibt es innerhalb der SPD nur noch zwei vernehmbare Pole: Staatseigentum oder Privatisierung. Das Credo Willy Brandts „mehr Demokratie wagen“, scheint ebenso abgehakt, wie Fragen tatsächlicher Vergesellschaftung wirtschaftlicher Ressourcen. Damit einher geht eine Einengung des Politikbegriffes. So ist auch erklärlich, warum sich die SPD-Spitze erst gar nicht und später eher taktisch der „Erfurter Erklärung“ genähert hat. Denn die dort formulierte Forderung - „Heraus aus der Zuschauerdemokratie“ - ist durchaus auch als Kampfansage an die etablierten Parteien und ihr politisches Monopol zu verstehen. Übrigens ein weiterer Widerspruch zwischen Verfassungsrealität und Verfassungsinhalt, wie er von der PDS interpretiert wird. Denn das Grundgesetz räumt den Parteien lediglich Teil-Habe an der politischen Willensbildung ein und kein Privileg.

Das heißt, in zwei zentralen Punkten, die für die Rückgewinnung der Politik durch die Gesellschaft maßgeblich sind, bietet sich die Mehrheits-Sozialdemokratie (derzeit) nicht (mehr) als linke Alternative an: In der Eigentums- und in der Demokratiefrage.

Programmdebatte anschieben
Die Welt nicht nur unterschiedlich zu interpretieren, sondern sie auch verändern zu wollen, das sollte auch für eine Neue Linke Anspruch bleiben. Was auch heißt: An allem ist zu zweifeln, vor allem an vermeintlichen Sachzwängen und an ergebenen Systembekenntnissen. Einem wirklichen Politikwechsel muß ein radikales, also an die Wurzeln gehendes Umdenken vorausgehen. Was natürlich auch für die (programmatischen) Debatten innerhalb der PDS gilt, die einerseits geführt werden, andererseits aber eines neuen Anschubes bedürfen.

Vier Themen aus unterschiedlichen Politikbereichen mögen den zum Teil unterschiedlichen Stand, aber auch die Notwendigkeit weiterführender Diskussionen in der Partei insgesamt belegen.

Die PDS hatte mit ihrem Wahlprogramm auf wesentlichen Feldern politische Angebote unterbreitet, die mit der vorherrschenden Markt- und Kapitallogik brechen.

Ein öffentlich geförderter Beschäftigungssektor (ÖBS) in Kombination mit einer sozialen Grundsicherung für alle könnte zusammen mit deutlicher Arbeitszeitverkürzung nicht nur die Massenarbeitslosigkeit beseitigen helfen. Diese Triade - ÖBS, Grundsicherung und radikale Arbeitszeitverkürzung - böte die Möglichkeit, den sozial-ökologischen Umbau einzuleiten und dort handlungsfähig zu werden, wo der Markt blind ist. Nicht ein imaginärer Standort, sondern ein realer Lebensort würde zum Bezugspunkt handelnder Politik. In der täglichen Diskussion - auch innerhalb der PDS - werden diese Projekte jedoch noch allzu oft als lindernde Reformbausteine gegen scheinbar unvermeidliche soziale Schieflagen verhandelt. Aber ihre Substanz ist tiefergehend, ja programmatischer Natur. Sie schließen einen gesellschaftlichen Wertewandel ein bzw. eröffnen ihm Chancen. In ihrer Kombination bergen sie neue Selbstbestimmungs- und mithin Demokratiepotentiale. Denn die individuelle Wahl des eigenen Lebensweges erschöpft sich nicht mehr zwischen Fremdbestimmung oder Unbestimmtheit. Sie stellen letztlich eine Revolutionierung der herkömmlichen, kapitalistischen Arbeitsgesellschaft dar. Mit dem ÖBS geht es, wie Heidi Knaake Werner (Bundestagsdebatte vom 2. April 1998) betonte, eben „nicht um die Ausweitung des Staatssektors oder um größeren Dirigismus, sondern darum, den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft zu fördern und sie demokratisch gestaltbar zu machen“.Unter dem selben Vorzeichen und gleichsam alternativ gegen das neoliberale Projekt läuft in der Berliner PDS gemeinsam mit grünen und anderen Wissenschaftlern seit Geraumen eine Debatte zu Eigentumsformen jenseits von Staats- und Privateigentum.

Es mag an dem hölzernen und schwer eingänglichen Begriff „progressive Entstaatlichung“ liegen, daß dieser Diskurs in der PDS bislang entweder skeptisch beobachtet oder ignoriert wurde. Aber zu den 1993 durchaus tragfähigen Formel-Kompromissen des Parteiprogramms gehört auch die Eigentumsfrage.

Zu den neuen und von der PDS bislang nicht hinreichend beantworteten Fragen gehört auch die „Dynamik der Informations- und Kommunikationsindustrie“, schrieb Lothar Bisky in seinem Vorwort zum Programm-Kommentar (Dietz-Verlag Berlin, 1997). Zwar gibt es regionale und auch eine bundesweit agierende Arbeitsgruppen der PDS, die sich politisch mit den demokratischen Chancen, aber auch sozialen Risiken beschäftigt. Aber deren Resonanz und Akzeptanz ist bis in den Bundesvorstand hinein eher als „verhalten“ zu beschreiben.

Ein viertes Beispiel: Zu den Qualitäten des „neuen Ostens“ zählt die PDS ohne Zweifel das Magdeburger-Tolerierungs-Modell. Noch vor Jahren gab es hierzu nicht wenige grundsätzliche, auch demokratie-theoretische Debatten. Inzwischen scheinen innerhalb der PDS zwei Auffassungen berührungslos nebeneinander zu stehen. Jene, die das Tolerierungsmodell für ein notgedrungenes Vorstadium einer Koalition halten und jene, die, wie der Publizist Michael Jäger, darin die Chance einer Alternative „höherer Demokratie“ zum parlamentarischen System der Etablierten sehen (Vergleich: Crossover, Zur Politik zurück, 1997). Wenn es denn stimmt, was nicht nur Petra Sitte folgert, nämlich daß das Magdeburger Modell das Parlament überhaupt erst wieder in seine Funktion als politischer Willensbildner zurückholte, und wenn es denn stimmt, daß die Gegenüberstellung CDU/CSU/FDP einerseits und SPD/Bündnis 90 Die Grünen andererseits nicht gleichzusetzen ist mit Neoliberalismus hie und Politikwechsel da, dann sprechen beide Annahmen für ein Tolerierungsmodell als strategische Option. Die Demokratisierung der Demokratie, wie sie von der PDS gefordert wird, hat viele Facetten und ist ebenfalls programmatischer Natur. Sie reicht von plebiszitären Elementen bis zur Wirtschaftsdemokratie. Sie darf aber auch vor der Demokratisierung überkommener Rituale in Parlamenten und bei der Bildung von Regierungen nicht halt machen.

Roten Faden aufgreifen
André Brie sagte auf einer Strategie-Konferenz der PDS: „Es gibt nur die Wahl zwischen neoliberaler Deregulierung und radikaler Demokratisierung.“ Dabei ist das Bekenntnis zur Demokratie bestenfalls eine Plattform, und nicht einmal eine einhellige im Selbstverständnis der sich demokratisch nennenden Parteien.

Der sich abzeichnende Konsens zwischen dem Ex-Grünen Schily (SPD) und Kanther (CDU) in innenpolitischen Fragen, ist auch eine Absage der SPD an die Bürgerrechts- und Demokratie-Bewegung der DDR. So, wie sich die SPD seit der „Wende“ offenbar auch vom Projekt eines demokratischen Sozialismus verabschiedet hat.

Auch deshalb läßt sich die Meßlatte für die PDS schwerlich aus Vorgaben konkurrierender Parteien ableiten. Sie liegt höher. Will die PDS ihren Weg zur modernen sozialistischen Bürgerrechtspartei fortsetzen, dann muß sie sich (praktisch) von autoritären Staatsideen konservativer und stalinistischer Prägung gleichermaßen abgrenzen. Letztmalig war diese Leitidee 1968 tragend für eine breite gesellschaftliche Bewegung - in Paris wie in Prag. Die PDS sollte daher den roten Faden wieder aufgreifen, der damals nicht zuletzt durch die SED zerrissen wurde. Dabei lehrt wohl die Geschichte: Sozialistische Politik muß die Vergesellschaftung, nicht die Verstaatlichung politischer und ökonomischer Macht zum Ziel haben. Dieser Ansatz unterscheidet uns nicht nur von der SED, sondern ebenso von der Sozialdemokratie. Die PDS hat daher gute und zwingende Gründe, ihre programmatische Erneuerung selbstbewußt und selbstbestimmt fortzusetzen. Dabei geht es primär um gesellschaftspolitische Zukunftsfragen, nicht um Bekenntnisse. Es geht um Erkenntnisse, nicht um PR-Maßnahmen. Nicht der Brief an Richard von Weizsäcker ist, wie jüngst zu lesen war, Anlaß oder gar Gegenstand einer neuen Programm-Debatte innerhalb der gesamten PDS. Es geht um viel mehr.
 

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Oktober 1998
www.petra-pau.de

 

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